Der Schnee glitzerte im strahlenden Schein der Sonne, die heute das erste Mal seit mehreren Tagen hinter den Wolkenmassen hervorgekrochen war. Giffin instruierte gerade meinen besten Freund Ryder, wie er die Gräber von dem weißen Schnee befreien konnte, ohne dabei Schaden anzurichten. Ryders Schultern waren eingesunken und obwohl ich ein gutes Stück entfernt und im warmen Haus saß, konnte ich erkennen, wie er das Gesicht verzog, als Giffin ihm die Schaufel in die Hand drückte. Ich verkniff mir ein Lachen. Kein Wunder, dass Giffin die Arbeit draußen meistens einem seiner Mitarbeiter überließ, der sich dann seinerseits mit Ryder herumschlagen musste. Wie liebenswert und witzig der Junge mit der dunkelbraunen Haut auch war, Eifer gehörte nicht zu seinen hervorstechendsten Eigenschaften. Ein guter Freund war er mir trotzdem seit dem Tag vor über zwei Jahren, als er anfing, hier als Friedhofswärter zu arbeiten.
Zwei Jahre. Eigentlich keine so lange Zeit, wenn man in Betracht zog, dass ich bereits seit meinem sechsten Lebensjahr hier lebte und meine Familie … meine leibliche Familie seit über zwölf Jahren nicht mehr gesehen hatte. Ich fragte mich, ob Ryder seine Familie auch manchmal vermisste.
Seufzend legte ich eine Postkarte, die die Skyline von Arden Creek bei Nacht zeigte, zwischen die Seiten meines Buchs (Tom Hardys ›Am Grünen Rand der Welt‹) und klappte ebenjenes dann entschlossen zu. Es war viel spannender, Giffin und Ryder bei der Arbeit zu beobachten. Ich wünschte, ich wäre draußen, um ihr mit Sicherheit streitlustiges Gespräch mit anzuhören. Ryder besaß die glorreiche Fähigkeit, den Obersten des Clan Militums, dem ich angehörte, an die Grenzen seiner Selbstbeherrschung zu treiben. Manchmal beneidete ich ihn darum. Wie gerne wäre ich auch laut und stur und beharrlich, aber ich hatte nicht mal meine Familie dazu bringen können, mich zu behalten.
Eines Tages waren Giffin und Florence, ein weiteres Mitglied des Clans, zu mir nach Hause gekommen und hatten meinen Eltern offenbart, dass es Zeit wurde, mich testen zu lassen. Für meine Eltern und meinen älteren Bruder war das nichts Neues gewesen, da sie die gleiche Prozedur bei ihm bereits durchgemacht hatten. Man testete mich darauf, ob ich die Fähigkeiten geerbt hatte, die den Clan zu dem machten, was er war. Es hatte einen gemalten Kreis aus Henna und Kreide auf dem dunklen Holzfußboden gegeben, Kerzen und fremde Wörter, die mir Angst gemacht hatten. Helles Licht und schließlich die finstere Erkenntnis auf den Gesichtern meiner Eltern.
Der Kelch ging nicht an mir vorüber und ich musste von einer Nacht auf die nächste mein Heim verlassen. Meine Eltern versicherten mir, dass sie mich jeden Tag vermissen würden, aber sie protestierten nicht, da sie schon immer von dieser Pflicht gewusst hatten. Die Pflicht, ihr Kind abgeben zu müssen, wenn es ein Somna oder ein Dormis war. Ich hatte das großartige Glück, so wie Giffin beides zu sein. Es war eher eigenartig, nur ein Somna zu sein. Es gab am meisten Dormi, dann diejenigen, die Dormi und Somna waren, und ganz selten existierten auch welche im Clan, die nur ein Somna waren. Meine Eltern waren beide Nachkommen der Gründerväter von Arden Creek, auch wenn sie selbst keine Gaben geerbt hatten. Die dreizehn Gründerfamilien waren mittlerweile überall auf dem Kontinent verteilt und hatten sich wie ein Wurzelgeflecht von Ort zu Ort ausgebreitet. Sie alle wussten von der Hochburg der Ungeheuer in Arden Creek und kannten ihre Pflicht. Keine Familie würde sich gegen den Clan stellen.
Meine Familie hatte ich jedoch nie wiedergesehen. Es war mir nicht erlaubt, Kontakt zu ihr herzustellen, doch die Nummer von unserem Haustelefon kannte ich noch heute auswendig.
Es war ja nicht so, dass es mir hier sonderlich schlecht erging. Die Mitglieder, die im Hauptquartier lebten, waren allesamt freundlich und zuvorkommend. Manche waren mir sogar regelrecht ans Herz gewachsen und auch Giffin, der sich zu meinem Paten und Lehrer erklärt hatte, gestaltete seine Lehrstunden mittlerweile spannender und abwechslungsreicher als noch vor geraumer Zeit, sodass ich Kreise mit Henna ziehen und die Worte des Zaubers aufsagen konnte. Alles durfte ich bisher tun – außer mich den Leichen nähern.
Entschieden löste ich mich vom Fenster, da ich Ryder begrüßen wollte. Gestern war sein Geburtstag gewesen und ich musste ihm noch sein Geschenk überreichen.
Lächelnd berührte ich das in Papier eingewickelte Päckchen, das ich in meiner Hosentasche trug. Ich hoffte, es würde ihm gefallen.
Im Flur des alten Herrenhauses zog ich eilig meinen Parka über, schlüpfte in meine Stiefel und verbarg meine Ohren unter einer Wollmütze. Für das kalte Wetter gewappnet, trat ich aus der Tür und wäre beinahe sofort der Länge nach hingeflogen. Wer auch immer Salz gestreut hatte, er hatte den obersten Treppenabsatz vergessen.
Vor mich hin grummelnd bewegte ich mich etwas vorsichtiger fort und suchte Ryder und Giffin, die sich mittlerweile getrennt hatten. Der Oberste des Clans schritt die Reihen der Gräber ab und warf hin und wieder einen verstohlenen Blick in Richtung Ryder, der die Grabsteine mit einem kleinen Handbesen vom Schnee befreite. Ich versuchte mich nicht von Giffins mahnender Präsenz einschüchtern zu lassen. Ryder war es ja wohl gestattet, eine fünfminütige Pause einzulegen, um mein Geschenk anzunehmen.
Ich näherte mich meinem besten Freund von hinten und der Schnee knirschte so laut unter meinen Sohlen, dass Ryder sich zu mir umdrehte, bevor ich die Möglichkeit gehabt hätte, ihn zu überraschen.
Er lächelte nervös, als würde ihn meine Anwesenheit hier stören, und sah zu Giffin. Befürchtete er, der Oberste würde ihn zurechtweisen? Ich streckte meine Arme aus, um ihn zu begrüßen, doch als er keine Anstalten machte, die Bewegung zu erwidern, ließ ich sie enttäuscht fallen.
»Was ist los? Giffin wird dich kaum feuern«, versprach ich ihm und lächelte aufmunternd.
»Entschuldige. Du hast recht.« Er trat vor und zog mich in eine feste Umarmung, sodass ich beinahe mit dem Gesicht im Pelz seines Parkas verschwand. »Es ist nur, den ganzen Tag hackt er bereits auf mir rum …«
»Vielleicht ist er mit dem falschen Fuß aufgestanden«, antwortete ich schulterzuckend, nachdem er mich wieder losgelassen hatte. Das Lächeln kehrte in mein Gesicht und mein Herz zurück, als mich die Aufregung erneut übermannte. »Ich hab etwas für dich.«
»Lydia … Das ist doch nicht nötig«, protestierte er halbherzig und grinste. Ein Grübchen bildete sich auf seiner rechten Wange, während seine braunen Augen warm aufleuchteten.
»Und ob! Jedes Geburtstagskind muss mindestens ein Geschenk bekommen und da ich weiß, dass Giffin nie an so etwas denkt …« Ich machte eine wegwerfende Handbewegung. »Happy Birthday, Ryder.« Mit den Worten holte ich das flache Päckchen aus meiner Hosentasche und überreichte es ihm.
Er zog seine Handschuhe aus und legte sie auf den grauen Grabstein neben uns, bevor er das dunkelblaue Papier vorsichtig auseinanderriss. Es kam ein silberner Anhänger zum Vorschein, der die Form eines Adlers hatte und an einem schwarzen Lederband hing.
»Du sagst doch immer, dass du gerne fliegen könntest«, erklärte ich die Auswahl meines Geschenks, als Ryder die Augen weiterhin auf den Anhänger gerichtet hielt. »Gefällt er dir nicht?«
Langsam hob er seinen Blick. Tränen schimmerten in seinen Augen. Ich hatte ihn noch nie so emotional gesehen und es berührte mich tief im Inneren.
»Danke«, sagte er mit erstickter Stimme. »Hilfst du mir?«
Lächelnd wartete ich, bis er sich umdrehte, dann legte ich ihm die Kette um, die sofort unter den Kragen seiner Jacke rutschte, aber das war nicht schlimm. Er und ich wussten, dass sie da war.
»Ich wünschte mir, wir hätten uns früher kennengelernt«, murmelte er leicht abwesend.
»Noch früher? Wir kennen uns doch schon zwei Jahre.« Ich lachte.
»Und stell dir vor, wie viel mehr Spaß wir dann noch erlebt hätten?« Er bückte sich, als würde er seine Schuhe zubinden, doch als er sich wiederaufrichtete, hatte er einen ausgewachsenen Schneeball in der Hand. Ich bemerkte es zu spät, da ich gedankenverloren in den Himmel gestarrt hatte.
»Wage es ja nicht!«, quietschte ich, drehte mich auf dem Absatz um und lief los. Der Schneeball folgte sogleich und traf mich glücklicherweise nur am Rücken. Ich blieb stehen, um einen eigenen Ball zu formen, als ein Schatten über mich fiel.
»Ich bezahle den Jungen nicht dafür, dass er mit dir Schneeballschlachten bestreitet.« Giffin.
Ich schluckte schwer und erhob mich langsam aus der Hocke. »Äh, entschuldige?«
»Hast du nichts Anständiges zu tun?« Seine finstere Miene sagte nur zu deutlich, dass er heute nicht zu Späßen aufgelegt war.
»Ich …«, begann ich, ohne zu wissen, was ich sagen sollte, als jemand meinen Namen rief.
Ich erkannte sofort Florences Stimme. Wahrscheinlich hatte sie mich genauso wie Giffin herumalbern sehen und wollte mir nun jeden Spaß verderben.
»Ich geh dann mal«, sagte ich in Richtung Giffin, bevor ich Ryder ein letztes Mal zuwinkte und dann zurück zum Herrenhaus schritt. Meine Laune wäre dahin gewesen, wenn Ryder sich nicht derart über sein Geschenk gefreut hätte.
Das Leben hier würde mir mit Sicherheit leichterfallen, wenn ich endlich die Aufgaben eines vollwertigen Clanmitgliedes übernehmen durfte. Giffin bestand aber nach wie vor darauf, dass ich mich noch immer mit den Grundlagen beschäftigte, und so war ich weiterhin dazu verdammt, den Rest der Zeit diverse Aufgaben im Haushalt zu erledigen. Da sollte er sich nicht wundern, dass ich lieber Blödsinn veranstaltete …
Es war erniedrigend, mit achtzehn Jahren noch immer nicht als Dormis oder Somna zu arbeiten, während alle anderen aus meinem Jahrgang, alle bis auf eine Nurdormi, bereits ihren Pflichten nachkamen.
»Lydia! Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit!«, erklang Florences Stimme erneut, als ich den Flur betrat und den Schnee von meinen Schuhen klopfte.
»Bin schon auf dem Weg«, murmelte ich leise, damit sie nicht den trotzigen Unterton hören konnte. Es gab vieles, das mir Florence verzieh, kindische Anfälle gehörten nicht dazu.
Auf dem Weg zur Küche, wo ich sie vermutete, begegnete ich niemandem, was nicht sonderlich überraschend war, da selten mehr als drei Leute gleichzeitig durchs Haus spukten. Meistens verbarrikadierte man sich in seinen eigenen Räumen, versuchte seine Sinne zu schärfen oder zu meditieren. Zu jeder Tageszeit befand sich außerdem ein oder zwei Dormi im sogenannten Sonnenzimmer. Der einzige Raum, in dem sie mit ihren Geistern in Kontakt treten konnten, die ihnen mitteilten, wo sich weitere Opfer der Monster der Nacht aufhielten.
Das Hauptquartier des Clan Militums war ruhig. Und manchmal auch einsam.
Florence lotste mich mit ihrer Brüllstimme tatsächlich in die Küche, wo sie gerade Zutaten aus den Schränken kramte, um sie auf dem länglichen Bauerntisch neu zu arrangieren. Als sie mich eintreten hörte, hob sie abrupt ihren Kopf, sodass ihre feuerroten Locken auf und ab hüpften.
»Ich rufe dich schon seit einer halben Stunde und dann muss ich sehen, dass du Ryder von seiner Arbeit abhältst!«, schalt sie mich, bevor sie ihre Hände an der weißen, leicht verschmutzten Schürze abrieb und dann nach einem Zettel griff, den sie anscheinend schon bereitgelegt hatte. Sie hielt ihn mir abwartend hin.
»Was ist das?«, fragte ich, noch während ich meine Hand danach ausstreckte.
»Eine Einkaufsliste. Ich habe gerade eine Inventur unserer Bestände gemacht und uns fehlen ein paar Zutaten. Allen voran Heidekraut«, fertigte sie mich ab und widmete sich wieder ihrer Arbeit.
»Warum muss ich das machen? Was ist mit Lola?«, rief ich empört und wedelte mit dem Zettel herum. »Als ich dreizehn war, wurde ich ständig zum Magic Shop geschickt!«
»Hat mich jemand gerufen?«, erschien ebenjene blondgelockte Dreizehnjährige im Türrahmen und grinste mich frech an.
»Lola hat andere Dinge zu erledigen«, antwortete Florence streng und bedachte die Jüngste im Clan, die wie ich Somna und Dormis war, mit einem tadelnden Blick. »Hausaufgaben zum Beispiel.«
Sofort verschwand das schalkhafte Lächeln und ein mitleiderregender Ausdruck trat zum Vorschein. Ich verdrehte bloß die Augen, steckte den Zettel ein und stapfte in den Flur, um mir einen wärmeren Schal anzuziehen. Trotz der Sonne herrschten draußen Minusgrade und ich wollte mir sicherlich nicht eine Erkältung zuziehen, die Giffin einen weiteren Grund liefern würde, meine Ausbildung hinauszuzögern. Wie ich es hasste, als klein und schwach abgestempelt und auch so behandelt zu werden.
»Alles in Ordnung?«, fragte Lola, die mir in den Flur gefolgt war. Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, als würde sie wissen, dass ich über Dinge nachgrübelte, die ich Florence nicht mitteilen wollte.
»Wie immer. Ich verstehe Giffin nicht.« Kopfschüttelnd beugte ich mich herunter, um die Reißverschlüsse an meinen dunkelbraunen Stiefeln wieder hochzuziehen, da sie sich geöffnet hatten. Der linke entschloss sich dazu, festzuklemmen. »Isla hat ihre Ausbildung fast zum gleichen Zeitpunkt wie ich begonnen und sie ist schon seit vier Monaten und fünf Tagen ein vollwertiges Mitglied. Wieso sie und nicht ich?« Ich zog mit aller Kraft und schaffte es, den eingeklemmten Verschluss zu lösen, wobei ich mir fast ein Stück Haut vom Finger abriss.
»Du bekommst deine Chance bestimmt auch bald«, versprach mir Lola, obwohl sie es genauso wenig verstand wie ich.
»Ja. Vielleicht.«
Sie reichte mir den wärmeren Schal, den ich gegen den anderen austauschte und mir zwei Mal um den Hals wickelte, ehe ich die Strickmütze aufsetzte und meinen Parka schloss.
»Bis später, kleine Biene«, neckte ich sie und erntete dafür einen nicht ernstgemeinten Klaps auf die Schulter. Eilig griff ich noch nach meiner schwarzen Tasche und stolperte dann aus dem riesigen Haus.
Ich zitterte schon wie Espenlaub und da war ich nicht mal die Treppen bis zum gusseisernen Tor hinabgestiegen. Manchmal war es wirklich ein Fluch, so hoch im Norden Montanas zu leben. Besonders in der kalten Jahreszeit.
Ein eisiger Wind brachte mich dazu, meine Vorsicht über Bord zu werfen und die Glätte zu ignorieren. Ich fiel lieber hin, als dass ich im Gehen erfror.
Sobald ich das Gelände verlassen hatte, spürte ich die Anwesenheit eines Verfolgers. Ein Schatten, der mir auf Schritt und Tritt in Richtung Stadtzentrum folgte und sich nicht von etwaigen Passanten von seinem Weg abbringen ließ. Ich neigte meinen Kopf ganz leicht, bewegte auffordernd meine Hand und sah dann, dass der Schatten meiner Bitte gefolgt war, denn er ging plötzlich neben mir.
»Wie viel besser soll ich mich meiner Gaben denn noch bedienen?«, fragte ich meinen schweigenden Begleiter. »Du folgst mir doch schon ständig.« Er neigte den Kopf und ich wusste genau, was er damit sagen wollte. »Jaja, ich weiß ganz genau, dass das nicht normal ist.«
Der dunkelblonde Geist, denn nichts anderes war er, grinste zufrieden und schwebte mir nach, als ich die Straße überquerte und den neugierigen Blicken der Menschen auswich, die sich fragten, mit wem ich da redete. Nur ich konnte ihn sehen.
Den Geist, den ich Neo getauft hatte.
Die Farbe seiner moosgrünen Augen war intensiv, obwohl sein Körper eigentlich durchscheinend und blass war. Über seiner linken Augenbraue thronte außerdem ein kleines Muttermal, das ihn stets etwas erstaunt aussehen ließ. Wenn ich sein Alter schätzen müsste, würde ich aufgrund seiner schlaksigen Gestalt fünfzehn sagen, aber sein bartloses Gesicht konnte ihn auch nur jünger wirken lassen, als seine Gestalt tatsächlich war.
Die Hände in den Taschen vergraben schlenderte ich über die steinerne Brücke, die sich über den Fluss streckte, welcher in dem großen See im Park mündete. Jener hatte der Stadt ihren Namen gegeben. Arden Creek.
Zwei Straßen weiter bog ich nach links in eine gepflasterte Straße ein, an der ausschließlich merkwürdige Läden angesiedelt waren. Für mich waren sie das vielleicht nicht, da ich sie ständig besuchte; aber für Menschen, die nichts von den gefährlichen Wesen ahnten, die nachts die Stadt durchkämmten, wirkten sie seltsam und gehörten zur Kategorie abergläubischer Unfug. Und das, obwohl die Menschen wussten, dass Arden Creek keine normale Stadt war, doch solange man nicht als verrückt abgestempelt werden wollte, ignorierte man die Gefahren und Eigenarten unserer geliebten und verhassten Stadt. Es war nicht so, dass es nirgendwo auf der Welt das Böse gab, aber aus irgendeinem unerfindlichen Grund hatte es sich in Arden Creek eingenistet.
Vor dem Magic Shop hielt ich inne, sah mir von außen das Schaufenster an, in dem mehrere Artikel präsentiert wurden, die ich nie und nimmer berühren würde (Froschaugen, nein danke) und auf dem der Name in goldenen, verschnörkelten Lettern geschrieben stand. Neo spiegelte sich nicht in der Scheibe, was nicht weiter verwunderlich war, schließlich existierte er nur in meinem Kopf. Sozusagen.
»Du weißt, dass du nicht reinkannst«, erinnerte ich ihn und fing seinen traurigen Blick auf. »Es liegt nicht an mir, also sieh jemand anderen so an, okay? Bin gleich wieder da.«
Ich wandte mich eilig ab, lief die Stufen zur Eingangstür hoch und trat in das Königreich aus Patschuli und Champa ein, das ich nur deshalb namentlich kannte, weil ich einst den Fehler begangen und nachgefragt hatte. Poppy hatte mich eine Stunde lang in Beschlag genommen und mich in der Kunst der Räucherstäbchenherstellung unterwiesen. Der Fehler war mir nicht noch einmal unterlaufen.
Die schrullige Verkäuferin, die an ihrem Körper gleich ein halbes Dutzend Schals in verschiedenen Farben und Stoffen trug, ließ einen ihrer Kunden sofort stehen, als sie mich in der Tür warten sah. Die filigrane goldene Glocke hatte mein Hereinkommen angekündigt und ließ mir daher keine Zeit, mich allein im vollgestellten Laden umzusehen. Das war vielleicht ganz gut so, schließlich würde ich ohne Poppy kaum etwas finden, das Florence auf die Liste geschrieben hatte. Die Unordnung, die hier herrschte, war für die kleine, mollige Frau ein sorgsam gepflegtes System.
»Lydia!«, quietschte sie erfreut, breitete ihre Arme aus und zog mich in eine alles umfassende Umarmung, die mir wie immer die Luft aus den Lungen drückte. Ihr purpurner Schal, den sie als Turban um ihren Kopf trug, presste sich wie eine Erstickungsfalle an mein Gesicht.
Poppy ließ mich erst dann frei, als mir bereits dunkle Punkte vor den Augen tanzten. »Was führt dich zu mir? Ach, du wirst mit jedem Tag schöner. Komm, komm.«
Der Kunde, der nun nicht mehr von ihr bedient wurde, warf mir ein finsteres Stirnrunzeln zu und stellte die indisch angehauchte Tonfigur entschieden zurück auf das verstaubte Regalbrett. Auch Poppy erntete ein genervtes Schnauben seinerseits, bevor er auf dem Absatz seiner vom Schnee durchweichten Sneakers kehrtmachte und aus dem Magic Shop zischte.
»Also, manche Menschen heute … unfreundlicher geht es ja wohl kaum«, kommentierte sie seinen Abgang, absolut im Unklaren darüber, dass sie sich ihm gegenüber nicht gerade wie eine freundliche Verkäuferin verhalten hatte.
»Ja, echt schlimm.« Ich würde den Teufel tun und ihr widersprechen. Es war schon ärgerlich genug, dass ich diese Dienstbotenaufgabe übernehmen musste, und deshalb wollte ich sie auf keinen Fall in die Länge ziehen.
»Florence hat eine neue Liste«, kam ich auf das ursprüngliche Thema zurück. »Sie sortiert gerade unseren kompletten Bestand um.«
»Oh, aber sicher, Ordnung muss sein.« Sie nickte heftig, sodass das Ende des purpurnen Schals hin und her wippte. »Sonst vergisst man ganz schnell, was einem noch fehlt, und Schwups hat man es plötzlich nicht mehr, wenn man es braucht.«
Ich sah mich skeptisch zwischen den Regalen um, während Poppy über der Liste brütete, die ich ihr gereicht hatte.
Leise zu sich selbst murmelnd ließ sie mich an der Kasse stehen und begann dann, scheinbar wahllos, etwas aus Schubladen und versteckten Kisten zu kramen. Ich vertraute ihr da völlig und ließ ihr freie Hand.
Poppy wusste nicht, wofür genau Florence und ich die Zutaten brauchten, obwohl sie von Giffin von der Existenz des Clan Militums erfahren hatte, weil sie ihm und Florence über die Jahre zu einer Freundin geworden war. Doch sie hatte keinen Schimmer, was wir, die Protectoren oder die Signa Inferre, taten. Ich nahm an, dass sie uns als die gleiche Sorte Menschen ansah, der sie selbst angehörte: spirituell angehaucht und vielleicht ein kleines bisschen magisch begabt. Eine Gruppe, die sich zusammengeschlossen hatte, um eine besondere Religion auszuüben. Wenn ich so darüber nachdachte, wirkten wir auf sie vermutlich wie Anhänger eines dubiosen Kults …
»Ich habe gerade eine besonders schöne Mischung von Heidekraut zusammengestellt«, rief sie mir aus dem hinteren Teil zu und klang furchtbar aufgeregt. »Ich würde sie nur ungern einpacken. Meinst du, du kannst das Bündel so tragen?«
»Sicher«, schrie ich beinahe, damit sie mich verstand. Mittlerweile hatte ich den Überblick verloren und wusste nicht mehr, wo sie gerade nach Zutaten kramte. Seufzend wandte ich den Blick wieder in Richtung Kasse, um mich mit der Hüfte gegen die Theke zu lehnen. Meinetwegen konnte der Tag jetzt schon zu Ende gehen, denn auch heute hatte Giffin nicht das Gespräch mit mir gesucht. Und morgen würde er es wahrscheinlich auch nicht tun, es sei denn, er trainierte meine Fähigkeiten, aber dann würde es ausschließlich darum gehen, meine Gabe zu kontrollieren. Wir würden uns im Sonnenzimmer einander gegenübersetzen, die Augen schließen und unsere Atmung regulieren. Er würde mir sagen, ich solle mich darauf konzentrieren, die Macht in mir zu beherrschen und mich nicht von ihr beherrschen lassen. Aus Angst, dass es meine Ausbildung weiter verzögerte, hatte ich ihm nicht mitgeteilt, dass ich Neo außerhalb des Bannkreises um unser Quartier ständig sehen konnte, dennoch befürchtete ich, dass er es bereits ahnte. Er vertraute mir einfach nicht.
Es wäre ja eine Sache, wenn ich zu den Bellatoren, den Kriegern der Signa Inferre, gehören würde, die aktiv den Kampf gegen die Kreaturen der Nacht suchten, denn für eine direkte Konfrontation mit Mordenox wäre ich definitiv noch nicht bereit. Aber die Aufgabe eines Dormis bestand lediglich darin, die Opfer zu finden, welche die Mordenox nachts hinterließen. Dazu war mein Geist da, der eigentlich nur erscheinen sollte, wenn es ein neues Opfer gab, um mich dort hinzuführen. Deshalb sollte er mir eigentlich nicht ständig an den Fersen kleben …
»Hier.«
Ich schrak zusammen, als Poppy wie aus dem Nichts neben mir auftauchte und einen bis oben hin gefüllten Korb auf die Theke stellte. Sie reichte mir das duftende Büschel getrockneten Heidekrauts, bevor sie sich daranmachte, alles andere sorgfältig zu verpacken.
»Das riecht wirklich wieder wunderbar«, sagte ich und nahm einen weiteren tiefen Atemzug durch die Nase.
»Nicht wahr?« Poppy sah nicht mal auf, so sehr ging sie in ihrer Aufgabe des Einpackens auf. Ich lächelte nachsichtig.
Das Heidekraut war besonders wichtig für die Somna unter uns, denn mit dieser Zutat wurde es jenen, und irgendwann dann auch mir, erleichtert, die Wandlung der zurückgebliebenen Opfer der Mordenox zu stoppen.
Ich erinnerte mich noch daran, als mir Giffin das erste Mal von diesen Kreaturen erzählt hatte. Mein erster Gedanke war gewesen, dass er Mordenox oder Nachtbeißer – wie sie manchmal genannt wurden – mit Vampiren verwechselte.
»Vampire sind ein Mythos, Lydia«, hatte er mir in seinem belehrenden Tonfall erklärt. »Mordenox und ihre stärkeren Verwandten, die Tenebrae, haben zwar ein ähnliches Gebiss, das sie benutzen, um Menschen zu beißen, aber sie trinken kein Blut. Ihnen geht es allein um die Ignis in ihnen.«
»Die Ignis?«
»Genau. Die Kreaturen verwandeln die Ignis, eine Art Lebensenergie in uns Menschen, in Finsternis, was schlecht ist. Dadurch werden sie mächtiger und gefährlicher. Stell dir zwei Waagschalen vor. Die linke ist mit Licht, die rechte mit Dunkelheit gefüllt. Je mehr Ignis – oder auch Glut genannt – die Mordenox aufsaugen, desto schwerer wird die mit Dunkelheit gefüllte Waagschale. Das Licht verliert an Gegengewicht.« Er hatte die Stirn gerunzelt, als würde er sich ein Szenario ausmalen, in dem die Welt von Mordenox regiert wurde. »Sie sind unsere Feinde und wir müssen verhindern, dass sie sich weiter vermehren. Das ist unsere Aufgabe. Die Aufgabe der Signa Inferre ist es, uns und die Menschen zu beschützen. Sie suchen den Kampf.«
»Und die Aufgabe der Protectoren?«
»Die ist … speziell.«
»Was meinst du damit?« Obwohl ich Giffin damals noch nicht sehr lange gekannt hatte, wusste ich, dass es ihm nicht ähnlich sah, meiner Frage mit einer solch ausweichenden Antwort zu begegnen.
»Sie sind diejenigen unter uns, die noch glauben. Sie sind sich sicher, dass die drei Funken, die Gottheiten Arax’va, Belmin und Corama, tatsächlich existieren oder existiert haben. Es gibt eine Statue von ihnen, die nur von Protectoren besucht werden darf. Vor ein paar Jahrzehnten wurden die Bildnisse von Belmin und Corama auf mysteriöse Weise zerstört. Die Protectoren sagen, es sei von selbst geschehen, als die beiden Gottheiten starben.«
»Also existiert nur noch Arax’va?«
»Wenn überhaupt …« Er hatte bei der Vorstellung, ich könnte ebenfalls dem Glauben anheimfallen, die Nase gerümpft, dabei versuchte ich bloß, alles zu verstehen. »Die Protectoren besitzen wie die Mordenox die Fähigkeit, die Glut der Menschen zu sehen. Anstatt sie jedoch in Finsternis zu wandeln, fügen sie die Glut dem Wiederkreis zu, damit sie von Arax’va in Licht verwandelt werden kann. Das ist nicht ganz ungefährlich für den Menschen, denn es gab Fälle, bei denen sie gestorben sind.«
»Dadurch füllt sich also wieder die Waagschale mit mehr Licht?«, griff ich seine Metapher erneut auf.
»Theoretisch ja.«
Mein Kopf hatte danach tagelang geraucht und es hatte Wochen gebraucht, ehe ich wirklich verstanden hatte, wie die Welt hier in Arden Creek aussah. Ich wünschte mir, ich wäre weiterhin im Unwissenden gelassen worden.
Poppy riss mich wieder aus den Gedanken, als sie mir den schwindelerregend hohen Preis nannte. Immerhin musste ich das nicht aus eigener Tasche zahlen, schließlich verdiente ich nicht gerade viel als nicht eingesetzte Dormis und Somna.
Ich verabschiedete mich von der gut gelaunten Inhaberin und trat auf die verschneite Straße. Der Himmel hatte sich während meiner Abwesenheit zugezogen und das Licht nahm bereits ab, was mich zur Eile antrieb. Es war nicht empfehlenswert, nach der Abenddämmerung noch draußen herumzulungern, insbesondere wenn man wusste, was sich in der Stadt herumtrieb, sobald die Nacht Einzug hielt.
Der Geist wartete auf mich, als hätte er nichts anderes zu tun. Nun, das hatte er vermutlich auch nicht. Seit vier Jahren verfolgte er mich, ohne ein einziges Wort zu sagen. Anfangs hatte ich mich vor ihm gefürchtet, dann war ich genervt gewesen und nun hatte seine Anwesenheit etwas Tröstliches an sich.
»Ich wünschte, du würdest mit mir reden.«
Er deutete auf sich und hob dann einen Daumen. Ihm ging es anscheinend ganz genauso …
»Wir müssen uns beeilen«, sagte ich zum gefühlt tausendsten Mal, bevor ich das Büschel und die Papiertüte fester umfasste.
Die Nacht nahm auf niemanden Rücksicht und ich wollte nicht schutzlos auf der Straße sein, wenn ich, anders als die Menschen um mich herum, wusste, dass etwas Jagd auf uns machte.