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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.
ISBN: 978-3-74092-692-2
»Ist das nicht verrückt? Ich denke immer noch: Es geht bestimmt wieder etwas schief«, sagte Angelika Gräfin Maritz zu ihrer Schwester, Baronin Sofia von Kant. »Ich werde erst glauben, dass Clemens und ich geheiratet haben, wenn wir beide ›Ja‹ gesagt haben.«
Die beiden Frauen saßen in der Bibliothek von Schloss Sternberg vor dem wärmenden Kamin. Es dämmerte schon, draußen war es seit Tagen eisig. Bis dahin war der Winter eher mild gewesen, doch jetzt herrschte strenger Frost. Hier drinnen jedoch war es warm und gemütlich, die Lampen auf den kleinen Tischen verbreiteten ein angenehmes Licht, und die schweren alten Ledersessel luden dazu ein, sich behaglich zurückzulehnen und die Beine auf die dazugehörigen Hocker zu legen.
»Es geht nichts mehr schief«, sagte Sofia. Sie griff zu ihrer Tasse und trank einen Schluck Tee. »Dass eine Hochzeit wegen unvorhergesehener Ereignisse aufgeschoben werden muss, passiert nur einmal im Leben.«
»Na, ich weiß nicht«, murmelte Angelika. »Erinnere dich doch bitte daran, wie Clemens’ und meine Liebesgeschichte verlaufen ist: Mit ungefähr fünfzehn habe ich mich in ihn verliebt, mit siebzehn habe ich heimlich bei unseren Großeltern seine Tochter bekommen und gleich zur Adoption freigegeben. Seine Mutter hat das Geheimnis aus ihm herausgelockt und ihn nach China zu Verwandten geschickt. Nach China! Und als ich von den Großeltern zurückkam, war er weg. Spurlos verschwunden. Ich habe mich so verlassen gefühlt!« Ihre Stimme war immer leiser geworden. »Wenn man so etwas erlebt hat, fällt es nicht leicht, daran zu glauben, dass doch noch alles gut wird.«
Sofia streckte den Arm aus, um nach ihrer Hand zu greifen. »Es ist und bleibt eine schreckliche Geschichte«, sagte sie ruhig. »Auch, weil wir alle von deinen Nöten damals überhaupt nichts mitbekommen haben. Lisa und ich nicht, unsere Eltern nicht, wir waren ja völlig ahnungslos. Und ich kann dir gar nicht sagen, wie leid mir das tut. Auch, dass wir dich immer ausgeschlossen und so zur Außenseiterin gemacht haben.«
»Das ist vergeben und vergessen, Sofia. Damals war es schlimm, aber es hatte vermutlich auch sein Gutes. Ich musste früh lernen, selbstständig zu sein und mich auf mich selbst zu verlassen.« Versonnen blickte Angelika in die Flammen des Kaminfeuers. »Und dann finden wir uns nach fünfundzwanzig Jahren wieder, Clemens und ich, und stellen fest, dass wir uns immer noch lieben. Wir beschließen zu heiraten, wir finden unsere Tochter wieder, die ebenfalls heiraten will, eine Doppelhochzeit hier im Schloss wird geplant, und dann …« Sie verstummte.
»Und dann«, fuhr Sofia an ihrer Stelle fort, »muss die Doppelhochzeit abgesagt und die Gäste müssen ausgeladen werden, weil sich eine Gruppe von Ausbrechern aus einem Gefängnis der Umgebung auf unserem Sternberg in einer Felsenhöhle verschanzt, sodass die Polizei gezwungen ist, die Straße zum Schloss zu sperren.« Sie schüttelte den Kopf. »So etwas wiederholt sich nicht, Angelika. Es war nichts anderes als ein dummer, unglücklicher Zufall.«
»Das sagt Clemens auch immer, und ich würde euch zu gern glauben. Ich weiß, wie albern es ist, dass eine nüchtern denkende Frau wie ich so abergläubisch ist, aber wenn es um Clemens geht, wage ich es einfach nicht, an mein Glück zu glauben. Weißt du, als ich damals Casimir heiratete, war ich noch keine neunzehn. Er hat mir in gewisser Weise das Leben gerettet, weil er mich geliebt hat, auf diese selbstlose Art, die nichts verlangt, sondern immer nur gibt. Ihm konnte ich sogar von meiner Tochter erzählen, die ich weggegeben hatte und davon, dass dieses Geheimnis für immer zwischen mir und meiner Familie stehen würde. Ich habe es ihm nicht gesagt, aber er wusste zweifellos, dass ich Clemens immer noch liebte, aber das hat zwischen uns nichts geändert.«
Angelika starrte sinnend in die Flammen. »Ich frage mich, wie alles geworden wäre, wenn er noch lebte. Ich weiß nicht, ob ich es übers Herz gebracht hätte, ihn wegen Clemens zu verlassen. Aber mich noch einmal von Clemens zu trennen – ich glaube, das hätte ich auch nicht gekonnt. Als ich erfahren habe, wie seine Mutter gegen mich intrigiert hat, war ich fassungslos. So viele Jahre, die wir nicht zusammen sein konnten, weil sie gemeint hat, Schicksal spielen zu müssen.«
»Die Entscheidung zwischen deinem Mann und Clemens ist dir jedenfalls erspart geblieben.«
»Ja, zum Glück«, murmelte Angelika. »Entschuldige, dass ich dir ständig mit den alten Geschichten in den Ohren liege. Das muss dir doch allmählich auf die Nerven gehen. Früher warst du ziemlich ungeduldig, wenn ich mich recht erinnere.«
»Oh, das kann ich immer noch sein, keine Sorge. Aber wir hatten ja jahrelang kaum Kontakt zueinander, deshalb bin ich froh, wenn du von damals erzählst. Ich hole auf diese Weise nach, was ich in den vergangenen Jahren versäumt habe.«
Die Tür der Bibliothek wurde geöffnet, Isabella von Bolanden kam herein, Angelikas Tochter. Sie war so blond wie ihre Mutter und wie sie Archäologin geworden. Gemeinsam mit ihrem Verlobten Ulrich von Thakhen war sie ihrer Mutter nach Peru gefolgt, wo Angelika, die eine international renommierte Forscherin geworden war, mit ihrem Team eine alte Inkastadt freilegte. Zu diesem Team gehörten jetzt auch Isabella und Ulrich.
Clemens von Hasselfeld, Isabellas Vater und Angelikas zukünftiger Mann, lebte jetzt ebenfalls in Peru, seine Firma hatte dem Umzug zugestimmt. In Zeiten weltweiter Vernetzung konnte ein Mann wie er an jedem Ort der Welt arbeiten.
Alle vier waren drei Wochen zuvor auf Sternberg eingetroffen, da sich vor allem Angelika gewünscht hatte, dort zu heiraten. Doch die geplante Doppelhochzeit hatte wegen der Ausbrecher nicht zum geplanten Zeitpunkt stattfinden können. Jetzt jedoch war ein neuer Termin angesetzt worden: Am kommenden Wochenende sollte das große Ereignis endlich stattfinden. Die neuen Einladungen waren verschickt worden, die Gäste würden, so weit sie im Schloss übernachteten, am Freitag anreisen.
»Störe ich?«, fragte Isabella.
»Du störst nie«, antwortete Sofia. »Deine Mutter und ich sprechen von alten Zeiten. Und natürlich von ihrer Angst, dass die Hochzeit wegen irgendwelcher Ereignisse auch dieses Mal wieder abgesagt werden muss.«
Isabella lächelte ein wenig angestrengt. »Ehrlich gesagt, ganz frei von dieser Angst bin ich auch nicht.«
»Und ich dachte, du würdest mir helfen, ihr diesen Unsinn auszureden!«, rief die Baronin. »Was ist nur mit euch los? Wir werden am kommenden Wochenende ein rauschendes Fest, und nichts wird das verhindern können.«
»Eben hat eine Freundin von mir abgesagt«, berichtete Isabella, »ihre Mutter ist schwer krank geworden, deshalb kann sie nicht kommen. Aber eure Freundin Fiona von Beeck kommt mit ihrem Verlobten, und mein guter alter Freund Moritz von Kappeln kommt auch. Darüber freue ich mich sehr.« Sie beugte sich über Angelika und gab ihr einen Kuss. »Mach nicht so ein sorgenvolles Gesicht«, bat sie.
»Setz dich zu uns, Isa. Möchtest du auch einen Tee?«
»Ja, ich habe Herrn Hagedorn schon Bescheid gesagt.«
Wie aufs Stichwort erschien der alte Butler in diesem Moment an der Tür, mit einem Tablett, auf dem nicht nur eine Tasse für Isabella stand, sondern auch noch eine Kanne mit frischem Tee, dazu eine Schale mit duftendem Gebäck. »Frau Falkner meinte, Sie brauchten vielleicht etwas Süßes zum Tee«, sagte er. »Das Gebäck ist noch warm, sie hat es eben erst aus dem Ofen geholt.«
»Es duftet himmlisch«, schwärmte Angelika.
»Vielen Dank, Herr Hagedorn«, sagte Sofia.
»Haben Sie sonst noch Wünsche?«
Die drei Damen verneinten. »Wo sind eigentlich unsere Männer, Herr Hagedorn?«, erkundigte sich die Baronin.
»Drüben im Gestüt. Der Herr Baron wollte nach der neuen Stute sehen, Herr von Hasselfeld und Herr von Thakhen haben sich ihm angeschlossen.« Nach dieser Auskunft zog sich Eberhard Hagedorn so geräuschlos zurück, wie er gekommen war.
»Was würdet ihr eigentlich ohne Herrn Hagedorn machen?«, fragte Angelika. »Er ist ein unglaublich angenehmer und kultivierter Mensch. Er scheint alles zu wissen, wirkt nie aufdringlich, und er organisiert das Leben hier, ohne dass man es überhaupt merkt. Der Mann muss ein Genie sein.«
Die Baronin lachte. »Er IST ein Genie, Angelika, und wir wissen das zu schätzen. Was glaubst du wohl, wie oft versucht wird, ihn von uns wegzulocken? Ich glaube, es gibt keinen Monat, in dem ihm nicht von jemandem ein Fantasiegehalt angeboten wird, damit er uns verlässt.«
»Aber er widersteht?«
»Er denkt nicht einmal darüber nach. Er gehört nach Sternberg, das hier ist sein Zuhause.«
»Er hat ja auch eine Wohnung im Schloss, das habe ich erst neulich mitbekommen.«
»Ja, er ist der einzige Angestellte, der im Schloss wohnt. Es ist eine hübsche kleine Wohnung direkt hinter der Eingangshalle.«
»Und eure Köchin ist auch ein Traum«, sagte Isabella. »Ehrlich, ich habe noch nie so gut gegessen wie bei euch. Und sie kocht so abwechslungsreich, und immer wieder gibt es eine Überraschung.«
»Frau Falkner bekommt auch viele Angebote von außerhalb. Aber zum Glück scheint sie sich ebenfalls sehr wohlzufühlen bei uns. Wir sind tatsächlich sehr verwöhnt, was das Essen betrifft, das merken wir immer, wenn wir einmal außerhalb eingeladen sind. Sie versteht sich auch sehr gut mit Herrn Hagedorn und seinem Auszubilden Jannik.«
»Dass Herr Hagedorn überhaupt einen Auszubildenden akzeptiert hat!«, wunderte sich Angelika.
»Das hat uns auch überrascht, aber Jannik hat es geschafft, ihn zu überzeugen. Er ist ja erst neunzehn. Habe ich euch erzählt, dass seine Eltern die Apotheke unten im Ort führen? Sie hatten gehofft, Jannik werde sie eines Tages übernehmen. Von seinem Wunsch, Butler zu werden, waren sie überhaupt nicht begeistert, zumal er ein ausgezeichnetes Abitur gemacht hat. Ihm hätte jedes Studium offengestanden. Aber er hat sich nicht von seinem Berufswunsch abbringen lassen.«
Von draußen war Gebell zu hören, lebhafte Stimmen redeten durcheinander.
Die Baronin sah auf die Uhr. »Die Kinder sind also aus der Schule zurück«, stellte sie fest.
›Die Kinder‹ waren keine Kinder mehr, sondern Teenager. Vor allem Sofias dreizehnjährige Tochter Anna legte auf diesen Unterschied großen Wert, während ihr drei Jahre älterer Bruder Konrad über solche Probleme bereits erhaben war. Auch ihren Cousin Christian von Sternberg, ein Jahr jünger als Konrad, kümmerte es wenig, wie man ihn bezeichnete. Ihn störte es zum Beispiel nicht, dass er in der Bevölkerung gern ›der kleine Fürst‹ genannt wurde, ein Name, den er trug, seit er zwei Jahre alt war. Damals hatte sein stolzer Vater, Fürst Leopold von Sternberg, ihn bereits mit auf seine Reisen genommen und da Leopold über einen Meter neunzig groß gewesen war, hatte das ungleiche Paar bald ›der große und der kleine Fürst‹ geheißen. Christian gefiel der Name, er wusste, wie viel Zuneigung daraus sprach.
Im vergangenen Jahr waren Fürst Leopold und Fürstin Elisabeth, Sofias und Angelikas Schwester, bei einem Hubschrauberunglück ums Leben gekommen, seitdem war Christian Vollwaise. Sofia und ihr Mann Friedrich hatten ihn sofort als ihr drittes Kind zu sich in den Westflügel des Schlosses geholt, wo sie seit vielen Jahren lebten. Ihre Kinder waren ohnehin wie Geschwister aufgewachsen, jetzt rückten sie noch enger zusammen.