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Der Arzt vom Tegernsee
– 25–

Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde ...

Laura Martens

Impressum:

Epub-Version © 2019 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74094-668-5

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Alexander Claß bog vom Sonnenleitenweg in eine schmale Fahrstraße ein, die den Leeberg noch ein Stückchen weiter hinaufführte. Durch die offenen Wagenfenster drang der Duft der Lärchen und einer frisch gemähten Wiese. Vogelgezwitscher erfüllte die Luft. Es übertönte selbst das Rattern des Traktors, der nur wenige Meter von der Straße entfernt den Hang hinunterfuhr.

»So, da wären wir«, meinte der Architekt und lenkte seinen Wagen durch ein offenes Tor. Vor ihnen tauchte ein Haus auf, das auf den ersten Blick den Eindruck machte, als würde es schon seit Jahrzehnten hier stehen und sei während dieser Zeit nicht ein einziges Mal frisch gestrichen worden. Nur die wilden Geranien, die um das alte Gemäuer wucherten, verliehen ihm einen gewissen Charme, und ihr Duft ließ wenigstens für Sekunden vergessen, daß seine blinden Fenster, die schiefen Läden und das notdürftig reparierte Dach geradezu um Hilfe zu rufen schienen.

»Sieht vielversprechend aus«, bemerkte seine Schwester sarkastisch. »Was meinst du, Ramona?« Sie drehte sich zu ihrem siebenjährigen Töchterchen um, das im Fond saß.

»Darf ich aussteigen und mir alles angucken?« fragte Ramona unternehmungslustig. »Ich finde es toll, daß wir bald hier wohnen werden.« Sie kletterte aus dem Wagen und wies zu dem Waldstück, das noch innerhalb des Grundstücks lag. »Hier werde ich prima spielen können.«

»Ja, davon bin ich auch überzeugt, Häschen.« Alexander legte die Hände auf Ramonas Schultern. »Und erst den Ausblick, den wir haben.« Er nahm das Mädchen bei der Hand und führte es zur anderen Seite des Besitzes.

»Oh!« Ramona wies über Wiesen und Bäume hinweg auf den Tegernsee hinunter. »Mama, das mußt du sehen!« Sie drehte sich um. »Mama, so komm doch!«

»Ich bin ja schon da.« Gabriele Claß kämpfte sich durch das hohe Gras. Sie fühlte sich an diesem Tag wieder einmal so müde und erschöpft, daß sie sich am liebsten auf der Stelle hingelegt und geschlafen hätte. Mit einer resignierenden Bewegung strich sie sich die blonden Haare aus der Stirn. »Jemand sollte mal mähen.«

»Wann wirst du endlich zu Dr. Baumann gehen, Gaby?« fragte Alexander besorgt. »Laß wenigstens mal dein Blut untersuchen. So geht es jedenfalls nicht weiter.« Er nahm den den Arm seiner Schwester.

Gabriele beschattete die Augen mit der Hand. »Wunderschön«, bestätigte sie und nickte ihrer Tochter zu. »Ich halte es zwar noch immer für verrückt, so weitab von der Stadt ein Haus zu kaufen, doch die Aussicht entschädigt für vieles.« Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Ich kann verstehen, daß du dich in dieses Fleckchen Erde verliebt hast.«

»Das freut mich.« Alexander wandte sich dem Haus zu. »Natürlich werde ich eine Menge Arbeit hineinstecken müssen. Ich habe mir ausgerechnet, daß es ungefähr zwei Monate dauern wird, bis dieses Haus wirklich zu unserem Heim geworden ist. Aber was macht das? – Während der letzten Jahre habe ich mehr als hart gearbeitet und mir kaum Urlaub gegönnt. Also kann ich es mir leisten, für ein paar Wochen mehr Zeit hier oben als in meinem Büro zu verbringen. Einige Leute, die mir bei der Renovierung helfen werden, habe ich auch schon gefunden.«

»Wann schauen wir uns das Haus an?« fragte Ramona und wippte aufgeregt auf den Fußspitzen.

»Was würdest du von sofort halten?« erkundigte sich ihr Onkel.

»Hurra!« Die Kleine rannte davon.

»Ramona, sei vorsichtig«, warnte Gabriele Claß. »Bei einem so alten Haus kann man nie wissen, was einen erwartet.« Es war erst drei Stunden her, daß ihr Bruder sie mit der Mitteilung überrascht hatte, er hätte das alte Wieland-Anwesen gekauft. Das Haus stand seit über zwanzig Jahren leer. Davor hatte es die unterschiedlichsten Besitzer gehabt. Keiner hatte es länger als ein paar Jahre in ihm ausgehalten. Die junge Frau glaubte zwar nicht, daß es hier wirklich spukte, wie von einigen Leuten behauptet wurde, doch irgend etwas stimmte mit dem Besitz nicht.

»Zum Beispiel Geister und Gespenster«, scherzte Alexander gutgelaunt. »Keine Angst, Schwesterherz, ich bin inzwischen mehrmals hiergewesen, habe mir vom Dachboden bis zum Erdgeschoß alles angeschaut und außer Gerümpel, Schmutz und Spinnweben nichts von Belang entdeckt.«

»Und im Keller bist du nicht gewesen?«

»Der Keller liegt außerhalb des Hauses und ist derart mit Zeugs vollgestopft, daß es Wochen dauern wird, bis wir auf seinen Grund stoßen. Generationen scheinen ihn als Müllhalde benutzt zu haben.« Er wies auf einen flachen Hügel. »Die Kellertür befindet sich auf der anderen Seite.« Ein spitzbübisches Grinsen flog über das Gesicht des jungen Mannes. »Wenn du Zeit und Lust hast, dann darfst du dich der Aufgabe widmen, dort etwas Ordnung zu schaffen.«

»Danke, ich verzichte«, erwiderte Gabriele. Sie hatten inzwischen das Haus erreicht. Aus der Nähe sah es nicht ganz so verwahrlost aus. Es brauchte zwar dringend einen weißen Anstrich, die Eingangstür, Balkone, Fensterläden und der größte Teil des Daches mußten erneuert werden, ansonsten machte es jedoch einen relativ soliden Eindruck.

Ramona war bereits im Haus verschwunden. »Kätzchen, wo bist du?« hörten sie das Mädchen rufen. »Na komm, du mußt keine Angst haben. Ich tu’ dir nichts.«

»Wo ist denn hier eine Katze?« fragte Alexander und trat mit seiner Schwester in die Diele. Ramona stand auf der Treppe zum ersten Stock.

»Psst!« Das Mädchen legte einen Finger auf die Lippen.

»Ich höre nichts«, flüsterte Gabriele. Sie öffnete die Tür, die in die Erdgeschoßwohnung führte. »Miez… Miez… Miez…«, lockte sie.

»Sie muß oben sein.« Ramona polterte die Stufen hinauf.

Ihr Onkel folgte ihr. »Du hast dich bestimmt geirrt«, meinte er. »Ich habe hier noch nie eine Katze gesehen.« Nacheinander öffnete er die einzelnen Türen und schaute in die dahinterliegenden Räume.

»Vielleicht hat sie sich versteckt.« Ramona rannte zum Dachgschoß hinauf. Dem Architekten blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen.

»Hier ist keine Katze!« rief Gabriele von unten.

»Hier oben auch nicht«, antwortete ihr Bruder. »Komm, Häschen, kehren wir zu deiner Mama zurück.« Er griff nach Ramonas Hand.

Die Siebenjährige zeigte zu einer geschlossenen Luke in der Decke des Dachgeschosses. »Was ist dort oben?«

»Ein leerer Dachboden«, antwortete ihr Onkel. Er wies zu dem Ring, der in der Mitte der Lukentür angebracht war. »Wenn man daran zieht, kommt eine schmale Treppe hinunter. Ursprünglich gab es nur zwei Wohnungen in diesem Haus und hier befand sich der Dachboden. Aus irgendwelchen Gründen entschlossen sich die damaligen Besitzer, noch eine weitere Wohnung einzubauen. Dazu mußten sie den größten Teil des Dachbodens opfern, so daß nur ein kleiner, niedriger Rest von ihm geblieben ist.«

»Ich würde gern auf dem Dachboden spielen.« Ramona schaute verlangend zur Luke hinauf. Sie stellte es sich herrlich vor, dort oben ihr eigenes Reich zu haben. »Kannst du nicht die Treppe hinunterlassen?«

»Tut mir leid, Häschen, dort oben wird nicht gespielt. Das geht schon nicht, weil ich die Dachwohnung vermieten werde.«

»An wen vermieten?« fragte Gabriele hinter ihnen. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn. Das Treppensteigen hatte sie angestrengt. Was ist nur mit mir los? dachte sie. Es war erst wenige Wochen her, da hatte sie auf Rhodos lange Wanderungen gemacht, ohne auch nur einmal außer Atem zu geraten.

»Das weiß ich noch nicht.« Alexander wandte sich ihr zu. »Wenn das Haus renoviert ist, werde ich eine Anzeige aufgeben. Wir brauchen keine drei Wohnungen, und ich finde es gut, wenn noch jemand im Haus ist. Vielleicht ein junges Ehepaar oder eine alleinstehende Mutter mit ein oder zwei Kindern in Ramonas Alter. Dann hätte sie auch jemanden zum Spielen.«

»Nur Mädchen«, verlangte Ramona. »Buben mag ich nicht.«

»Noch nicht.« Alexander zwinkerte seiner Schwester zu. »Schauen wir uns zuerst die Dachwohnung an«, schlug er vor und öffnete deren Eingangstür.

Ramona bückte sich. Unsicher berührte sie ihre rechte Wade.

»Was machst du?« fragte ihre Mutter.

»Es hat sich angefühlt, als würde eine Katze ihren Kopf an meinem Bein reiben.«

»Haben wir nicht gerade festgestellt, daß es hier keine Katzen gibt?« Gabriele schüttelte den Kopf. »Ich weiß, daß du dir ein Kätzchen wünschst, trotzdem ist das noch lange kein Grund, so zu tun, als hättest du es bereits.«

»Wir sollten uns wirklich eine Katze anschaffen«, stimmte ihr Alexander zu.

Ramonas Augen begannen zu strahlen. »Gehen wir gleich morgen ins Tierheim und holen sie?«

»Nein, erst, wenn wir hier einziehen, und das wird noch einige Wochen dauern«, sagte ihr Onkel und legte den Arm um sie. »Hab noch etwas Geduld, Häschen.«

»Was bleibt mir anderes übrig?« bemerkte das Mädchen seufzend.

Hintereinander betraten sie die Dachwohnung. Es roch muffig. Gabrieles Blick fiel auf eine feuchte Stelle in der Decke. Sie machte ihren Bruder darauf aufmerksam. Ganz konnte sie sich immer noch nicht damit anfreunden, daß er so weitab der Stadt ein Haus gekauft hatte. Wenn er vorher wenigstens mit ihr darüber gesprochen hätte! – Verübeln konnte sie ihm sein Schweigen allerdings nicht. Bestimmt hatte er befürchtet, sie würde versuchen, ihm den Kauf auszureden.

Alexander durchquerte das Wohnzimmer und öffnete die Balkontür. Der wundervolle Blick, der sich ihnen auf See und Berge bot, schien kaum noch durch irgend etwas zu übertreffen zu sein.

»Können Mama und ich nicht hier oben wohnen, Onkel Alexander?« fragte Ramona und umklammerte mit beiden Händen die Balkonbrüstung. »Du könntest die Erdgeschoßwohnung vermieten.«

Der Architekt sah seine Schwester an. »Es liegt an dir«, meinte er.

Gabriele kehrte ins Wohnzimmer zurück und schaute sich schweigend um, dann schüttelte sie den Kopf. »Ich habe etwas gegen schräge Wände«, erwiderte sie. »Nein, wir nehmen lieber die Ergeschoßwohnung.«

»Mama«, kam es vorwurfsvoll von Ramona.

»Ich denke, du möchtest ein Kätzchen? Wenn wir unten wohnen, kann es jederzeit durch ein Katzentürchen von allein das Haus verlassen. Hier oben ist das nicht möglich.«

Ramona schnitt eine Grimasse. »Überredet«, erklärte sie, dann bückte sie sich erneut, weil sie wieder das Gefühl hatte, als würde etwas Haariges ihre Beine streifen.

»Ich habe mir gedacht, daß sich der Keller bestimmt dazu eignen würde, Champignons zu ziehen«, sagte Alexander, als sie die Treppe wieder nach oben stiegen. »Erinnerst du dich, früher hast du immer von einer eigenen Champignonzucht geträumt.«

»Die Idee ist nicht einmal so schlecht«, mußte die junge Frau zugeben. »Ich…«

»Ein Hund! In unserem Garten ist ein Hund!« rief Ramona. Sie wies aus dem Korridorfenster.

»Erst eine Katze, jetzt ein Hund«, bemerkte Gabriele. »Wenn…« Sie hörte den Hund bellen. »Nun, diesmal scheint es sich nicht um ein Phantom zu handeln.«

Alexander eilte die letzten Stufen hinunter. »Du bleibst hier, Ramona«, wies er seine Nichte an. »Ich will erst einmal sehen, um was für einen Hund es sich handelt.«

»Artus!« hörte er einen Mann rufen, als er die Haustür öffnete. »Artus, sofort kommst du her!«

Der Architekt trat ins Freie. Zwei junge Leute standen unweit des Hauses. Den Mann kannte er nicht, doch bei der Frau handelte es sich um Franziska Löbl. Sie arbeitete als Krankengymnastin in der Praxis von Dr. Baumann. Alle beide wirkten etwas verlegen. »Artus!« rief der Mann erneut.

Artus, der in Richtung Wald unterwegs gewesen war, blieb einen Augenblick zögernd stehen und kehrte dann um.

Es sah nicht aus, als hätte er es besonders eilig. Gemächlich, immer mal wieder an etwas schnüffelnd, trottete er durch das hohe Gras.