In der Weite des Himmels
Ein meditativer Gang
durch die Bibel
Titel der Originalausgabe
In der Weite des Himmels
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2011
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2014
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlagkonzeption: Agentur RME Roland Eschlbeck
Umschlaggestaltung: Verlag Herder
Umschlagmotiv: © miyvkiutada
Den Bibelzitaten ist zugrunde gelegt:
Die Bibel. Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Bundes.
Vollständige deutsche Ausgabe
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2005
E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN (E-Book) 978-3-451-80127-3
ISBN (Buch) 978-3-451-06290-2
Inhalt
Zur Einstimmung
Gastfreundschaft wagen Genesis
Die Kraft des Daseins Exodus
Sich verwurzeln Levitikus
Sich verwandeln Numeri
Das Leben wählen Deuteronomium
Heilsame Erinnerung Josua
In seiner Kraft sein Richter
Solidarisch unterwegs Rut
Seinen ureigenen Weg finden 1 Samuel
Echte Dankbarkeit ausdrücken 2 Samuel
Zwischen Verunsicherung und Hoffnung 1 Könige
Segen und Fluch 2 Könige
Das Wesentliche ist ein Geschenk 1 Chronik
Ein hörendes Herz 2 Chronik
Unsere Augen aufleuchten lassen Esra
Widerstand wagen Nehemia
Begleitet sein Tobit
Menschen mit Rückgrat Judit
Die Gabe der Klugheit Ester
Tiefes Gottvertrauen 1/2 Makkabäer
Leidenschaftlich leben Ijob
Den Weg in die Tiefe wagen Psalmen
Weisheitsworte Sprichwörter
Echte Demut Kohelet
Wohltuende Sinnlichkeit Hohelied
Mutter Geist Weisheit
Die Kraft des Schweigens Sirach
Ein innerer Garten Jesaja
Zum Vertrauen bewegt Jeremia
Unerträgliche Tage Klagelieder
Grund zur Hoffnung Baruch
Die Kraft des Aufstehens Ezechiel
Die Bäume sind mein Gebet Daniel
Hingabe statt Opfer Hosea
Hoffnungsperspektiven Joël
Befreiende Fragwürdigkeit Amos
Trotz allem an das Gute glauben Obadja
Leidenschaftliche Sinnsuche Jona
Friedensbewegte Menschen Micha
Segnen, trotz allem Nahum
Beharrliche Geduld Habakuk
Beten ist gefährlich Zefanja
Den inneren Tempel betreten Haggai
Dem Wunderbaren trauen Sacharja
Geerdeter Versöhnungsweg Maleachi
Befreiendes Wachstum Matthäus
Sich finden lassen Markus
Die Kraft der Erinnerung Lukas
Der Klang der Ewigkeit Johannes
Es gibt keinen gottlosen Menschen Apostelgeschichte
In Bewegung bleiben Römer
Befreit zur Liebe 1 Korinther
Kostbare Zerbrechlichkeit 2 Korinther
Mystische Lebensgestaltung Galater
Mitschöpferisch sein Epheser
Beheimatung erfahren Philipper
Eintauchen in den großen Segen Kolosser
Dankbar sein Leben vertiefen 1/2 Thessalonicher
Engagierte Frauen 1/2 Timotheus
Menschenfreundlichkeit wagen Titus / Philemon
Verwundeter Heiler Hebräer
Begleitet in der Verunsicherung Jakobus
Hoffnungsdialoge 1/2 Petrus
Liebend unterwegs 1 Johannes
Ganz im Leben 2/3 Johannes
Am Widerstand wachsen Judas
Aufgehoben im Ewigen Offenbarung
Verzeichnis biblischer Bücher und Abkürzungen
Bibelstellenregister
Literatur und Quellen
Liste erwähnter Filme (DVD)
«Die Geschichten sind nur deshalb Geschichten, weil sie uns an Geschichten erinnern», heißt ein viel beachtetes Wort des Schweizer Schriftstellers Peter Bichsel (geb. 1935). Ich bringe es in Verbindung mit meiner leidenschaftlichen Liebe zu biblischen Texten. Diese uralten Geschichten sind voller Lebenskraft und voller Zweifel. In ihnen ist auch meine Existenz mit all ihrer Sehnsucht und Verlorenheit gut aufgehoben. Biblische Erzählungen und Lebensweisheiten erinnern mich an unzählige Lebensgeschichten von Menschen, denen ich begegnen darf. Kostbar sind jene Momente, in denen mir im Leben authentische Begegnungen geschenkt sind. Begegnungen, in denen Mitmenschen ehrlich von ihrem Leben erzählen, von ihrer Lebenslust und von ihrer Verletzlichkeit. Was für ein Glück, wenn Menschen von ihrem Aufblühen erzählen, ihren beflügelnden Erfahrungen und auch von ihren Stunden der Verzweiflung, ihrer bodenlosen Trauer und ihrer Zerbrechlichkeit.
Intensivstes Leben erfahre ich, wenn dieses Mitteilen von Geschichten, die das Leben schrieb, Anerkennung und Resonanz findet. Wenn in einer Gruppe andere mitfühlend und mithoffend dabei sind, um sich dann auch einbringen zu können, im Mitschwingen und in der Verschiedenheit. Ehrliche Lebensgeschichten lassen uns eintreten in eine Zeitlosigkeit, die uns eine tiefere Verbundenheit schenkt. Das Mitteilen von Aufbrüchen und Brüchen im Leben nährt unsere tiefe Sehnsucht, eingebunden zu sein in einer größeren Geschichte, in der das Ureigene und das Verbindende seinen weiten Raum findet. «Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung», ist im jüdischen Talmud zu lesen. Es ist lebensnotwendig, uns alltäglich zu erinnern, dass wir verwurzelt sind in einer größeren Geschichte. Die Bibel nennt es die Geschichte des Volkes Gottes. Es ist ein Eingebundensein, das unsere Einmaligkeit nicht aufhebt, sondern sogar verstärkt, indem es die Originalität einer Lebensgeschichte in uralten Lebenserfahrungen würdigt. Meine eigene Erfahrung erhält ein größeres An-sehen, wenn sie verknüpft wird mit der Tiefe des Lebens, mit dem Urgrund allen Daseins.
Biblische Texte sind mir eine Lebenshilfe, weil sie mit größter Kreativität Gott ins Spiel bringen. In unserer Lebensfreude und in unserem Schreien nach Sinn wird das Sich-Ereignen Gottes freigelegt. «Die Geschichten sind nur deshalb Geschichten, weil sie uns an Geschichten erinnern», sagt Peter Bichsel. Ich entdecke in dieser Aussage die ver-rückte Hoffnung der biblischen Geschichten, die auch angesichts der Erschütterungen im Leben in der Weite des Himmels einen Regenbogen aufscheinen lassen. Sogar in den Stunden der Dunkelheit wird an diesem unhaltbaren Vertrauen festgehalten! Darum liebe ich biblische Texte. Sie verwurzeln mich zu einer Bodenständigkeit, die mich himmelwärts aufrichtet. Darum versuche ich seit meiner Jugendzeit, sie in mein Leben hineinzuweben, in mein Lachen, in mein Schweigen und in mein Engagement, in meine Liebeskraft, in meine Tränen, in meine Ängste und in meine Leichtigkeit.
In dieser Grundhaltung habe ich für die Monatszeitschrift «Anzeiger für die Seelsorge» während sechs Jahren biblische Meditationen geschrieben. Ich habe erneut einen Gang durch die ganze Bibel gewagt, indem ich Monat für Monat ein biblisches Buch gelesen und meditiert habe. Danach habe ich jeweils «nur» einige Verse ausgewählt. Jene wenigen Worte, die mich im Hier und Jetzt am meisten bestärkt und/oder verunsichert haben. Meine Auswahl hat nichts mit Willkür und Beliebigkeit zu tun. Sie verdichtet die größte Resonanz, die einige Worte in mir ausgelöst haben. Ich verknüpfe sie mit den zentralen biblischen Themen, indem ich das Lebensbejahende und das Krankmachende hervorhebe. Das ist ja das Faszinierende an diesen heiligen Texten, dass wir nie fertig mit ihnen sein werden. Ein Leben lang dürfen wir sie neu buchstabieren und in Verbindung bringen mit den aktuellen persönlichen und gesamtgesellschaftlichen Lebensthemen.
Mein spiritueller Gang ist auch geprägt durch meine jahrelange Freilegung und Vertiefung der mystischen Spur in meinen jüdisch-christlichen Wurzeln. Eine mystische Bibelmeditation folgt der eigenen Intuition. Sie nimmt das eigene Angerührtund Aufgewühltsein ernst, ohne die kritische Seite auszuklammern. Mystikerinnen und Mystiker deuten die Bibel nicht wortwörtlich, das wäre viel zu einfach! Sie versuchen, sie existenziell weiterzuschreiben in ihren ureigenen Lebensweg hinein. Ich informiere mich kritisch, wie Texte entstanden sind, wie sie verändert worden sind, welche Wirkungsgeschichte sie hatten. Dazu kann das empfehlenswerte «Herders Neues Bibellexikon» (Freiburg im Breisgau 2008) und die inspirierende «Bibel in gerechter Sprache» (Gütersloh 2006) eine wahre Fundgrube sein. Eine mystische Alltagsgestaltung lädt zu einer lebensbejahenden Spannung ein, in der persönliche Betroffenheit und kritisches Hinterfragen ausgehalten werden. Ein beherztes Dasein integriert Verstand und Gefühl im liebenden Unterwegssein, damit wir in die biblischen Worte «einverleibt» werden können, wie es die Sozialpädagogin und Mystikerin Madeleine Delbrêl (1904–1964) treffend sagt: «Wir verarbeiten die Worte der biblischen Bücher in uns. Die Worte des Evangeliums durchwalken uns, verändern uns, bis sie uns sozusagen sich einverleiben.»
Von diesem Aneignen biblischer Worte, das auch im Loslassen der biblischen Bilder sich entfaltet, spricht der Mystiker Jakob Böhme (1575–1624), der Schuster aus Görlitz: «Du bist Gottes geformtes Wort, du musst dein eigen Buch, das du selber bist, lesen lernen, so wirst du alle Bilder los und siehest die Stätte, welche heißet: Hier ist Gott.» Mystische Bibelmeditationen ermutigen zu einer befreienden Selbsterkenntnis. Sie bestärken zum Dialog mit anderen Menschen, die auch die göttliche Spur in allen Lebensvollzügen suchen und ent-wickeln möchten. Darum sieht die Mystikerin Dorothee Sölle (1929–2003) biblische Texte als Nahrungsmittel: «Die Psalmen sind für mich eines der wichtigsten Lebens-mittel. Ich esse sie, ich trinke sie, ich kaue auf ihnen herum, manchmal spucke ich sie aus, manchmal wiederhole ich mir einen mitten in der Nacht. Sie sind für mich Brot. Esst Psalmen. Jeden Tag einen. Vor dem Frühstück oder vor dem Schlafengehen, egal. Haltet euch nicht lang bei dem auf, was ihr komisch oder unverständlich oder bösartig findet, wiederholt euch die Verse, aus denen Kraft kommt, die die Freiheit, Ja zu sagen oder Nein, vergrößern. Findet euren eigenen Psalm.»
Dieser kritische Atem der Freiheit ist mir in der Begegnung mit der Bibel sehr wichtig. Eine gesunde Spiritualität lebt von der Spannung von Zustimmung und Unterscheidung. Die evangelische Theologin Ina Prätorius (geb. 1956) nennt die biblische Tradition originell «einen fruchtbaren Kompost. Als ein Haufen organischer Abfälle aus vielen hundert Jahren Geschichte bedarf sie, wenn gute Nahrung aus ihr wachsen soll, der kundigen Bearbeitung, gerade heute, in der Zeit des ausgehenden Patriarchats.» Der Franziskaner Richard Rohr (geb. 1943) sieht die biblischen Texte als einen Spiegel unseres menschlichen Bewusstseins und unserer Lebensreise: «Die Bibel ist, ein ‹Text in Arbeit›, der das Ringen um die Ausarbeitung einer Reihe von Aussagen vor Augen führt. Er kommt nur langsam Schritt für Schritt voran und fällt oft einige Schritte zurück. Worauf es ankommt, ist, dass man in diesem Prozess bleibt, sich an den sich entfaltenden Text hält und ihm erlaubt, einen weiterzuführen.» Es bedeutet, uns zu verabschieden von der Vorstellung, biblische Texte seien vom Himmel gefallen. Sie wollen immer neu entfaltet werden. Sie wollen uns in eine Tiefe und Weite führen, die befreit aus dem Gefängnis der Ichbezogenheit, wie mein Freund Fulbert Steffensky (geb. 1933) betont: «Ich liebe die Bibel. Die Bibel ist wie ein Brief aus einem fernen Land der Wünsche und der Träume. Wer sie liest und kennt, ist nicht nur ein Hiesiger und Heutiger. Er ist auch ein Gestriger mit einer alten Erinnerung. Er ist auch ein Morgiger mit einem Versprechen. Die Gegenwart, die nur sich selber kennt, ist das pure Gefängnis … Es gibt natürlich auch Texte der religiösen Tradition, die eher im Ungeist als im Geist bilden. Naiv kann man keiner Überlieferung trauen. Je mehr ich mich aber einarbeite und einliebe in die alten Geschichten, umso mehr reinigen sie sich gegenseitig, und ich bin ihnen nicht mehr ausgeliefert.» Mein spiritueller Gang durch die biblischen Bücher ist für mich einmal mehr zu einem Reinigungsprozess geworden, damit ich klarer die Abgründe unseres Lebens und die Weite des Himmels sehen kann. Darum wandere ich so gerne durch die biblische Landschaft.
Lausanne, 4. Januar 2011
Pierre Stutz
«Man bringe etwas Wasser, dann wascht eure Füße, legt euch unter den Baum.»
GENESIS 18,4
Kirche hat für mich die notwendige Aufgabe, den Menschen Lebenshilfe zu sein. Henri Nouwen (1932–1996) hat vor 25 Jahren geschrieben: «Ich fürchte, man wird der Kirche in ein paar Jahrzehnten vorwerfen, in ihrer Hauptaufgabe versagt zu haben: die Menschen positiv dazu anzuleiten, mit dem Ursprung des menschlichen Lebens Verbindung aufzunehmen.» Eindrückliche Worte, die nichts an Aktualität verloren haben. Darum suche ich auch in den biblischen Texten das Lebensfördernde, das Aufrichtende, das Befreiende und vor allem die Nähe zum ganz Unscheinbaren, zum Alltäglichen. So hinterfrage und verabschiede ich mich von krankmachenden Gottesbildern. Ich spreche offen aus, wenn mich ein biblischer Text empört. Denn ich weiß, dass diese heiligen Texte nicht vom Himmel gefallen sind, sondern eingetaucht sind in unser ganzes Menschsein, mit unserem Licht und Schatten, mit unserer Sehnsucht und Ambivalenz. Darum werden wir nie fertig mit diesen Worten, sondern wir sind aufgefordert, sie immer wieder neu zu deuten, zu ertasten, zu erleiden und zu erhoffen. Echte Hilfe zum Leben zeigt sich mir nicht nur in den schönen, hellen Seiten des Lebens, sondern ich entdecke auch im Schrei nach Gerechtigkeit, in den Tränen, in der Konfliktfähigkeit und im Kampf die Fülle des Lebens. Ich brauche biblische Lebensworte, um die Widersprüchlichkeit unserer Existenz aushalten zu können. So halte ich inne bei einem Vers, der mich zum Hier und Jetzt bewegt und mir zugleich Fenster zur Ewigkeit eröffnet. Dieses Aufatmen erkenne ich in der Begegnung Abrahams mit drei Männern in der Hitze des Tages.
Was später als Gottesbegegnung gedeutet wird, beginnt mit Wasser, mit der Einladung, den Füßen Gutes zu tun und sich hinzulegen. Urmenschliche Gesten, die sich auch Jesus aneignet, indem er sie in der Fußwaschung als sein testamentarisches Hoffnungszeichen auswählt. Diese uralten Worte sind zeitlos, weil sie uns Menschen zur Achtsamkeit bewegen und in mir die Vision einer Welt wecken, in der wir lernen, gut mit uns selbst und unserer Leib-Geist-Seele-Einheit umzugehen und zugleich anderen Menschen diese wohltuenden Gesten schenken.
Gastfreundschaft ist eines der lebensfördernden Motive, das sich durch die biblischen Bücher zieht. Da konkretisiert sich, was es bedeuten kann, die Menschen mit dem Ursprung des menschlichen Lebens in Verbindung zu bringen. Ein Vers im Hebräerbrief bringt es auf den Punkt: «Vergesst nicht die Gastfreundschaft. Durch sie haben ja manche, ohne es zu merken, Engel beherbergt» (Hebr 13,2).
Du
schenkst mir deine Gastfreundschaft
suchst mich auf
längst bevor ich dich suche
lädst mich ein zum Verweilen
Du
bewegst mich zur Gastfreundschaft
zeigst mir auf
wie im Teilen von Freud und Leid
sich intensives Glück ereignet
Du
stiftest uns an zur Gastfreundschaft
mutest uns den Aufbruch zu
um in Kampf und Kontemplation
deine Gegenwart zu feiern
«Da sprach Gott zu Mose: Ich bin der Ich-bin!»
EXODUS 3,14
Der italienische Film «Die Hausschlüssel – Le chiavi di casa», der im September 2004 auf dem Filmfestival von Venedig vorgestellt wurde, nimmt mich mit auf die Reise eines Vaters mit seinem 15-jährigen behinderten Sohn Paolo. Die 19-jährige Mutter von Paolo stirbt bei seiner Geburt. Sein Vater Gianni ist so erschüttert, dass er es nicht schafft, sein behindertes Kind zu sehen; die Familie seines Bruders nimmt es auf. Nach 15 Jahren wagt nun Gianni eine erste Begegnung mit seinem Sohn. Er begleitet ihn auf seiner Reise von Mailand in eine Spezialklinik nach Berlin. Eine schmerzvoll-befreiende Annäherung gelingt. Paolo hilft seinem Vater, seine verdrängte Geschichte aufzuarbeiten. In alltäglichen Erfahrungen lerne beide, ihre Behinderung anzunehmen. Diese heilsame Erfahrung verdichtet sich im Moment, wo der Vater seine Tränen nicht mehr zurückhalten kann und weint und weint. Paolo tröstet ihn mit den Worten: «Weine nicht, ich bin ja bei dir.»
Ich will den Regisseur Gianni Amelio für nichts vereinnahmen, doch ich bin berührt von diesem zutiefst menschlichen Film, der ohne falsches Pathos einen Weg der Befreiung aufzeigt. Ich bin beglückt, weil ich in dieser Geschichte das Ur-Credo des Volkes Israel entdecke, das sich auch in meinem Leben ereignen kann. Die Zusage nämlich, dass es nie zu spät ist, um aufzubrechen aus der Gefangenschaft der inneren Selbstentfremdung. Ein Weg aus der Wüste der Entwurzelung ist möglich. Ein neues Land, eine neue Lebensqualität eröffnet sich. Da begegne ich den Durststrecken, den Zweifeln und zugleich den Sternstunden und Oasen der Hoffnung. «Ich bin ja bei dir» sind jene zeitlosen Vertrauensworte, die schon Mose erfahren hat in den brennenden Fragen seiner Zeit. Im Auf und Ab des Alltags offenbart sich Gott als Urgrund aller Beziehung, als tiefes Geheimnis. Gott ereignet sich immer wieder neu in der Kraft des Daseins, die Menschenwürde und Toleranz erfahren lässt.
Der Kraft meines Daseins trauen
lachen und weinen
kämpfen und hoffen
weil Gottes Name heißt:
Ich bin da
Der Kraft meines Mitseins
trauen nicht über den Dingen stehen
mittendrin Zuversicht und Zweifel teilen
weil Christus uns zuspricht:
Ich bin mit euch alle Tage
Der Kraft meines Unterwegsseins trauen
mich verwurzeln in der Weggemeinschaft
aller Menschen guten Willens
die aus der Kraft des heilenden Geistes Gottes leben:
Entwurzelten eine gute Nachricht zu bringen
«Wenn sich ein Fremder bei euch im Land aufhält, dürft ihr ihn nicht unterdrücken. Wie ein Einheimischer aus eurer Mitte gelte euch der Fremde, der sich bei euch aufhält. Du sollst ihn lieben wie dich selbst. Denn auch ihr wart Fremde im Land Ägypten. Ich bin euer Gott.»
LEVITIKUS 19,33–34
Im Betrachten der Bäume erkenne ich immer wieder, was wesentlich ist im Leben: Je tiefer sich Bäume verwurzeln, umso mehr können sie sich in eine Vielfalt von Ästen hineinbegeben! So lässt mich meine Verwurzlung in Gott beweglich, offen und tolerant werden. Diese Grundhaltung erkenne ich sogar im Gang durch das Buch Levitikus. Die Enge einer Fülle von Regeln und Geboten öffnet sich mit ethischen Impulsen, die höchst aktuell sind und uns einen anderen Umgang mit den Fremden und mit der Schöpfung aufzeigen. Im dritten biblischen Buch wird die heilsame Notwendigkeit einer Brachzeit entfaltet: «Sechs Jahre sollst du dein Feld bestellen und sechs Jahre deine Weinberge beschneiden und ihren Ertrag ernten. Im siebten Jahr aber soll das Land völlige Ruhe haben, eine Ruhezeit zu Ehren Gottes» (25,3–4). Wir brauchen in unserer religiösen Verwurzelung identitätsstiftende Perspektiven, zugleich umfasst jede spirituelle Vertiefung die Kunst des Loslassens. Christliche Mystikerinnen und Mystiker bestärken mich zur Verwurzelung in Christus, damit ich alltäglich Bilder von mir selbst, den anderen und sogar von Gott loslassen kann. Beim kleinen Weg von Thérèse von Lisieux Thérèse von Lisieux