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J. S. Fletcher

Kampf um das Erbe

Kriminalroman

J. S. Fletcher

Kampf um das Erbe

Kriminalroman

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
Übersetzung: Hans Barbeck
EV: Delta-Verlag, Berlin, 1930 (233 S.)
1. Auflage, ISBN 978-3-962815-58-5

null-papier.de/639

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Zu­sam­men­fas­sung

1. Ka­pi­tel – Ver­misst.

2. Ka­pi­tel – Mord?

3. Ka­pi­tel – Bar­thor­pe über­nimmt die Lei­tung.

4. Ka­pi­tel – Der Be­richt­er­stat­ter.

5. Ka­pi­tel – Das Glas und das Brot.

6. Ka­pi­tel – Der Chauf­feur.

7. Ka­pi­tel – Das Te­sta­ment.

8. Ka­pi­tel – Der zwei­te Zeu­ge.

9. Ka­pi­tel – Ein Di­plo­mat.

10. Ka­pi­tel – Mr. Ben­ja­min Half­pen­ny.

11. Ka­pi­tel – Schat­ten.

12. Ka­pi­tel – Zehn Pro­zent.

13. Ka­pi­tel – Ver­tagt.

14. Ka­pi­tel – Das schot­ti­sche Ur­teil.

15. Ka­pi­tel – Jun­ge Kräf­te.

16. Ka­pi­tel – Na­men­lo­se Furcht.

17. Ka­pi­tel – Das Ge­setz.

18. Ka­pi­tel – Der Ro­sen­holz­kas­ten.

19. Ka­pi­tel – Das Netz zieht sich zu­sam­men.

20. Ka­pi­tel – Der Dia­mant­ring.

21. Ka­pi­tel – Die ver­las­se­ne Woh­nung.

22. Ka­pi­tel – Ja und Nein.

23. Ka­pi­tel – Eine Fäl­schung.

24. Ka­pi­tel – Hand­schel­len.

25. Ka­pi­tel – Un­ter Mor­dan­kla­ge.

26. Ka­pi­tel – Im Un­ter­su­chungs­ge­fäng­nis.

27. Ka­pi­tel – Der letz­te Scheck.

28. Ka­pi­tel – Ho­tel Ra­ven­na.

29. Ka­pi­tel – Der Zet­tel in dem Ge­bet­buch.

30. Ka­pi­tel – Die frem­de Dame.

31. Ka­pi­tel – Das un­ter­bro­che­ne Abendes­sen.

32. Ka­pi­tel – Ein Yorks­hi­re-Sprich­wort.

33. Ka­pi­tel – Burchill tritt auf.

34. Ka­pi­tel – In­spek­tor Da­vid­ges Trumpf­kar­te.

35. Ka­pi­tel – Der Haft­be­fehl.

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Zusammenfassung

Als der wohl­ha­ben­de Bau­un­ter­neh­mer Ja­cob He­ra­path tot in sei­nem Büro ge­fun­den wird, mit ei­nem Re­vol­ver an sei­ner Sei­te und ei­ner Schuss­wun­de im Kopf, wird der Zeit­punkt sei­nes To­des auf Mit­ter­nacht fest­ge­legt. Be­mer­kens­wert nur, dass sein Fah­rer ihn eine Stun­de nach Mit­ter­nacht noch le­bend ge­se­hen ha­ben will.

Ein al­ter Fa­mi­li­ens­kan­dal, ein zwie­lich­ti­ger ehe­ma­li­ger Se­kre­tär und ein an­geb­lich ge­fälsch­tes Te­sta­ment bil­den die Grund­la­ge für die­ses mör­de­ri­sche Puzz­le um das He­ra­path Erbe.

1. Kapitel

Vermisst.

Mr. Sel­wood war nun seit drei Wo­chen Se­kre­tär bei dem be­kann­ten Par­la­men­ta­ri­er Ja­cob He­ra­path, der als Jung­ge­sel­le eins der vor­nehms­ten Häu­ser am Port­man Squa­re be­wohn­te. Mr. He­ra­path war be­kannt we­gen sei­ner Ar­beit in der so­zia­len Für­sor­ge. Er hat­te eine große Zahl mo­der­ner Wohn­häu­ser er­baut, die in je­der Be­zie­hung als Vor­bild die­nen konn­ten, was Lüf­tung, Hei­zung, Be­leuch­tung und alle sons­ti­gen sa­ni­tär­en Ein­rich­tun­gen be­traf. Als Sel­wood sei­ne Stel­lung an­trat, er­hielt er von sei­nem Chef die An­wei­sung, eine ge­eig­ne­te klei­ne Woh­nung in der Up­per Sey­mour Street zu be­zie­hen, die in der Nähe lag, da­mit er auch in der Nacht leicht zu er­rei­chen war. Ja­cob He­ra­path hat­te manch­mal ge­ra­de mit­ten in der Nacht ge­nia­le Ein­fäl­le, und er ge­hör­te zu den ak­ti­ven, ener­gi­schen Män­nern, die es lie­ben, sol­che Ein­fäl­le so­fort in al­len De­tails durch­zu­ar­bei­ten. Sel­wood war je­doch wäh­rend der ver­gan­ge­nen drei Wo­chen noch nie­mals aus sei­ner Nachtru­he ge­stört wor­den. Aber plötz­lich klin­gel­te ei­nes Mor­gens um halb acht die Te­le­fonglo­cke, als er ge­ra­de auf­ste­hen woll­te. Er nahm den Hö­rer vom Ap­pa­rat, der di­rekt ne­ben sei­nem Bett stand. Es mel­de­te sich je­doch nicht He­ra­path, son­dern der Haus­meis­ter Kit­te­ridge, des­sen Stim­me ängst­lich klang.

Plötz­lich wur­de er un­ter­bro­chen; es schi­en je­mand dicht ne­ben ihm zu ste­hen. Der An­ruf war et­was ver­wirrt, aber Sel­wood ver­stand doch so­viel, dass er so­fort zur Woh­nung her­über­kom­men soll­te. In größ­ter Eile klei­de­te er sich an und eil­te nach Port­man Squa­re. Als er dort an­kam, fand er den Haus­meis­ter und den Chauf­feur Moun­tain, der sich in al­ler Eile an­ge­klei­det hat­te, und den man al­lem An­schein nach auch eben aus dem Bett ge­holt hat­te.

»Was ist denn los, Kit­te­ridge?« frag­te Sel­wood. »Ist Mr. He­ra­path krank ge­wor­den?«

Der Haus­meis­ter schüt­tel­te den Kopf und zeig­te mit dem Dau­men nach der of­fe­nen Tür des Ar­beits­zim­mers.

»Wir wis­sen über­haupt nicht, wo er ist. Er hat nicht hier ge­schla­fen und ist auch nicht im Hau­se.«

»Vi­el­leicht ist er ges­tern gar nicht heim­ge­kom­men«, mein­te Sel­wood. »Er kann doch in sei­nem Klub oder auch in ei­nem Ho­tel ge­schla­fen ha­ben.«

Der Chauf­feur, ein klei­ner Mann mit schar­fem Blick, schüt­tel­te den Kopf.

»Nein, ich habe ihn doch selbst um eins hier­her ge­fah­ren, und ich habe ge­se­hen, wie er die Tür auf­schloss und hin­ein­ging. Si­cher ist er nach Hau­se ge­kom­men!«

»Das stimmt«, pflich­te­te Kit­te­ridge bei. »Kom­men Sie mit, Mr. Sel­wood.« Er führ­te den Se­kre­tär in das Ar­beits­zim­mer und zeig­te auf einen klei­nen Ser­vier­wa­gen, der ne­ben dem großen Schreib­tisch stand. »Se­hen Sie das? Je­den Abend stel­le ich ihm dort eine Fla­sche Whis­ky, einen Si­phon mit So­da­was­ser und ei­ni­ge But­ter­bro­te und Keks hin. Er hat aus dem Gla­se ge­trun­ken, und er hat auch von dem But­ter­brot ge­ges­sen. Also muss er nach Hau­se ge­kom­men sein. Aber er ist nicht mehr hier. Der Kam­mer­die­ner Charles­worth, der ihn je­den Mor­gen Vier­tel nach sie­ben weckt, hat ihn nicht im Schlaf­zim­mer ge­fun­den.«

Sel­wood sah sich in dem Raum um. Die Vor­hän­ge wa­ren noch nicht auf­ge­zo­gen; die elek­tri­sche Kro­ne brann­te und ließ al­les in ih­rem kal­ten, kla­ren Licht her­vor­tre­ten. Er schau­te auf den Schreib­tisch, ob Mr. He­ra­path nicht einen Brief zu­rück­ge­las­sen hat­te, aber er fand nichts.

»Aber es liegt doch kein Grund vor, sich zu ängs­ti­gen, Kit­te­ridge«, mein­te er. »Mr. He­ra­path war viel­leicht ge­zwun­gen, heu­te Mor­gen ganz früh mit dem Zuge weg­zu­fah­ren.«

»Ent­schul­di­gen Sie, Mr. Sel­wood, aber das ist wohl ziem­lich aus­ge­schlos­sen. Ich hat­te selbst schon dar­an ge­dacht, aber wenn er tat­säch­lich einen Nacht­zug be­nüt­zen woll­te, hät­te er sei­nen Rei­se­man­tel, sei­nen Kof­fer und auch eine De­cke mit­ge­nom­men. Aber er hat nichts von al­le­dem an­ge­rührt. Ich bin nun schon sie­ben Jah­re hier im Hau­se und ken­ne sei­ne Ge­wohn­hei­ten ge­nau. Er hät­te mich und den Kam­mer­die­ner ge­ru­fen, da­mit wir für ihn ge­packt hät­ten. Nein, er ist be­stimmt nach Hau­se ge­kom­men und wie­der fort­ge­gan­gen, das ist das Un­ge­wöhn­li­che. So­lan­ge ich hier im Hau­se bin, ist das noch nicht pas­siert.«

»Sie ha­ben also Mr. He­ra­path um ein Uhr nach Hau­se ge­fah­ren?« wand­te sich Sel­wood an den Chauf­feur. »War er al­lein?«

»Es war nie­mand bei ihm«, ent­geg­ne­te Moun­tain. »Am bes­ten er­zäh­le ich Ih­nen al­les, was ich weiß. Gera­de als Sie ka­men, sprach ich mit dem Haus­meis­ter dar­über. Ich hol­te Mr. He­ra­path ges­tern Abend um Vier­tel nach elf vom Par­la­ment ab. Ich hielt an der ge­wöhn­li­chen Stel­le, und er stieg ge­ra­de ein, als die Uhr schlug. ›Fah­ren Sie mich zu dem Büro in der Sied­lung, ich habe dort zu tun‹, sag­te er. Ich brach­te ihn also nach Ken­sing­ton, und beim Aus­s­tei­gen mein­te er, dass er wohl in ei­ner Drei­vier­tel­stun­de fer­tig wäre. Ich war­te­te also auf mei­nem Sitz, aber es dau­er­te eine gute Stun­de. Schließ­lich kam er wie­der und sag­te nur ›Nach Hau­se‹. Und dann habe ich ihn hier­her ge­fah­ren. Als er aus­stieg, schlug es ein Uhr. Ich sag­te noch gute Nacht zu ihm und sah, wie er die Trep­pe hin­auf­stieg und auf­schloss, be­vor ich zur Ga­ra­ge fuhr. Das ist al­les, was ich weiß.«

Sel­wood wand­te sich an den Haus­meis­ter.

»Zu der Zeit war wohl nie­mand mehr auf?«

»Nein, Mr. He­ra­path sieht strikt dar­auf, dass die Haus­ord­nung ein­ge­hal­ten wird, und dass alle Leu­te um halb zwölf zur Ruhe ge­hen. Er dul­det nicht, dass je­mand von der Die­ner­schaft auf ihn war­tet. Des­halb steht je­den Abend noch ein klei­ner Im­biss im Ar­beits­zim­mer für ihn be­reit. Ge­wöhn­lich kommt er ge­gen zwölf Uhr nach Hau­se.«

»Nun ja, viel­leicht war aber doch noch je­mand wach. Ha­ben Sie schon ge­fragt, ob je­mand ge­hört hat, dass Mr. He­ra­path in der Woh­nung um­her­ging und das Haus nach­her wie­der ver­ließ?«

»Ich wer­de da­nach fra­gen«, ent­geg­ne­te Kit­te­ridge. »Aber bis jetzt hat mir noch nie­mand et­was ge­sagt, ob­wohl die Dienst­bo­ten schon wis­sen, dass Mr. He­ra­path nicht im Hau­se ist.«

In die­sem Au­gen­blick öff­ne­te sich die Tür, und eine jun­ge Dame trat her­ein.

»Ha­ben Sie Miss Wyn­ne schon ver­stän­digt?« frag­te Sel­wood den Haus­meis­ter lei­se, als er sie sah.

»Sie hat es si­cher von ih­rem Mäd­chen ge­hört. Alle spre­chen dar­über. Ich woll­te sie nicht stö­ren, be­vor sie auf­ge­stan­den war.«

Miss Wyn­ne war die Nich­te von Mr. He­ra­path, die Toch­ter sei­ner ver­stor­be­nen Schwes­ter, die er sehr ge­liebt hat­te. Er hat­te das Mäd­chen in sein Haus ge­nom­men, als sie noch ein Kind war. Aber nun zähl­te sie schon zwei­und­zwan­zig, war hübsch und hat­te cha­rak­ter­vol­le, schö­ne Züge und klu­ge Au­gen.

Sel­wood trat nä­her, um sie zu be­grü­ßen.

»Was hat dies al­les zu be­deu­ten?« frag­te sie ru­hig. »So­viel ich höre, ist mein On­kel nicht im Hau­se? Aber des­halb braucht man doch nicht den Kopf zu ver­lie­ren, Kit­te­ridge. Er hat­te si­cher et­was vor, wenn er fort­ging. Vor al­lem möch­te ich nicht ha­ben, dass die Dienst­bo­ten wei­ter dar­über spre­chen. Weiß Mr. Ter­ti­us da­von?«

»Der alte Herr ist noch nicht nach un­ten ge­kom­men.«

Auf ih­ren Wink ver­lie­ßen der Haus­meis­ter und der Chauf­feur das Zim­mer.

»Was hal­ten Sie da­von?« frag­te sie Sel­wood. Ihre Stim­me klang plötz­lich ängst­lich. »Sie kön­nen es mir auch nicht er­klä­ren?«

»Lei­der nicht. Ich ken­ne Mr. He­ra­path und sei­ne Ge­wohn­hei­ten noch nicht gut ge­nug, um mir ein Ur­teil bil­den zu kön­nen.«

»Er hat das frü­her nie ge­tan. Ich weiß zwar, dass er manch­mal mit­ten in der Nacht auf­steht und in sein Ar­beits­zim­mer geht, aber nie­mals ist er zu so spä­ter Stun­de aus­ge­gan­gen.«

Sel­wood sah nach der Tür, und sie folg­te sei­nen Bli­cken.

Ein äl­te­rer, schmäch­ti­ger Herr von klei­ner Ge­stalt war ru­hig ins Zim­mer ge­tre­ten. Er hat­te einen grau­en Bart und fei­ne Ge­sichts­zü­ge; sei­ne Au­gen wa­ren von ei­ner dunklen Bril­le be­schat­tet. Er be­weg­te sich nur lei­se und zu­rück­hal­tend und mach­te einen et­was scheu­en Ein­druck. Sel­wood be­merk­te, dass Lip­pen und Hän­de des Man­nes leicht zit­ter­ten, als er nä­her­trat.

»Mr. Ter­ti­us, wis­sen Sie et­was von On­kel Ja­cob?« frag­te Peg­gie Wyn­ne schnell. »Vo­ri­ge Nacht ist er um ein Uhr nach Hau­se ge­kom­men, und jetzt ist er ver­schwun­den. Hat er Ih­nen viel­leicht et­was ge­sagt?«

Mr. Ter­ti­us schüt­tel­te den Kopf.

»Nein, mir hat er nichts ge­sagt. Sie mei­nen, er ist ver­schwun­den?!«

Er neig­te sich über das Ta­blett, das er auf­merk­sam ei­ni­ge Zeit lang be­trach­te­te.

»Das ist merk­wür­dig«, sag­te er zu Sel­wood, als er wie­der auf­schau­te. »Und doch tut er manch­mal Din­ge, ohne vor­her je­mand et­was zu sa­gen. Ha­ben Sie schon an das Büro in der Sied­lung te­le­fo­niert? Vi­el­leicht ist er dort­hin ge­gan­gen?«

Peg­gie, die sich an den Schreib­tisch ge­setzt hat­te, sprang so­fort auf.

»Das hät­ten wir schon längst tun sol­len! Te­le­fo­nie­ren Sie doch bit­te, Mr. Sel­wood. Wahr­schein­lich er­fah­ren wir dort et­was.«

Sel­wood und Miss Wyn­ne ver­lie­ßen das Zim­mer zu­sam­men. Als sie ge­gan­gen wa­ren, un­ter­such­te Mr. Ter­ti­us das Ta­blett ge­nau. Vor­sich­tig nahm er das But­ter­brot zwi­schen die Spit­zen sei­ner Fin­ger und hielt es nahe ans Licht. Nach­dem er es ein­ge­hend be­trach­tet hat­te, nahm er ein Ku­vert aus dem Pa­pier­hal­ter und leg­te das Brot vor­sich­tig hin­ein. Dann ver­ließ er den Raum schnell und ging zu sei­nem ei­ge­nen Zim­mer. Nach ei­ni­gen Mi­nu­ten kam er wie­der her­un­ter, und gleich nach ihm tra­ten Miss Wyn­ne und Sel­wood ein.

»Wir sol­len so­fort zur Sied­lung hin­aus­kom­men«, sag­te der Se­kre­tär ernst. »Der Ver­wal­ter woll­te uns eben an­läu­ten, als ich ihn an­rief. Es ist ir­gend et­was nicht in Ord­nung.«

2. Kapitel

Mord?

Es fiel Sel­wood spä­ter auf, dass we­der er noch Mr. Ter­ti­us sich zu­erst zum Han­deln auf­raff­ten, son­dern dass Peg­gie dem Haus­meis­ter kla­re An­ord­nun­gen gab.

»Das Auto soll so­fort vor­fah­ren, Kit­te­ridge. Brin­gen Sie rasch et­was Kaf­fee, früh­stücken kön­nen wir erst spä­ter.«

»Sie wol­len doch nicht etwa selbst hin­fah­ren?« frag­te Sel­wood.

»Aber na­tür­lich! Glau­ben Sie, ich wür­de hier war­ten, bis ich Nach­richt be­kom­me? Wir fah­ren zu­sam­men hin, und bis der Wa­gen kommt, wol­len wir schnell noch eine Tas­se Kaf­fee trin­ken.«

Sie folg­ten ihr ins Früh­stücks­zim­mer und tran­ken schweig­sam. Als sie nach­her in die Hal­le tra­ten, um sich für die Fahrt an­zu­zie­hen, wand­te sich Mr. Ter­ti­us an Sel­wood.

»Was ha­ben Sie denn am Te­le­fon ge­hört?«

»Nichts Be­stimm­tes. Ich habe nur so viel ver­stan­den, dass sich ir­gend et­was Erns­tes er­eig­net hat. Wir sol­len so­fort hin­kom­men.«

Mr. Ter­ti­us frag­te nicht wei­ter und blieb nach­denk­lich und zer­streut, bis sie nach Ken­sing­ton ka­men. Auch Peg­gie sag­te nichts wäh­rend der Fahrt. Sel­wood grü­bel­te nach, was wohl ge­sche­hen sein moch­te, und wie sich die­ses Ge­heim­nis lö­sen wür­de. Mr. Ter­ti­us, der ne­ben ihm saß, war ihm auch ein Rät­sel. Wäh­rend sei­ner kur­z­en Dienst­zeit hat­te er noch nicht er­fah­ren, wer die­ser Mann ei­gent­lich war, und in wel­chen Be­zie­hun­gen er zu dem Haus­herrn stand. Er wuss­te nur, dass er ein Haus­ge­nos­se von Mr. He­ra­path war. In ge­wis­ser Wei­se schi­en er doch nicht ganz zur Fa­mi­lie zu ge­hö­ren, denn er kam sel­ten zu den Mahl­zei­ten, und man sah ihn auch sonst nicht häu­fig im Hau­se. Sel­wood hat­te ihn nur ge­le­gent­lich im Ar­beits­zim­mer von Mr. He­ra­path oder im Wohn­zim­mer von Miss Peg­gie Wyn­ne ge­trof­fen. Mr. Ter­ti­us be­wohn­te ei­ni­ge Räu­me in dem obe­ren Stock­werk und einen Raum im Erd­ge­schoss. Nur ein­mal hat­te Sel­wood einen Blick in die­ses un­te­re Zim­mer tun kön­nen. Es war mit Bü­cher­re­ga­len ge­füllt, und auf ei­nem großen Tisch la­gen vie­le Do­ku­men­te und Pa­pie­re her­um. Er hat­te da­mals den Ein­druck ge­habt, dass Mr. Ter­ti­us ein Son­der­ling sei, der Bü­cher lieb­te und Al­ter­tums­kun­de trieb. Aus der Art, wie Mr. He­ra­path und Miss Peg­gie Wyn­ne ihn an­re­de­ten, schloss Sel­wood, dass er nicht mit den bei­den ver­wandt war. Er wur­de von al­len, auch von den Dienst­bo­ten, Mr. Ter­ti­us ge­nannt, und Sel­wood wuss­te nicht, ob das sein Vor- oder Fa­mi­li­enna­me war.

Das Auto hielt nach ei­ner schnel­len Fahrt vor ei­nem großen, nüch­ter­nen Häu­ser­block, dem nichts Ge­heim­nis­vol­les an­haf­te­te. Die großen Sied­lungs­bau­ten des Mr. He­ra­path wa­ren in ganz Lon­don be­kannt und hat­ten be­rech­tig­tes Auf­se­hen her­vor­ge­ru­fen, als ihr Grün­der sie er­rich­te­te.

Ja­cob He­ra­path war ein Grund­stücks­mak­ler und hat­te schon von je­her den Wunsch ge­habt, mo­der­ne Woh­nun­gen zu bau­en, die in je­der Be­zie­hung vor­bild­lich sein soll­ten. Er woll­te den Fach­leu­ten und Bau­meis­tern zei­gen, was man mit gu­tem Wil­len er­rei­chen konn­te. Als er schließ­lich ein großes Ge­län­de in Ken­sing­ton käuf­lich er­wer­ben konn­te, mach­te er sich so­fort an die Aus­füh­rung sei­nes Plans. So wa­ren die­se großen Häu­ser­blö­cke ent­stan­den, die mit al­lem mo­der­nem Kom­fort ver­se­hen wa­ren. Sie be­deu­te­ten eine große Ein­nah­me­quel­le für Mr. He­ra­path, und Sel­wood, der die Höhe der Mie­tein­gän­ge kann­te, dach­te dar­über nach, an wen die­ses Ver­mö­gen wohl fal­len wür­de, wenn Mr. He­ra­path wirk­lich et­was pas­siert sein soll­te.

Als der Wa­gen an­hielt, be­merk­te Sel­wood ei­ni­ge Po­li­zei­be­am­te in der of­fe­nen Tür. Ein In­spek­tor trat vor und sah un­si­cher auf Peg­gie Wyn­ne. Sel­wood stieg schnell aus und ging auf ihn zu.

»Ich bin der Se­kre­tär von Mr. He­ra­path. Mein Name ist Sel­wood«, stell­te er sich vor und zog den Be­am­ten et­was zur Sei­te, so­dass die an­de­ren ihre Un­ter­hal­tung nicht hö­ren konn­ten. »Ist et­was Erns­tes ge­sche­hen? Sa­gen Sie es mir bit­te, be­vor Miss Wyn­ne da­von er­fährt. Mr. He­ra­path ist doch nicht etwa – tot?«

Der In­spek­tor sah ihn be­deu­tungs­voll an.

»Er wur­de von dem Haus­ver­wal­ter in sei­nem Pri­vat­bü­ro tot auf­ge­fun­den. Es ist ent­we­der Mord oder Selbst­mord – das ist klar!«

Sel­wood ging mit Mr. Ter­ti­us und Miss Wyn­ne in den War­te­raum.

»Der In­spek­tor hat mit Ih­nen ge­spro­chen – Sie wis­sen al­les – sa­gen Sie es mir gleich«, wand­te sie sich an ihn. »Ich kann al­les hö­ren, ich habe star­ke Ner­ven. Ist er tot?«

»Ja.«

Miss Wyn­ne senk­te den Kopf. Als sie ihn wie­der hob, war sie zwar blass, zeig­te aber kei­ne Er­re­gung. Auch Mr. Ter­ti­us war ru­hig und ge­fasst.

»Wie starb er?« frag­te er. »War es ein Herz­schlag?«

Sel­wood zö­ger­te.

»Ich fürch­te, es ist eine trau­ri­ge Bot­schaft für Sie«, er­wi­der­te er mit ei­nem Blick auf den In­spek­tor, der eben ein­trat. »Die Po­li­zei ist der Mei­nung, dass ent­we­der Mord oder Selbst­mord vor­liegt.«

Peg­gie wand­te sich kurz an den Be­am­ten. Eine plötz­li­che Röte stieg in ihre Wan­gen.

»Nein, nie und nim­mer kann es Selbst­mord ge­we­sen sein! Mord – das wäre mög­lich. Ver­heim­li­chen Sie mir nichts – sa­gen Sie mir bit­te al­les, was Sie wis­sen.«

Der In­spek­tor schloss die Tür und kam nä­her.

»Un­se­re Sta­ti­on wur­de fünf Mi­nu­ten nach acht von dem Haus­ver­wal­ter hier an­ge­ru­fen. Er sag­te uns, dass Mr. He­ra­path tot in sei­nem Ar­beits­zim­mer läge, und bat uns, so­fort zu kom­men. Ich mach­te mich gleich mit ei­nem an­de­ren Be­am­ten auf, und der Po­li­zei­arzt folg­te ei­ni­ge Mi­nu­ten spä­ter. Wir fan­den Mr. He­ra­path tot auf dem Bo­den. Dicht ne­ben ihm lag –«

Der Be­am­te brach ab und sah auf Peg­gie. »Die De­tails sind nicht sehr an­ge­nehm – soll ich nicht lie­ber dar­über schwei­gen?«

»Nein«, er­wi­der­te sie ent­schie­den. »Sa­gen Sie nur ru­hig al­les, was Sie ge­fun­den ha­ben.«

»Ein Re­vol­ver lag ne­ben sei­ner rech­ten Hand. Eine Pa­tro­ne war ab­ge­feu­ert, und Mr. He­ra­path hat­te eine Schuss­wun­de in der rech­ten Schlä­fe. Of­fen­sicht­lich war der Schuss aus al­ler­nächs­ter Nähe ab­ge­ge­ben wor­den. Der Arzt sag­te, dass der Tod so­fort ein­ge­tre­ten sei.«

Peg­gie hat­te voll­stän­dig ge­fasst zu­ge­hört und mach­te un­will­kür­lich ei­ni­ge Schrit­te nach der Tür zu.

»Wir wol­len zu ihm ge­hen«, sag­te sie. »Er liegt doch wahr­schein­lich noch dort im Zim­mer.«

Aber Sel­wood trat ihr ent­ge­gen.

»Nein, tun Sie das nicht«, bat er sie.

»Mr. Sel­wood hat recht«, pflich­te­te der In­spek­tor bei. »Der Arzt ist noch dort. Vi­el­leicht geht es spä­ter, wenn die Un­ter­su­chung be­en­det ist. War­ten Sie bit­te so­lan­ge hier. Die Her­ren kön­nen mich be­glei­ten.«

Peg­gie zö­ger­te einen Au­gen­blick, dann wand­te sie sich um und setz­te sich in einen Ses­sel.

»Nun gut.«

Sel­wood dreh­te sich an der Tür noch ein­mal zu ihr um.

»Ver­spre­chen Sie, uns nicht zu fol­gen?«

»Ich blei­be hier. Aber einen Au­gen­blick noch. Wir müss­ten doch ei­gent­lich mei­nen Vet­ter Bar­thor­pe –«

»Wir ha­ben schon nach Mr. He­ra­path ge­schickt«, un­ter­brach sie der In­spek­tor. »Der Ver­wal­ter hat auch an ihn te­le­fo­niert.«

Sie gin­gen den Gang ent­lang und er­reich­ten das Pri­vat­bü­ro von Mr. Ja­cob He­ra­path, das nur er selbst und sein Se­kre­tär be­nütz­ten. Nie­mand durf­te ihn dort stö­ren, wenn er es nicht aus­drück­lich wünsch­te. Aber nun wa­ren vie­le Frem­de hier ein­ge­drun­gen, und He­ra­path lag stumm in ih­rer Mit­te. Sie hat­ten ihn auf einen Di­wan ge­legt. Sein Ge­sichts­aus­druck war ru­hig. Sie konn­ten kei­ne Spur von plötz­li­cher Furcht oder Er­re­gung in sei­nen Zü­gen be­mer­ken.

»Wenn Sie ein­mal her­se­hen wol­len, mei­ne Her­ren«, sag­te der In­spek­tor und führ­te die bei­den zu dem Tep­pich. »Al­les ist noch so, wie wir es ge­fun­den ha­ben; es ist nichts ge­än­dert wor­den. Er lag an die­ser Stel­le, hier der Kopf und dort die Füße. Of­fen­bar war er seit­wärts vom Stuhl her­un­ter­ge­glit­ten und der Län­ge nach auf den Tep­pich ge­fal­len. Der Re­vol­ver lag dort – nur ei­ni­ge Zen­ti­me­ter von sei­ner rech­ten Hand ent­fernt. Hier ist die Waf­fe.«

Er zog eine Schub­la­de des Schreib­ti­sches auf und nahm eine Pis­to­le her­aus, mit der er sehr sorg­fäl­tig um­ging, als er sie Sel­wood und Ter­ti­us zeig­te.

»Ist sie Ih­nen be­kannt? Ich mei­ne, er­ken­nen Sie die Pis­to­le als Ei­gen­tum von Mr. He­ra­path wie­der? – Nein? – Nun, er konn­te sie ja auch in sei­nem Schreib­tisch oder Geld­schrank auf­be­wahrt ha­ben, ohne dass je­mand et­was da­von wuss­te. Wir wer­den den gan­zen Raum sorg­fäl­tig durch­su­chen, viel­leicht fin­den wir noch wei­te­re Pa­tro­nen oder Zu­be­hör­tei­le. Das wäre also der Tat­be­stand. Dem Au­gen­schein nach und nach Aus­sa­ge des Arz­tes ist der Schuss aus nächs­ter Nähe ab­ge­feu­ert wor­den.«

Mr. Ter­ti­us, der auf­merk­sam zu­ge­hört hat­te, wand­te sich an den Dok­tor.

»Glau­ben Sie denn, dass Mr. He­ra­path die Waf­fe ge­gen sich selbst ge­rich­tet hat?«

»Nach der Lage des Kör­pers und der Schuss­waf­fe ist das sehr wahr­schein­lich.«

»Es könn­te aber auch an­ders ge­we­sen sein«, mein­te Mr. Ter­ti­us lei­se.

Der Po­li­zei­arzt zuck­te die Schul­tern.

»Es wäre na­tür­lich auch mög­lich, dass ein kühl be­rech­nen­der Mör­der die Waf­fe ne­ben ihn ge­legt hat.«

»Ja, das ist auch mei­ne Mei­nung«, ver­si­cher­te Mr. Ter­ti­us. Er blieb einen Au­gen­blick schwei­gend dort ste­hen und starr­te auf den Tep­pich, dann wand­te er sich wie­der zur Tür. »Wie lan­ge war Mr. He­ra­path wohl schon tot, als Sie ka­men?«

»Seit acht Stun­den«, ent­geg­ne­te der Dok­tor prompt.

»Und wann sind Sie her­ge­kom­men?«

»Vier­tel nach acht. Ich möch­te sa­gen, dass er un­ge­fähr um Mit­ter­nacht starb.«

»Um Mit­ter­nacht!« wie­der­hol­te Ter­ti­us lei­se. »Also –«

Be­vor er wei­ter­spre­chen konn­te, öff­ne­te ein Po­li­zist, der in dem Gang Wa­che ge­hal­ten hat­te, die Tür und mel­de­te dem In­spek­tor, dass Mr. Bar­thor­pe He­ra­path ge­kom­men sei.

3. Kapitel

Barthorpe übernimmt die Leitung.

Der jun­ge Mann mach­te einen ge­fass­ten und ru­hi­gen Ein­druck, als er ein­trat. Es fiel al­len auf, dass er, ab­ge­se­hen von dem Al­ters­un­ter­schied, so­wohl in Ge­stalt als auch im Aus­se­hen dem To­ten auf­fal­lend glich. Bei­de wa­ren groß, schlank und wohl­pro­por­tio­niert. Ja­cob He­ra­path war al­ler­dings er­graut, wäh­rend sein Nef­fe, der drei­ßig bis fünf­und­drei­ßig Jah­re zäh­len moch­te, dunkles Haar hat­te.

Bar­thor­pe beug­te sich über den To­ten und be­trach­te­te ihn lan­ge. Sein Ge­sicht blieb aber un­durch­dring­lich und zeig­te kei­ne Er­grif­fen­heit, als er sich wie­der auf­rich­te­te. Er be­grüß­te Mr. Ter­ti­us und Sel­wood nur durch ein leich­tes Kopf­ni­cken und wand­te sich dann an die Po­li­zei­be­am­ten.

»Er­zäh­len Sie mir al­les, was Sie wis­sen.« Sein Ton klang bei­na­he be­feh­lend.

Nach­dem ihm der In­spek­tor al­les be­rich­tet hat­te, wand­te sich Bar­thor­pe an Sel­wood. Mr. Ter­ti­us schi­en er ab­sicht­lich zu über­se­hen.

»Was ist denn in der Woh­nung am Port­man Squa­re be­kannt? Sa­gen Sie mir das bit­te kurz.«

Sel­wood hat­te Bar­thor­pe erst zwei­mal ge­se­hen, emp­fand aber eine in­stink­ti­ve Ab­nei­gung ge­gen ihn. So knapp als mög­lich er­zähl­te er ihm, was vor­ge­gan­gen war.

»Dann ist also mei­ne Cou­si­ne hier im Hau­se?«

»Ja, Miss Wyn­ne be­fin­det sich in dem großen War­te­zim­mer am an­de­ren Ende des Gan­ges.«

»Ich wer­de gleich zu ihr ge­hen. Nun muss noch Ver­schie­de­nes an­ge­ord­net wer­den, In­spek­tor. Na­tür­lich wird eine To­ten­schau statt­fin­den, Sie müs­sen also so­fort den Vor­sit­zen­den der Mord­kom­mis­si­on be­nach­rich­ti­gen. Dann muss die Lei­che fort­ge­bracht wer­den – bit­te über­neh­men Sie das auch. Be­vor Sie aber ge­hen, wäre es mir lieb, wenn Sie alle An­halts­punk­te mit mir sam­meln wür­den, de­ren wir hab­haft wer­den kön­nen. Sind sei­ne Ta­schen schon durch­sucht?«

Der In­spek­tor zog eine Schub­la­de des Schreib­ti­sches auf und zeig­te auf ver­schie­de­ne Ge­gen­stän­de, die dar­in la­gen.

»Al­les, was wir ge­fun­den ha­ben, ist hier. Es ist nicht viel. Eine Ta­schen­uhr und Ket­te, ein Geld­beu­tel, lo­ses Geld, eine Brief­ta­sche, ein Zi­gar­re­ne­tui. Sei­ne Schlüs­sel ha­ben wir nicht ent­de­cken kön­nen. Er hat­te nicht ein­mal sei­nen Haus­schlüs­sel bei sich. Und doch muss er selbst die Haus­tür hier auf­ge­schlos­sen ha­ben, und er brauch­te doch auch einen Schlüs­sel, um hier her­ein­zu­kom­men.«

»Das ist merk­wür­dig«, sag­te Bar­thor­pe nach ei­ner Pau­se be­stürzt und neig­te sich über die of­fe­ne Schub­la­de. »Na­tür­lich müs­sen wir die­sem Um­stand ge­naue Be­ach­tung schen­ken. Schlie­ßen Sie jetzt das Fach ab, und neh­men Sie den Schlüs­sel selbst in Ver­wah­rung. Spä­ter wol­len wir die Ge­gen­stän­de noch ein­mal ge­nau­er be­trach­ten. Nun müs­sen wir aber wei­te­re Nach­for­schun­gen an­stel­len. Mr. Sel­wood, te­le­fo­nie­ren Sie doch bit­te ein­mal nach Port­man Squa­re, dass der Haus­meis­ter und der Chauf­feur so­fort her­kom­men sol­len. In­spek­tor, wol­len Sie in der Zwi­schen­zeit die An­ord­nun­gen tref­fen, über die wir eben spra­chen? Der Haus­ver­wal­ter muss auch ge­ru­fen wer­den. Ich will jetzt mei­ne Cou­si­ne be­grü­ßen.«

Mit die­sen Wor­ten ver­ließ er den Raum und ging mit ener­gi­schen Schrit­ten zu dem War­te­zim­mer hin­über. Sel­wood folg­te ihm den Gang ent­lang und sah, dass er hin­ein­ging und die Tür hin­ter sich schloss.

Sel­wood schalt sich selbst einen Nar­ren, weil er Un­wil­len dar­über emp­fand, dass Bar­thor­pe Peg­gie Wyn­nes Vet­ter war und nun wahr­schein­lich ih­ren Be­schüt­zer spie­len wür­de. In den ver­gan­ge­nen drei Wo­chen hat­te er Peg­gie oft ge­nug ge­se­hen und war im bes­ten Be­griff, sich in sie zu ver­lie­ben, ob­wohl er sich selbst sag­te, dass er nicht dar­an den­ken durf­te, eine der reichs­ten Er­bin­nen Lon­d­ons zu hei­ra­ten.

Als der Haus­meis­ter und der Chauf­feur nach kur­z­er Zeit an­ka­men, er­zähl­te ih­nen Sel­wood, was ge­sche­hen war. Gleich dar­auf trat auch Bar­thor­pe He­ra­path aus dem War­te­zim­mer und wink­te dem In­spek­tor, der sich lei­se mit dem De­tek­tiv un­ter­hielt.

»Kom­men Sie bit­te mit Ihrem As­sis­ten­ten her­ein. Dann brau­che ich noch den Haus­ver­wal­ter, Kit­te­ridge und Moun­tain. Darf ich Sie auch bit­ten, Mr. Sel­wood?«

Er blieb an der Tür ste­hen, wäh­rend die an­de­ren hin­ein­gin­gen. Peg­gie saß noch in ih­rem Ses­sel. Ter­ti­us woll­te Sel­wood fol­gen, aber Bar­thor­pe ver­trat ihm den Weg.

»Dies ist eine Pri­vat­un­ter­su­chung, die ich per­sön­lich an­stel­le, Mr. Ter­ti­us«, sag­te er mit ei­nem be­zeich­nen­den Blick.

Sel­wood wand­te sich er­staunt um. Er sah, wie Mr. Ter­ti­us er­rö­te­te, ste­hen­blieb und Bar­thor­pe ver­wirrt an­sah.

»Wün­schen Sie nicht, dass ich zu­ge­gen bin?« frag­te er sto­ckend.

»Of­fen ge­stan­den nicht«, ent­geg­ne­te Bar­thor­pe mit fast be­lei­di­gen­der Of­fen­heit. »Spä­ter wird noch eine To­ten­schau statt­fin­den, dort­hin kön­nen Sie ja ge­hen. Das kann ich Ih­nen nicht ver­bie­ten.«

Mr. Ter­ti­us mach­te eine kur­ze, förm­li­che Ver­beu­gung, wand­te sich um und ver­ließ das Ge­bäu­de.

Bar­thor­pe He­ra­path lach­te lei­se und ver­ächt­lich, dann ging er in das War­te­zim­mer und schloss die Tür. Er bat alle An­we­sen­den, Platz zu neh­men, und setz­te sich selbst in einen Ses­sel ne­ben Peg­gie.

»In­spek­tor Mil­ner«, be­gann er, »wir müs­sen jetzt se­hen, dass wir durch ein ers­tes Ver­hör die Sa­che mög­lichst klä­ren kön­nen, so­lan­ge noch alle Tat­sa­chen frisch im Ge­dächt­nis sind. So­viel ich ge­hört habe, neig­te der Po­li­zei­arzt zu der Mei­nung, dass mein On­kel Selbst­mord ver­übt hat. Es tut mir leid, dass er schon ge­gan­gen ist, denn mei­ner Mei­nung nach ist die­se An­sicht un­halt­bar. Mei­ne Cou­si­ne und ich kann­ten un­se­ren On­kel zu gut, und wir sind bei­de da­von über­zeugt, dass ein Selbst­mord bei Mr. Ja­cob He­ra­path nicht in Fra­ge kam. Wir sind auch fest ent­schlos­sen, die­se An­nah­me mit al­len uns zu Ge­bo­te ste­hen­den Mit­teln zu be­kämp­fen, wenn sie bei der To­ten­schau vor­ge­bracht wer­den soll­te. Mein On­kel ist si­cher er­mor­det wor­den. Vor al­lem müs­sen wir nun fest­stel­len, wo er ges­tern Abend ge­we­sen ist. Zu­erst wol­len wir den Haus­ver­wal­ter hier hö­ren. Han­cock«, wand­te er sich an einen äl­te­ren Mann, »Sie wa­ren doch der ers­te, der mei­nen On­kel hier auf­fand?«

Han­cock war sehr auf­ge­regt, aber er nahm sich zu­sam­men.

»Ja, ich habe ihn zu­erst hier ge­fun­den.«

»Um wie viel Uhr war das?«

»Punkt acht. Um die­se Zeit öff­ne ich ge­wöhn­lich die Bü­ro­räu­me.«

»Sa­gen Sie uns ge­nau, wie Sie ihn fan­den.«

»Ich mach­te die Tür zum Pri­vat­bü­ro auf, um die Vor­hän­ge auf­zu­zie­hen und die Fens­ter zu öff­nen. Als ich durchs Zim­mer ging, sah ich ihn auf dem Tep­pich lie­gen. Gleich dar­auf ent­deck­te ich den Re­vol­ver.«

»Na­tür­lich wa­ren Sie sehr er­schro­cken. Was ha­ben Sie denn dann ge­macht?«

»Ich ver­ließ das Zim­mer, schloss die Tür ab und ging zum Te­le­fon, um die Po­li­zei zu be­nach­rich­ti­gen. Dann war­te­te ich drau­ßen, bis In­spek­tor Mil­ner kam.«

»War die Haus­tür wie ge­wöhn­lich ge­schlos­sen, als Sie heu­te Mor­gen her­un­ter­ka­men?«

»Ja. Sie war ein­ge­klinkt. Mr. He­ra­path pfleg­te das so zu hal­ten, weil er häu­fig spät abends hier­her­kam, um zu ar­bei­ten.«

»Gut. Die­se Bü­ro­räu­me lie­gen nun weit ab von den be­wohn­ten Tei­len des Ge­bäu­des, be­ach­ten Sie das bit­te be­son­ders, In­spek­tor Mil­ner. Man kann von den Bü­ro­räu­men nicht di­rekt in an­de­re Tei­le des Hau­ses kom­men. Es gibt auch nur einen Ein­gang zu den Bü­ros, und zwar durch die Haus­tür. Das stimmt doch, Han­cock?«

»Ja, das ist rich­tig.«

»Und die ein­zi­gen, die wäh­rend der Nacht Zu­tritt zu die­sen Räu­men ha­ben, sind Sie und Ihre Frau, Han­cock?«

»Ja.«

»Wo liegt denn Ihre Woh­nung?«

»Im Keller­ge­schoss ha­ben wir Wohn­zim­mer und Kü­che, und im Dach­ge­schoss schla­fen wir.«

»Wie viel Stock­wer­ke hat denn die­ses Haus?«

»Da ist das Keller­ge­schoss, das Erd­ge­schoss, dann zwei Stock­wer­ke, in de­nen die An­ge­stell­ten ar­bei­ten, und das Dach­ge­schoss.«

»Wann sind Sie und Ihre Frau ges­tern Abend zu Bett ge­gan­gen?«

»Um elf Uhr, et­was spä­ter als sonst.«

»Ha­ben Sie vor­her eine Run­de im Hau­se ge­macht?«

»Ja, das tue ich je­den Abend.«

»Ha­ben Sie und Ihre Frau einen ge­sun­den, fes­ten Schlaf?«

»Ja.«

»Sie ha­ben nichts ge­hört, nach­dem Sie zu Bett ge­gan­gen wa­ren?«

»Nein.«

»Ha­ben Sie kei­nen Re­vol­ver­schuss ge­hört?«

»Nein.«

»Auch nicht das An­fah­ren ei­nes Au­tos, das Öff­nen und Schlie­ßen von Tü­ren?«

»Nein.«

»Sie ha­ben sich doch si­cher in dem Raum um­ge­se­hen, nach­dem Sie Mr. He­ra­path fan­den? Ha­ben Sie An­zei­chen da­für ent­deckt, dass ein Hand­ge­men­ge statt­ge­fun­den hat?«

»Nein, da­von habe ich nichts ge­se­hen. Nur der Arm­ses­sel, in dem Mr. He­ra­path ge­wöhn­lich saß, war ein we­nig zu­rück­ge­scho­ben. Das war al­les.«

»Brann­te das elek­tri­sche Licht noch?«

»Nein.«

»Wenn ich also Ihre Aus­sa­gen zu­sam­men­fas­se, so ha­ben Sie we­der et­was ge­hört, noch ist Ih­nen et­was auf­ge­fal­len, bis Sie heu­te Mor­gen her­un­ter­ka­men?«

»Ja, so war es.«

Bar­thor­pe nick­te und wand­te sich an den Chauf­feur.

»Moun­tain, nun er­zäh­len Sie, was Sie wis­sen. Sei­en Sie aber sehr sorg­fäl­tig, denn Ihre An­ga­ben sind von der größ­ten Wich­tig­keit.«

4. Kapitel

Der Berichterstatter.

Der Chauf­feur rück­te un­will­kür­lich ein we­nig nä­her an den Tisch her­an und sah ängst­lich und ge­spannt auf He­ra­path.

»So­viel ich weiß, ha­ben Sie mei­nen On­kel ges­tern Abend vom Par­la­ment ab­ge­holt?« be­gann Bar­thor­pe.

»Ja­wohl.«

»Wo ist er ein­ge­stie­gen?«

»Wie ge­wöhn­lich in Palace Yard, di­rekt vor der Ein­gangs­hal­le.«

»Um wie viel Uhr war das?«

»Vier­tel nach elf. Die große Turm­uhr schlug ge­ra­de.«

»War Mr. He­ra­path al­­­­­