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Cathy Gillen Thacker, Susan Crosby, Barbara Hannay

JULIA SAISON BAND 36

IMPRESSUM

JULIA SAISON erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0
Fax: +49(0) 711/72 52-399
E-Mail: kundenservice@cora.de

Erste Neuauflage by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg,
in der Reihe JULIA SAISON Band 36 - 2017

© 2009 by Cathy Gillen Thacker
Originaltitel: „Found: One Baby“
erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
Übersetzung: Freya Gehrke
Deutsche Erstausgabe 2011 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,
in der Reihe BIANCA, Band 1792

© 2008 by Susan Bova Crosby
Originaltitel: „The Bachelor’s Stand-In Wife“
erschienen bei: Silhouette Books, Toronto
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
Übersetzung: Kerstin Kern
Deutsche Erstausgabe 2010 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,
in der Reihe BIANCA, Band 1728

© 2006 by Barbara Hannay
Originaltitel: „Claiming His Family“
erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
Übersetzung: Susann Willmore
Deutsche Erstausgabe 2007 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,
in der Reihe JULIA EXTRA, Band 262

Abbildungen: Sunny studio / Shutterstock, AlexRaths / Thinkstock, alle Rechte vorbehalten

Veröffentlicht im ePub Format in 03/2017 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733709594

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, BIANCA, ROMANA, HISTORICAL, MYSTERY, TIFFANY

 

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Ein süßer Glücksbringer

1. KAPITEL

Michelle Anderson hatte schon öfter Geschenke bemerkt, die auf der Veranda vor Thad Garners Haustür für ihn abgelegt worden waren. In den drei Monaten, die sie nun schon dem sexy Notarzt gegenüber wohnte, hatte sie eine ganze Parade hoffnungsvoller Singlefrauen beobachten können, die den begehrtesten Junggesellen von Texas mit allem Möglichen, von Geschenkkörben bis zu Luftballons, beglückten. Es war allerdings das erste Mal, dass Michelle einen Kindersitz, eine Wickeltasche und einen Baby-Tragekorb auf der Veranda der Landhausstil-Villa entdeckte.

Als sie für ihre morgendliche Laufrunde das Haus verlassen hatte, war von den seltsamen Geschenken noch nichts zu sehen gewesen. Sie fragte sich, ob das Babyzubehör wohl als Botschaft gedacht war.

Falls ja, war es in Anbetracht der Tatsache, dass Thad Garner den Ruf eines Weiberhelden hatte, der Frauen bloß als Spielzeug betrachtete, eine sehr interessante Botschaft.

Der gutaussehende dreiunddreißigjährige Arzt behauptete, er wolle Frau und Kinder, und zwar lieber früher als später. Tatsächlich verabredete er sich aber mit kaum einer Frau öfter als zwei- oder dreimal, bevor er sich so unverbindlich-freundlich aus ihrem Leben verabschiedete, wie er darin aufgetaucht war.

„Es fehlt einfach dieses Knistern. Ich hoffe, wir können Freunde bleiben“, pflegte er dann zu sagen, wie Michelle gehört hatte. Aber das war es nicht, was die Frauen wollten. Sie sehnten sich nach der „großen Liebe“, die für Thad offenbar ein Fremdwort war.

Sie wollten genau das, dachte Michelle, was auch sie selbst sich wünschte. Heirat, ein erfülltes gemeinsames Leben, Kinder. Neben der Karriere. Doch sie hatte keine Ahnung, ob sich ihr Traum jemals erfüllen würde.

Beruflich und finanziell war alles perfekt. Mit zweiunddreißig Jahren war sie Partnerin in einer Anwaltskanzlei, hatte ihr eigenes Haus – sie hatte sogar überlegt, allein ein Kind zu adoptieren und …

Weinte da ein Baby?

Das konnte nicht sein. Noch während sie das dachte, stockte das hohe Wimmern, hörte kurz auf und setzte dann wieder ein – nun als verzweifeltes Schreien aus vollem Hals.

Michelle suchte Thads Veranda und den Hof mit Blicken ab, dann die Straße. Normalerweise war es am Wochenende um sieben Uhr morgens still. Nicht heute. Nicht, wenn das unverkennbare Geschrei eines Babys durch die Nachbarschaft hallte.

Mit klopfendem Herzen lief Michelle über die Straße und hastete die Stufen der überdachten Veranda von Thads Haus hinauf.

Und tatsächlich lag da ein rotgesichtiges, aufgebracht weinendes Kind in dem Babykorb. Er – Michelle vermutete zumindest, dass es ein Junge war, da er in eine blaue Decke gewickelt war – konnte nicht mehr als wenige Tage alt sein.

Ihr Herz flog dem Kleinen zu. Auf die Veranda gekniet schlug sie die weiche Decke zurück, unter der das jammernde Kind lag, und hob es aus dem tragbaren Babybett in ihre Arme.

In genau diesem Moment wurde die Haustür unsanft geöffnet.

Ihr zu-sexy-um-wahr-zu-sein Nachbar starrte auf sie hinab.

Und Michelles Herz tat einen weiteren Sprung.

Thad rieb sich das Gesicht und versuchte wach zu werden. „Was ist denn hier los?“, fragte er – und glaubte, noch zu träumen. Sonst stünde nicht die umwerfende Eisprinzessin von gegenüber mit einem Baby im Arm vor seiner Tür. „Und warum haben Sie Sturm geklingelt, als stünde die ganze Nachbarschaft in Flammen?“, fügte er schroff hinzu. Er hatte gedacht, das sei nur ein Traum gewesen, und war wieder eingeschlafen – bis ihn das Weinen dieses Kindes geweckt hatte.

Michelle Andersons Blick glitt über seine bloße Brust und die tiefsitzende Pyjamahose, bevor sie ihm wieder ins Gesicht sah. Eine für die morgendliche Kühle ungewöhnlich hitzige Röte erblühte auf ihren hübschen Wangen. „Ich habe nicht geklingelt“, sagte sie.

Thad hatte keine Ahnung, wie lange es her war, dass ihn das Klingeln geweckt hatte. Fünf Minuten? Eine Viertelstunde? „Sie stehen direkt neben der Klingel“, stellte er trocken fest.

„Nur weil ich Sie fragen wollte, was hier vor sich geht“, gab sie zurück.

Verspätet fiel ihm ein, dass er sich vielleicht ein T-Shirt hätte überziehen sollen. Thad betrachtete Michelle und das Neugeborene in ihren Armen. Er wusste nicht, wieso, doch sie schien ihm etwas Ungeheuerliches zu unterstellen. „Sie sind diejenige mit dem Baby“, bemerkte er.

Michelle tätschelte das Kind, das sich an sie geschmiegt hatte. Der beschützende Ton in ihrer anziehend weiblichen Stimme verstärkte sich. „Stimmt, aber ich bin nicht diejenige, die besagtes Baby vor Ihrer Haustür zurückgelassen hat.“

Sie klang wie eine Anwältin. „Wovon reden Sie überhaupt?“

Auf die Utensilien zu ihren Füßen deutend antwortete sie: „Jemand hat ein Baby auf Ihrer Türschwelle abgelegt.“

Die in Summit lebenden alleinstehenden Frauen hatten schon einige verrückte Dinge getan, um sein Interesse zu wecken, aber das hier übertraf wirklich alles. „Jemand hätte Ihnen sagen sollen, dass es für einen Aprilscherz etwas spät ist“, spöttelte Thad.

„Ich weiß sehr gut, dass heute der sechste April ist“, erwiderte Michelle kühl, „und wenn das hier eine Masche ist, um Ihre Aufmerksamkeit zu erregen, Dr. Garner, kann ich Ihnen versichern, dass dieser Versuch nicht von mir kommt.“

Thad sah Michelle an. Er rieb sich den letzten Schlaf aus den Augen. „Warum sollte mir jemand ein Kind übergeben?“

Michelle deutete auf das weiße Papier, das zwischen Seitenwand und Matratze des Babykorbs steckte. „Vielleicht steht es ja in dem Briefumschlag dort.“

Thad kniete sich hin, um den Umschlag aus dem Babybett zu fischen. Tatsächlich, da war sein Name auf die Vorderseite gekritzelt. Er riss das Papier auf und las.

Lieber Thad,

Brice und Beatrix haben vielleicht ihre Meinung über das Kinderkriegen geändert – ich nicht. Jetzt muss Ihr Bruder Russell entscheiden, was mit William geschieht – der Kleine ist schließlich sein Sohn.

Es tut mir leid, dass das alles so schiefgegangen ist, aber ich muss es noch einmal sagen: Es ist nicht mein Problem. Ich habe getan, wofür ich engagiert wurde – und mehr kann ich nicht tun.

Alles Gute,

Candace

P.S. Ich hoffe, Sie sind bei der Suche nach Russell erfolgreicher als ich.

„Was zum …?“, murmelte Thad, während er den Brief ein weiteres Mal überflog. Noch immer rätselnd hielt er den Brief Michelle hin, sodass sie ihn auch lesen konnte.

„Wer sind Brice und Beatrix?“, fragte sie stirnrunzelnd.

„Keine Ahnung“, sagte er. Das Baby sah zutiefst glücklich aus, wie es sich da an die Brüste seiner Nachbarin gekuschelt hatte.

Michelle zog die Decke um das winzige Ding etwas fester zusammen. „Und Candace?“

Mit einem Schulterzucken musterte Thad das Büschel dunkler, lockiger Haare, das unter dem blau-weißen Häkelmützchen hervorblickte. Die Kleidung des Babys wirkte teuer. „Auch nicht die geringste Ahnung.“

„Aber Russell …?“

„… ist definitiv mein Bruder und mein einziger noch lebender Verwandter“, antwortete Thad, während er die bildschönen Gesichtszüge und die helle Haut des Babys betrachtete. Bildete er sich das ein oder hatte William die Garner-Nase? Und Garner-Augenbrauen? Und dieses Kinn?

Er wusste, dass sein Bruder stolz auf seinen unsteten Lebenswandel war, doch hätte Russell wirklich seinen eigenen Sohn im Stich gelassen? Oder wusste er gar nichts von ihm? Hatte die Mutter dieses offensichtlich ungewollten Kindes beschlossen, dass Russell als Vater nicht gerade das große Los war, und das Baby zur Adoption freigegeben, ohne ihm davon zu erzählen? Nur um zu erleben, wie die Adoptiveltern im letzten Moment absprangen?

Michelle sah auf das Baby hinunter, als wäre es das anmutigste Kind der Welt. Zu Thad aufblickend fragte sie: „Glauben Sie, Ihr Bruder weiß überhaupt, dass er Vater geworden ist?“

Thad seufzte. „Schwer zu sagen.“

Gereizt nahm er die Wickeltasche, den Kindersitz und den Tragekorb und stellte die Sachen in seine Diele. „Bitte, kommen Sie doch herein“, grummelte er.

Zögernd, fast misstrauisch, folgte sie seiner Einladung.

Nicht dass sie sonst besonders freundlich zu ihm gewesen wäre, dachte Thad.

Seit sie vor ungefähr drei Monaten nach Summit gezogen war, war er ihr kaum einen Gruß wert gewesen. Auf ihre reservierte Art – zumindest ihm gegenüber – konnte er sich keinen Reim machen. Er selbst war der attraktiven Anwältin nie anders als freundlich begegnet.

Trotzdem war es verdammt schwer gewesen, die gertenschlanke Blondine mit dem warmen Kupferton im Haar nicht bei jeder Gelegenheit anzustarren.

Michelle Anderson trat mit der selbstbewussten Anmut einer vollendeten Karrierefrau auf. Zur Arbeit ging sie meist in eleganten Business-Kostümen mit High Heels, abends und am Wochenende war sie sehr viel legerer gekleidet.

An diesem Morgen trug sie eine marineblaue kurze Laufhose, die ihre langen wohlgeformten Beine grandios zur Geltung brachte, und ein pink-blaues T-Shirt, unter dem sich ihre Brüste ebenso schön abzeichneten. Das Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz hochgebunden, und ein paar vorwitzige Strähnen, beim Laufen entwischt, umspielten ihr Gesicht. Von ihrer hellen Haut ging ein Strahlen aus, während in ihren smaragdgrünen Augen die Skepsis einer Frau stand, die in ihrem Beruf schon viel zu viel gesehen und gehört hatte.

Was auf mich ebenso zutrifft, dachte Thad, als er sich ein dunkelblaues T-Shirt von der Rückenlehne des Sofas griff und überzog.

„Also?“, fragte Michelle, sanft auf den Fußballen wippend, um das zappelnde Baby zu beruhigen. „Ergibt dieser Brief für Sie irgendeinen Sinn?“

Thad beobachtete, wie das Baby den Kopf bewegte, als suche es eine Brust zum Saugen. „Leider ja“, gab er widerwillig zu, nicht besonders stolz auf seine Familie. Als er ein Babyfläschchen in einer Tasche des Kindersitzes entdeckte, griff er danach und schraubte den Deckel ab.

Die Säuglingsnahrung roch frisch. Er verschloss das Fläschchen wieder sorgsam und reichte es Michelle. „Mein Bruder benimmt sich so verantwortungslos und kurzsichtig, wie man sich nur vorstellen kann.“

„Und das bedeutet …?“ Als Michelle das Fläschchen William anbot, nahm er es sofort und brachte sie damit zum Lächeln.

Thad runzelte die Stirn. „Es ist durchaus möglich, dass Russell sich da in etwas hineinmanövriert und das Aufräumen mir überlassen hat.“ Und mehr würde er dazu nicht sagen, bis er mit seinem einzigen Bruder persönlich gesprochen hatte.

Auf Thads Einladung hin setzte sich Michelle auf die Couch und fütterte William, während Thad telefonieren ging.

Als er einige Zeit später wieder erschien, hatte er sich umgezogen. Über seinem durchtrainierten Oberkörper spannte sich ein gestärktes grünes Hemd, die langen sehnigen Beine steckten in einer khakifarbenen Stoffhose. Seine maßgefertigten Lederschuhe, offenbar sorgfältig poliert, glänzten.

Er duftete überwältigend. Wie der Wald nach einem Aprilregenschauer. Und er sah fantastisch aus – das kantige Kinn frisch rasiert, die goldbraunen Augen wach und aufmerksam. „Ich habe überall Nachrichten für Russell hinterlassen“, berichtete er grimmig.

Während sie versuchte zu ignorieren, wie das Sonnenlicht des frühen Morgens Thads kurzes sandbraunes Haar schimmern ließ, nahm sie William hoch an ihre Schulter, um ihn ein Bäuerchen machen zu lassen. So aus der Nähe konnte sie nicht umhin, – wieder einmal – zu bemerken, auf welch raue Art gutaussehend ihr Nachbar war. Kein Wunder, dass sämtliche Frauen der Stadt hinter ihm her waren. Sie riss den Blick von seinem breiten Kiefer und den sinnlichen Lippen los.

Endlich fand sie ihre Stimme wieder. „Können Sie abschätzen, wie lange es dauern wird, bis sich Ihr Bruder bei Ihnen meldet?“, fragte sie – erstaunt, wie ungerührt sie klang.

Thad sah unglücklich aus. „Das lässt sich nicht sagen.“ Er befestigte sein Handy und einen Pager an seinem Gürtel, blickte sich suchend nach seinen Schlüsseln um. „Russell könnte in jeder Zeitzone sein. Er ist Fotojournalist und hat Aufträge auf der ganzen Welt. Aber er hört seine Nachrichten täglich ab – wenn er nicht in einem Kriegsgebiet ist. Dann kann es natürlich schwieriger werden, ihn zu erreichen.“

Während sie sanft Williams Rücken rieb, fragte Michelle: „Was werden Sie tun?“

Zögernd blickte Thad sie an. „Darüber wollte ich mit Ihnen sprechen.“ Er setzte sich neben sie und lächelte sanft das Baby an, das ihn schläfrig mit seinen blauen Augen betrachtete. „Ich muss in zwanzig Minuten in der Notaufnahme sein. Natürlich werde ich versuchen, jemanden zu finden, der meine Schicht übernimmt. Aber bis dahin brauche ich jemanden, der auf William aufpasst.“ Er hielt dem Baby seinen Zeigefinger hin und grinste, als William instinktiv seine winzige Faust darum ballte und ihn festhielt.

Sorgenvoll blickte Thad wieder zu Michelle. „Kennen Sie irgendeinen Babysitter, den ich so kurzfristig anrufen könnte?“

Michelle wusste, worum er in Wirklichkeit bat. „Sie können ihn nicht mit ins Krankenhaus nehmen?“

Kopfschüttelnd erwiderte Thad: „Das wäre keine gute Idee. Zu viele Keime in der Notaufnahme.“

Da hatte er nicht unrecht. Sie sah auf ihren kleinen Schützling hinab. Dieses Kind brauchte liebevolle Pflege. „Was glauben Sie, wie alt er ist?“, fragte sie – und lächelte, als William endlich ein ordentliches Bäuerchen machte.

Thad schmunzelte ebenfalls. „Ein paar Tage vielleicht.“

Und schon verlassen. Plötzlich fühlte Michelle Tränen in ihre Augen steigen. „Das habe ich mir auch gedacht“, murmelte sie mit belegter Stimme. Sie wünschte, sie könnte William einfach mit zu sich nach Hause nehmen und ihm das Heim geben, das er verdiente. Aber so einfach war das Leben nun einmal nicht. Dies war nicht der Weg, auf dem sie das Baby bekommen würde, das sie sich so sehr wünschte.

„Um noch einmal auf das Babysitter-Dilemma zurückzukommen“, hakte Thad nach, ohne ihre Sehnsucht zu erahnen. „Haben Sie irgendeine Idee, wen ich anrufen könnte?“

„Abgesehen von der Heerschar Ihrer Verehrerinnen?“, stichelte sie, während sie William den Rest des Fläschchens gab.

„Ich meine es ernst.“

Genau so ernst wie sie. „Violet Hunter weiß eine Menge über Kinder“, wagte sie sich vor.

„Wir waren eine Weile zusammen, als ich hergezogen bin.“

Das hatte auch Michelle gehört. Die hübsche alleinerziehende Mutter war eine von Thads hartnäckigsten Verehrerinnen gewesen.

„Das war ungefähr sechs Monate nach dem Tod ihres Ehemanns“, ergänzte Thad zögernd. „Es hat nicht funktioniert. Ich glaube, sie ist noch ziemlich verwundbar, obwohl es fast zwei Jahre her ist.“

Auf einer Benefizveranstaltung zwei Monate zuvor hatte Michelle die neunundzwanzigjährige Krankenschwester – und ihre zwei kleinen Töchter – kennengelernt. Sie war wirklich nett. Und mehr als bereit für einen neuen Ehemann.

Michelle sah Thad wartend an.

„Ich will keine falschen Hoffnungen bei Violet wecken“, erklärte er schließlich.

Aus der Nähe wirkte Thad unter Michelles forschendem Blick nicht wie der Typ Mann, der es genoss, eine Frau hinzuhalten – im Gegenteil. Doch ihrer Erfahrung nach konnte das Aussehen täuschen. Sie würde sich in ihrem Privatleben genau so an die Fakten halten wie in der Kanzlei.

„Und die wären?“, bohrte sie nach.

Thad begegnete ihr mit der Gelassenheit eines professionellen Zeugen. „Dass es eine Chance gibt, wo keine existiert.“ Bedauernd runzelte er die Stirn. „Und wenn ich Violet – oder eine andere Exfreundin – anrufe, um zu erklären, dass ich ihre Hilfe brauche mit dem Baby, für das ich auf einmal verantwortlich bin …“

„Vermutlich würden Sie etwas mehr bekommen als Hühnchen-Enchiladas auf der Veranda“, kommentierte Michelle trocken.

„Genau.“

„Wohingegen, wenn Sie mir das Baby anvertrauen …“

Plötzlich hörte er sich gekränkt an. „Es ist jedenfalls ziemlich offensichtlich, was Sie davon halten, mit mir auszugehen.“

„Sie haben mich nie gefragt – bisher hatte ich doch gar keine Gelegenheit, Ihnen einen Korb zu geben.“

„Aber das würden Sie“, konterte Thad.

Und er hatte recht. Sie wollte einfach nicht noch einmal ihre Zeit verschwenden. Bloß dass sie diesmal – bedachte man Thads Ruf bei den Frauen von Summit – von Anfang an wüsste, was auf sie zukäme. Da sie Nachbarn waren, hielt Michelle es für das Beste, einfach ehrlich zu sein. Schulterzuckend sagte sie: „Ich gehe nicht mit Aufreißern aus.“

Sein Mund wurde schmal. „Ich bin kein Aufreißer.“

Unter großer Anstrengung hielt sie den Blick von den muskulösen Umrissen seiner Schultern und Brust abgewandt. Die Erinnerung an seinen Anblick in nichts als einer tiefsitzenden Pyjamahose konnte sie jetzt zuallerletzt gebrauchen, genauso wenig, wie sie an die Linie feiner dunkler Härchen denken wollte, die von seinem Nabel abwärts lief. Sie verbot sich ihre lüsternen Gedanken. „Sicher.“

„Ich sage den Frauen nur ehrlich, ob ich eine Zukunft mit ihnen sehe oder nicht.“

Verzweifelt bemüht, ihren rasenden Puls zu beruhigen, zügelte sie ihre ausufernden Fantasien und gab zurück: „Und normalerweise sehen Sie keine.“

„Normalerweise ist nicht immer“, antwortete er rätselhaft.

Und das heißt …? überlegte Michelle. War ihm ebenfalls das Herz gebrochen worden? Hatten sie etwas gemeinsam?

Völlig aus dem Konzept gebracht, wandte sie sich wieder dem Neugeborenen in ihren Armen zu.

Wenn William ihr Baby wäre …

Doch das ist er nicht, rief sie sich entschieden in Erinnerung.

„Glauben Sie mir“, sagte Thad in einem Ton, der ahnen ließ, dass er sich ebenso als Beschützer des winzigen Babys fühlte wie Michelle. „Wenn ich irgendeinen anderen Job hätte – ich würde bleiben und mich selbst um den Kleinen kümmern. Aber ich kann die Notaufnahme nicht unterbesetzt lassen. Wir haben das einzige Traumazentrum im ganzen Landkreis.“

Von Thad hingen Leben ab.

Genau wie jetzt William auf Michelle angewiesen war.

Bevor sie es sich anders überlegen konnte, schob sie ihre Bedenken beiseite und erklärte: „In Ordnung. Ich werde es tun.“

Thad hob erstaunt die Augenbrauen. „Ganz sicher?“, fragte er schließlich und stand auf. „Es wird zwölf Stunden dauern, außer ich kann jemanden finden, der den Rest meiner Schicht übernimmt.“

Entschlossen zwang sie sich, die Erinnerung an ein anderes Kind, eine andere Situation, zu verdrängen, und erhob sich ebenfalls. Dieses Mal würde ihr Herz nicht brechen, denn sie würde sich gar nicht erst so weit auf William oder Thad einlassen.

Überglücklich darüber, wie der nun schlafende William sich an sie schmiegte, flunkerte sie: „Ich hatte heute sowieso nicht viel vor.“ Ihre Blumenbeete konnten warten.

Thad seufzte erleichtert. „Danke. Ich weiß das wirklich zu schätzen.“

Doch Michelle hatte noch eine Bedingung. „Ich möchte allerdings bei mir zu Hause auf ihn aufpassen.“ Je weniger sie über Thad wusste, je weniger Zeit sie in seinem Haus verbrachte, desto besser.

„Natürlich.“ Thad strich mit den Fingerspitzen unendlich sanft und zärtlich über Williams samtige Wange.

Mit offensichtlicher Anstrengung senkte er die Hand, trat einen Schritt zurück und sah zu den Babysachen auf der Diele. „Ich hoffe, dort ist alles, was Sie brauchen werden.“

Michelle senkte ihren Kopf zu William hinab und erschnupperte seinen süßen Duft. Leise erwiderte sie: „Wenn Sie mir die Sachen hinübertragen, komme ich schon zurecht.“

„Kein Problem.“ Er hob das Babyzubehör auf und folgte ihr aus der Haustür. „Dafür bin ich Ihnen ganz schön was schuldig“, sagte er.

„Oh ja“, stimmte Michelle ihm zu. „Das sind Sie.“

2. KAPITEL

Thad rechnete fest damit, über den Tag ein halbes Dutzend Anrufe von Michelle Anderson zu erhalten.

Sie meldete sich kein einziges Mal.

Und die zwei Male, die er sie anrief, um zu sehen, ob alles in Ordnung war, klang sie genau genommen leicht genervt.

Daraus konnte er ihr wohl auch keinen Vorwurf machen, wenn er ehrlich war.

Wahrscheinlich dachte sie, er würde ihr nicht zutrauen, sich allein um William zu kümmern. Sie hätte sich nicht stärker täuschen können. Thad wusste, William hatte die Mutter in Michelle instinktiv erkannt, als sie ihn hochgehoben und sanft in ihren Armen gehalten hatte.

Trotzdem hastete Thad aus dem Krankenhaus, sobald seine Schicht zu Ende war, und fuhr den kurzen Weg nach Hause. Das Auto stellte er in seiner Einfahrt ab und ging direkt auf die andere Straßenseite.

Als er sich der Veranda von Michelles Haus näherte, sah er, dass die Fenster im Erdgeschoss offen standen. Michelles sanfter Gesang drang an seine Ohren. Er warf einen Blick durch das Fenster neben der Tür. Mit William im Arm saß sie in einem altmodischen Schaukelstuhl.

Er hätte nicht sagen können, ob das Baby wach war oder schlief – sein Gesicht war durch das Fenster nicht zu sehen –, aber die Zärtlichkeit, die in der Luft lag, ließ ihn innehalten. Das ist es, dachte er, was Familie ausmacht. So hätte meine und Russells Kindheit sein sollen, auch nachdem Mom gestorben ist.

Doch das war sie nicht gewesen. Und jetzt war es zu spät. Er konnte nur noch nach vorn blicken, auf die Familie, die er selbst gründen wollte.

Alles, was ihm fehlte, war eine Frau, die er liebte.

Als Michelle aufhörte zu singen, klopfte er an den Fensterladen.

Sie erhob sich vorsichtig und kam zur Tür, um ihm zu öffnen. Sie hatte sich umgezogen und trug jetzt eine alte Jeans und ein hellblaues Häkeltop, das sich reizvoll an ihre Kurven schmiegte. Frisch gewaschen lag ihr Haar in einem Wirrwarr weicher rotgoldener Locken um ihr Gesicht. So hatte er es noch nie an ihr gesehen, aber auf ihn wirkte es mindestens so anziehend wie ihre übliche, glänzend geglättete Frisur.

„William sieht glücklich aus“, stellte Thad fest. Genau wie sie, dachte er bei sich.

Auf ihren Wangen erschien eine hübsche rosa Färbung. „Er ist sogar sehr glücklich – solange er gehalten wird“, entgegnete sie mit einem Blick in Thads Augen. Zwischen ihren Brauen erschien eine feine Sorgenfalte. „Jedes Mal, wenn er eingeschlafen ist und ich ihn hinlege, wacht er nach spätestens zehn Minuten wieder auf und dreht vollkommen durch.“

„Wahrscheinlich erinnert er sich …“

„Wie er allein auf Ihrer Veranda aufgewacht ist?“, ergänzte Michelle. „Das habe ich auch vermutet.“

Thad schüttelte den Kopf. Russell kam ganz nach ihrem Vater. Er hatte genauso wenig für familiäre Verantwortungen oder Blutsbande übrig. Sein Leben drehte sich nur um die nächste Stufe auf der Karriereleiter.

Frustriert fuhr Thad sich durch die Haare. „Russell, du Idiot“, fluchte er leise.

Michelle atmete aus. „Sie haben also nicht von ihm gehört?“

„Bisher nicht.“ An der Hüfte spürte er sein Telefon vibrieren. Er nahm es vom Gürtelclip und blickte auf das Display. Wenn man vom Teufel sprach. „Na endlich!“ Mit finsterem Blick hob er das Telefon ans Ohr. „Wo bist du?“, blaffte er.

„Ich habe einen Auftrag in Thailand. Warum das ganze Theater?“, gab Russell genauso wütend zurück.

„Auf meiner Veranda wurde heute Morgen ein Baby abgelegt.“ Kurzangebunden erklärte Thad, was sie wussten.

Russell begann zu fluchen wie ein Kesselflicker. Und es fiel ihm nicht ein, sich eine Erklärung oder wenigstens eine Entschuldigung abzuringen – typisch.

„Wusstest du, dass Candace ein Kind von dir erwartet, als du das Land verlassen hast?“, bohrte Thad nach.

„Ich habe angenommen, dass sie schwanger ist“, gab Russell in einem verwirrend geschäftsmäßigen Ton zurück. „Ich wusste es nicht sicher.“

Und offensichtlich hast du es auch nicht für nötig gehalten, es herauszufinden, dachte Thad wütend. „Warum hast du mir nichts davon erzählt?“, verlangte er zu wissen.

„Weil ihre Schwangerschaft überhaupt nichts mit meinem Leben zu tun hatte“, grollte Russell.

Da er vermutlich sowieso bald rechtlichen Beistand brauchte – und zwar eher früher als später –, stellte Thad auf Lautsprecher um, damit Michelle mithören konnte.

„Was meinst du damit?“, fragte er.

Russell seufzte. „Es war eine Vereinbarung über eine Leihmutterschaft. Ich habe dazu nur für ein befreundetes Paar den Samen gespendet.“

Na also. Das ergab wenigstens etwas mehr Sinn. Aus seiner Brusttasche holte Thad Notizblock und Stift hervor, die er dort meist bei sich trug. Er schrieb „Helfen Sie mir bitte“ auf ein Blatt Papier und reichte es Michelle.

Mit besorgtem Gesichtsausdruck trat sie näher.

„Nach dem, was in dem Brief aus Williams Tragekorb steht, haben Brice und Beatrix es sich anders überlegt“, erklärte Thad seinem Bruder.

„Das wirst du mit Candace Wright klären müssen“, erwiderte Russell standhaft.

Schnell notierte Thad den Nachnamen von Williams biologischer Mutter. „Hast du eine Telefonnummer?“

Noch einmal seufzte Russell genervt. „Sie wohnt in Big Spring. Mehr weiß ich nicht.“

„Was ist mit Brice und Beatrix, den Adoptiveltern?“

„Die Johnsons leben in San Angelo. Pass auf, ich kann von hier aus gar nichts regeln – das musst du in Ordnung bringen.“

„Wie denn?“, gab Thad wütend zurück. „Das Sorgerecht liegt nicht bei mir!“

„Bei mir genauso wenig. In der Fruchtbarkeitsklinik habe ich unterschrieben, dass ich sämtliche Rechte abtrete – noch bevor die Leihmutter überhaupt geschwängert wurde.“

„Von diesen Dokumenten brauchen wir so bald wie möglich Kopien“, erklärte Michelle – sie hatte auf Anwaltsmodus umgeschaltet.

„Wer ist da bei dir?“, wollte Russell wissen.

„Michelle Anderson“, stellte sie sich selbst vor. „Ich bin eine Nachbarin Ihres Bruders – ich habe das Baby gefunden.“

„Außerdem ist sie Anwältin“, warf Thad ein.

Michelle fragte Russell: „Gibt es irgendeine Möglichkeit, diese Papiere einzusehen, die Sie da unterzeichnet haben?“

Russell knurrte missbilligend. „Die sind in einem der Kartons, die ich auf Thads Dachboden abgestellt habe. Wenn Sie sie finden, können Sie damit machen, was Sie wollen. Darüber hinaus will ich mit der ganzen Geschichte nichts zu tun haben. Wie Candace Wright schon gesagt hat: Ich habe meinen Teil erfüllt.“

So einfach war es nicht, das wusste Thad. „Wenn es stimmt, was Candace schreibt … wenn Brice und Beatrix ihre Meinung darüber geändert haben, ob sie William in ihre Familie aufnehmen … Biologisch gesehen ist das Kind zur Hälfte dein Sohn.“

„Das sehe ich anders“, gab Russell scharf zurück.

„Er ist ein Garner.“ Und das, dachte Thad, sollte etwas heißen.

Spöttisch erwiderte Russell: „Was soll ich mit einem Kind anfangen? Ich habe kein Zuhause, das ich ihm bieten könnte, und will auch keins.“

In Thad wuchs die Wut, und er schimpfte: „Du kannst doch nicht einfach zusehen und nichts tun, wenn dieses Kind, das du mit geschaffen hast, von allen verlassen wird!“

„Und wie ich das kann“, antwortete Russell. „Und weißt du, warum? Weil es das Beste ist. Das Kind braucht keinen Vater, wie wir ihn hatten. Und das wäre ich. Aber wenn du glaubst, du kannst es besser, darfst du gern einspringen. Ich werde dir nicht im Weg stehen. Lass einfach nur mich da raus.“

Mit einem entschiedenen Klicken war das Gespräch beendet.

Thad begegnete Michelles Blick. War er froh oder bedauerte er, dass sie das alles gehört hatte? Er wusste es nicht. „Was für ein Schlamassel“, fluchte er.

Oh ja, dachte Michelle. Das ist sogar ein Riesenschlamassel.

Sie entschied, dass es Zeit für einen neuen Versuch war, und trug den schlafenden William hinüber zu seinem Tragekörbchen. Sanft legte sie ihn auf den Rücken und steckte die Decke sorgfältig fest, damit er es warm hatte. Erleichtert, dass er immer noch zu schlafen schien – zumindest fürs Erste –, ging sie zu Thad hinüber, der am Fenster stand. „Ich bin nicht sicher, ob ich wirklich mit dieser Sache zu tun haben sollte.“

Thad sah erst überrascht aus, dann verwirrt. „Sie sind Anwältin.“

Wieder klopfte ihr verräterisches Herz schneller, als sie ihm entgegnete: „Aber ich bin nicht Ihre Anwältin.“

Mit schiefgelegtem Kopf bemerkte er: „Sie könnten meine Anwältin werden.“

Mühsam behielt sie ihren unbeteiligten Gesichtsausdruck bei. „Hier geht es um Familienrecht.“

Er zog eine Augenbraue hoch. „Und Sie haben Erfahrung damit. Soweit ich gehört habe, sind Sie sogar ziemlich gut.“

Das war damals, dachte Michelle. Heute ist das anders. Sie wusste es jetzt besser. In einer abwehrenden Geste hob sie die Hände und trat einen Schritt zurück. „In den ersten fünf Jahren nach dem Studium habe ich so viele Familienrechtsfälle bearbeitet, dass ich ein Burn-out bekam. Heute ist mein Partner Glenn York zuständig für Scheidungen, Sorgerechts- und Adoptionsfälle.“

„Ich habe von ihm gehört, er ist wirklich gut.“ Thad machte eine Pause. Nach einem kurzen Blick zu William sah er wieder Michelle an. „Ich würde es trotzdem vorziehen, wenn Sie uns vertreten.“

„Sie kennen mich doch nicht einmal“, wandte sie ein.

„Bisher haben Sie die Situation ganz gut im Griff.“

Michelle wurde klar, dass das nicht der einzige Grund war. „Sie schämen sich für das Verhalten Ihres Bruders, nicht wahr?“

An seinem Kiefer zuckte ein Muskel. „Würden Sie das nicht?“

Vergebens versuchte Michelle zu verdrängen, wie natürlich und gut es sich anfühlte, hier mit Thad zu stehen und die Situation mit ihm zu besprechen. Mit einem Schulterzucken erklärte sie: „Ich habe schon vor langer Zeit gelernt, Menschen nicht nach den Katastrophen zu beurteilen, in die sie geraten sind. Außerdem klang es, als hätte Ihr Bruder erst einmal jemandem einen Freundschaftsdienst erweisen wollen. Das Ganze hat sich nur anders entwickelt, als er erwartet hatte.“

Plötzlich nachdenklich murmelte Thad: „So habe ich das noch gar nicht betrachtet.“

Michelle blieb hoffnungsvoll. „Ihr Bruder könnte seine Meinung noch ändern.“

Doch Thads Mundwinkel senkten sich und bitter erwiderte er: „Das wird er nicht.“

„Wie können Sie sich da so sicher sein?“

„Weil ich weiß, wie wir aufgewachsen sind.“ Er dämpfte seinen Ton. „Unsere Mom war wirklich wundervoll – liebevoll und lustig, klug und freundlich –, aber sie starb an einer Hirnblutung, als Russell und ich noch Grundschulkinder waren. Unseren Dad kannten wir kaum – er war Geologe für eine Erdölgesellschaft. Ich bin mir sicher, dass er uns auf seine Art geliebt hat, doch als Vater an unserem Leben teilzuhaben hat ihn nicht interessiert. Trotzdem gab er das Projekt auf, an dem er in Südamerika arbeitete, und kam zurück nach Summit, um für uns zu sorgen.“

Thad atmete aus. „Die nächsten zehn, elf Jahre hat er in Texas gearbeitet. Als wir dann älter wurden und er uns auch mal allein lassen konnte, nahm er wieder die spannenderen Jobs in Süd- und Zentralamerika an. Von da an bis zu seinem Tod vor fünf Jahren haben wir ihn kaum gesehen, weil er einfach nie zu Hause war.“

Mitfühlend berührte Michelle ihn am Arm. „Das klingt nach einer einsamen Jugend.“

Thad warf einen Blick auf ihre Hand. „Die Menschen von Summit halten zusammen. Es gab viele Leute, die auf uns aufgepasst haben. Wir hatten immer genug zu essen. Und das Haus da drüben auf der anderen Straßenseite, in dem wir leben konnten.“

Nur nicht das, vermutete Michelle, was er offenbar wirklich gebraucht hatte – einen liebenden Vater.

„Wie war Ihre Kindheit?“, fragte er – nichts von dem Schauer ahnend, den seine tiefe Stimme über ihre Haut jagte.

Es war wohl nur fair, wenn sie ebenfalls ehrlich antwortete. „Ich bin in einem wohlhabenden Vorort von Dallas aufgewachsen. Als einzige Tochter zweier sehr liebevoller, aber ehrgeiziger Menschen.“ Sie hielt kurz inne. „Sagen wir einfach, dass ein Versagen, egal auf welchem Gebiet, für mich nicht infrage kam.“

Verständnisvoll lachte Thad in sich hinein. „Sie bringen mich dazu, meine ungewollt freie Jugend mit ganz anderen Augen zu sehen.“

Michelle seufzte. Das Verständnis in seinen Augen ließ sie noch mehr preisgeben. „Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich hatte die volle Aufmerksamkeit meiner Eltern und alle Hilfe, die ich brauchte, um erfolgreich zu sein. Inklusive professioneller Nachhilfelehrer und Privattrainer, wenn nötig.“

Instinktiv schien Thad zu ahnen, dass da noch mehr war. „Aber …?“

„Es gab Momente, da hatte ich das Gefühl, als sei ich in ein Laufrad hineingeboren worden, das sich mit halsbrecherischer Geschwindigkeit drehte und keinen Ausstieg hatte.“ Momente, in denen sie dachte, sie könnte ihre Eltern niemals stolz machen, egal wie viel sie erreichte.

Michelle zwang sich, weiterzusprechen. „Meine Eltern waren beide Professoren mit Universitätslehrstühlen und dazu Fachbereichsleiter. Wenn sie mich nicht gerade umsorgten und zu immer höheren Leistungen trieben, arbeiteten sie rund um die Uhr. Diejenige, die mich wirklich umsorgt und mir die wichtigen Dinge des Lebens beigebracht hat – Liebe, Vertrauen, Hilfsbereitschaft –, war meine Großmutter.“

In seinem Tragekörbchen wurde William wieder unruhig und wimmerte leise. Bevor er wirklich anfangen konnte zu brüllen, ging Michelle hinüber und nahm ihn hoch. Sie beruhigte ihn mit einer sanften Umarmung und einem Kuss und nahm ihn mit hinüber zu Thad.

„Das klingt hart“, sagte er.

Mit einem zustimmenden Nicken reichte sie ihm das Baby. „Und zu hart war das alles auch für meine Eltern“, gestand sie. „Sie starben beide vor ein paar Jahren an stressbedingten Krankheiten. Erst ihre gesundheitlichen Probleme brachten mich dazu, mein Leben zu überdenken und meine Prioritäten neu zu setzen. Ich fing an, Geld zu sparen für ein Plätzchen an einem ruhigeren Ort – und für ein entspannteres Leben.“

„Ich weiß genau, was Sie meinen.“

Zufrieden betrachtete Michelle, wie William sich genauso vertrauensvoll an Thad schmiegte wie an sie. Seine Wimpern lagen ruhig auf seinen Wangen. Sein Atem wurde wieder tief und gleichmäßig.

„Aber wir kommen vom Thema ab“, erinnerte Michelle.

„Ja“, stimmte er zu, liebevoll auf das Kind in seinen Armen blickend. „Sie haben recht.“

Mühsam zwang sich Michelle, ihre Gefühle unter Kontrolle zu bekommen, bevor sie sich zu sehr auf das alles einließ. „Sie müssen diese Situation so schnell wie möglich klären.“

Bevor sie beide sich noch mehr in diesen verlassenen kleinen Jungen verliebten.

Zuerst mussten sie die beteiligten Menschen erreichen. Darüber waren sie sich einig, nachdem sie den schlafenden William wieder in sein Bettchen gelegt hatten. Durch kurze Internetrecherche fanden sie problemlos sowohl Candace Wrights als auch Brice und Beatrix Johnsons Kontaktdaten.

Thad, vollkommen planlos, fragte: „Irgendeinen Tipp, wie ich das hier angehen sollte?“

Mit einem Seitenblick erinnerte ihn Michelle: „Ich werde Sie nicht vertreten.“

Fasziniert fragte sich Thad, ob sie auch nur den Hauch einer Ahnung davon hatte, wie wunderschön sie im weichen Licht ihres elegant eingerichteten Wohnzimmers aussah – die Füße auf den Couchtisch hochgelegt, das Notebook auf ihren Oberschenkeln balancierend. „Sie könnten mir trotzdem als Freundin einen Rat geben.“

Konzentriert hielt sie die Augen auf die Informationen auf dem Bildschirm gerichtet und gab den Druckbefehl ein. „Sind wir Freunde?“

Irgendwo in den Tiefen ihres viel zu stillen Hauses hörte er einen Drucker anspringen. „Ich glaube, wir sind auf einem guten Weg dahin.“ Als sie das Notebook vom Schoß nahm und aufstand, atmete er den Orangenduft ihres Shampoos ein.

Er erhob sich ebenfalls und folgte ihr in die Küche. „Wieso? Stört Sie das?“

Sie nahm ein paar Ausdrucke aus dem Drucker, der in einer kleinen Nische stand. „Wir befinden uns hier in sehr ungewöhnlichen Umständen.“

Da konnte er nicht widersprechen. Als er mit den Schultern zuckte, wurde ihm bewusst, dass ihn schon lange keine Frau mehr so aus dem Konzept gebracht hatte. Wenn überhaupt jemals. „Gibt es denn eine bessere Möglichkeit, einander richtig kennenzulernen?“

Ironisch lächelnd fragte sie: „Ich hoffe, das war gerade nicht als Anmache gedacht?“

War es das? „Würde ich mir nie erlauben“, gab er im selben gespielt ernsten Tonfall zurück.

Thad wusste, alles würde wesentlich glatter ablaufen, wenn Michelle ihn und ihren kleinen gemeinsamen Schützling unterstützte. Als er ihr zurück ins Wohnzimmer folgte, schlug er vor: „Helfen Sie uns nur, über den Rest des Wochenendes zu kommen.“

In seinem kleinen Bettchen hatte William schon wieder seine Unterlippe unwillig vorgeschoben und begann zu jammern.

„Wenn ich dann jemanden als Babysitter einstellen muss, kann ich das erst Montag früh tun.“ Fürsorglich nahm er William hoch und wiegte ihn in seinen Armen. „Ich will das hier nicht verbocken. Der Kleine hat schon so viel durchgemacht.“

Plötzlich wurde seine Kehle eng, und mit einer sogar in seinen Ohren heiser klingenden Stimme fuhr er fort: „Und wenn schon mein Bruder sich nicht anständig verhält …“

Michelle wandte sich ab – jedoch nicht, bevor Thad einen Schimmer wie von mitfühlenden Tränen in ihren Augen entdeckt hatte. Mit einem Räuspern lenkte sie ab: „Wo wir gerade von Russell sprechen – vielleicht sollten Sie sich auf die Suche machen nach … was immer es ist, das er da unterzeichnet hat. Wir müssen uns vergewissern, ob diese Papiere wirklich das besagen, was Russell denkt.“

„Da ist was dran. Wollen Sie mit uns rüberkommen und mir beim Suchen helfen?“

Über ihr Gesicht huschte ein Ausdruck von Überraschung, vermischt mit Enttäuschung. „Dann nehmen Sie William heute Nacht?“

„Da Sie den ganzen Tag auf ihn aufgepasst haben, dachte ich, ich behalte ihn heute Nacht bei mir.“ Forschend blickte er Michelle an. Sie sah aus, als wäre ihr Hund gestorben. „Sie können gern auch über Nacht bleiben.“ Die Einladung hatte er ausgesprochen, bevor er sich bremsen konnte.

Und Michelle verstand sie so falsch wie nur möglich. In ihrer Miene tauchte wieder der ironische Gesichtsausdruck auf. „Äh, danke, aber … Nein danke.“

Beschwichtigend hob er eine Handfläche. „Ich werde der perfekte Gentleman sein.“

„Da bin ich mir sicher“, gab sie mit einem Augenrollen zurück.

Liebevoll zog sie William sein Häkelmützchen an und half Thad, ihn gut in eine Decke einzuwickeln. Als sie damit fertig waren, nahm Michelle die Wickeltasche und das Tragekörbchen und trat durch die Tür, die Thad offen hielt. Gemeinsam gingen sie über die Straße.

„Ist mein Ruf wirklich so schlecht?“, hakte er nach, während er William auf seine linke Seite nahm, um die Tür aufzuschließen und das Licht einzuschalten.

„Oder so gut.“ In einer weiteren Brise ihres Orangendufts schritt Michelle an ihm vorbei ins Haus.

„Entschuldigung … wie war das?“, fragte er verwirrt.

„Es kommt auf die Perspektive an“, erklärte sie.

Während Thad mehr Lampen einschaltete, wünschte er, in den letzten Monaten mehr Energie in die Gestaltung seines Wohnraumes gesteckt zu haben.

„Führen Sie das noch aus?“, bohrte er nach.

Sie blickte ihm geradewegs ins Gesicht. „Ihr Ruf besagt, Sie würden mit vielen Frauen ausgehen – aber nicht, Sie würden mit vielen Frauen schlafen.“

„Gut zu wissen“, sagte er.

Da war es wieder, das Funkeln in ihren Augen. „Nicht wahr?“

So wie Thad das sah, konnte ein kleiner Flirt nicht schaden. Vor allem, da sie angefangen hatte. „Wo wir gerade beim Thema sind – wollen Sie wissen, wie Ihr Ruf unter den Nachbarn ist?“

Wollte sie?

Sein provozierender Blick war alles an Herausforderung, das es brauchte. „Tja, wie es aussieht, komme ich jetzt nicht mehr drum herum.“

Thad tätschelte sanft Williams Rücken, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder Michelle zuwandte. „Eisprinzessin.“

Okay, das traf sie. Ein wenig. Vor allem, weil sie nichts getan hatte, womit sie sich diesen Namen verdient hätte.

Mit großen Augen fragte sie: „Wirklich?“

„Mhm.“ Thad trat einen Schritt näher. „Man erzählt sich, Sie wären seit Ihrem Einzug schon von mindestens zwanzig Typen um ein Date gebeten worden …“

„Ich glaube, das ist etwas übertrieben“, warf sie ein.

„… und hätten jeden einzelnen abblitzen lassen“, schloss er süffisant. Er ließ damit keinen Zweifel daran, dass er ihr Liebesleben – oder das Nichtvorhandensein desselben – ebenso verfolgt hatte wie sie seines.

Mit einem Achselzucken und rasendem Puls verteidigte Michelle sich: „Na ja, das liegt daran, dass ich nicht mit jemandem ausgehe, mit dem ich keine Hoffnung auf … irgendetwas sehe.“

Ein Lächeln spielte um seine Mundwinkel, als er sich zu ihr beugte, sodass sie fast Nase an Nase standen. „Wie können Sie das wissen, wenn Sie nicht mit demjenigen ausgehen?“

„Ich weiß es eben.“

„Tja, und das nehme ich Ihnen nicht ab“, erklärte Thad. „Ich glaube, man kann niemanden so richtig kennenlernen, wenn man nicht Zeit mit ihm allein verbringt. Man muss das Risiko eingehen …“

Michelle grinste. „Und wie ich höre, tun Sie das gern und oft.“

„… um belohnt zu werden.“ Als er einen Blick auf William riskierte und sah, dass das Baby wieder fest schlief, lächelte er ebenfalls. Er ging hinüber zum Tragekorb, legte William sanft hinein und deckte ihn zu.

So selbstverständlich nahm er seine Vaterrolle für den verlassenen kleinen Jungen an … Die Vorstellung, wie Thad von irgendeiner anderen Frau belohnt wurde, störte sie mehr, als es sollte. All ihren Selbstschutz zusammensuchend fragte sie zuckersüß: „Und wie funktioniert die Methode bisher so bei Ihnen?“

„Bis jetzt habe ich noch nicht das große Los gezogen.“ Sein Blick wanderte über die zarte Wölbung ihres Dekolletés zu ihren Lippen, um schließlich wieder ihre Augen zu treffen. „Aber das werde ich.“

Sie holte tief Luft bei dem Gedanken daran, wie er heute früh ausgesehen hatte, ohne T-Shirt und gerade aufgestanden. Errötend riss sie sich vom Anblick der muskulösen Konturen seiner Brust unter dem Hemd los. „Aber sicher werden Sie das.“

„Machen Sie sich ruhig lustig, soviel Sie wollen“, sagte Thad und trat wieder näher. „Sie sollten mehr Risiken in Kauf nehmen.“

Bei diesen Worten gewann Michelle ihre Selbstkontrolle zurück. Diesen Satz hatte sie schon von genug anderen Männern gehört. „Versuchen Sie einfach, diese Papiere zu finden“, wies sie ihn gereizt an. Dr. Thad Garner wäre der Allerletzte, mit dem sie sich jemals einlassen würde, beschloss sie.

Seufzend verabschiedete er sich: „Wünschen Sie mir Glück. Der Dachboden ist ein einziges Chaos.“

Eine halbe Stunde später kam Thad wieder ins Erdgeschoss. In den Händen hielt er eine metallene verschlossene Dokumentenbox, die er Michelle strahlend reichte. „Das hier könnte es sein.“

Verwirrend nah und anziehend ragte er mit seinen ein Meter neunzig vor ihr auf. „Ich hätte nicht gedacht, dass er das da oben hat“, murmelte er mit tiefer sexy Stimme.

William schlief weiterhin tief und fest. Was bedeutete, dass Michelle nun Thads ungeteilte Aufmerksamkeit hatte – zumindest für die nächsten zehn, fünfzehn Minuten, bis der Kleine wieder aufwachen würde. Sie ignorierte das Kribbeln im Bauch und zwang sich, konzentriert über ihre gemeinsame Aufgabe nachzudenken. „Sie haben nicht zufällig einen Schlüssel hierfür?“

Er schüttelte den Kopf.

„Eine Büroklammer?“

„Oben in meinem Arbeitszimmer.“

Vorsichtig warfen sie einen Blick auf William in seinem Körbchen und schlichen dann die Treppe hinauf in Thads Arbeitszimmer. Aus einer Schreibtischschublade kramte Thad eine Büroklammer hervor und reichte sie Michelle.

Sie spürte, wie er sie beobachtete, als sie sich auf die Schreibtischkante setzte und begann, das Schloss der Dokumentenbox zu bearbeiten. Als sie von ihrer Arbeit aufsah, raubte sein intensiver und eindeutig genießerischer Blick ihr den Atem. „Woran denken Sie?“, wollte sie wissen.

Thad legte einen Finger unter ihr Kinn und rückte noch näher. „Daran.“

3. KAPITEL

Michelle hatte alle Zeit der Welt, um den Kopf wegzudrehen und dem Kuss auszuweichen – wenn sie gewollt hätte.

Sie wollte nicht.

Vielleicht weil ihn zu küssen alles war, woran sie denken konnte, seit er am Morgen – gerade aus dem Bett gestiegen – die Tür geöffnet hatte.

In Wahrheit war er ihr sogar schon viel früher aufgefallen, gestand sie sich ein. Schon seit dem Moment, als sie sah, wer da auf der anderen Straßenseite lebte, hatte er ihre volle Aufmerksamkeit gehabt.

Nur der bunte Reigen von Frauen, die nacheinander vor seiner Haustür aufgetaucht waren, und sein Ruf als Schürzenjäger hatten sie davon abgehalten, dieser erstaunlichen Anziehung nachzugeben.

Ihm allerdings an diesem Morgen gegenüberzustehen – nah genug, um seinen starken männlichen Körper zu berühren – hatte sie dazu gezwungen, ihn mit anderen Augen zu betrachten. Nicht einfach als Nachbarn oder als einen Typen, mit dem sie sich aus reiner Vorsicht nicht einließ. Sondern als Mann, der in ihr eine Art von romantischen Tagträumen heraufbeschwor, die sie nie zuvor gehabt hatte – und dazu ein ungekanntes körperliches Verlangen.

Ihn dann noch mit William zusammen zu sehen – zu wissen, wie unglaublich wichtig ihm Familie war, obwohl seine eigene nicht viel Wert auf ihn legte –, hatte seine Anziehungskraft noch um ein Vielfaches gesteigert.

Als Thad also seinen Kopf zur Seite neigte und sein Gesicht langsam, aber unaufhaltsam zu ihr senkte, gab Michelle der Neugier nach, die sie schon seit Monaten quälte.