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Wladimir Megre

Anastasia

Neue Zivilisation

Anastasia Bd. VIII – Teil 1

Aus dem Russischen übersetzt von Helmut Kunkel

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Bisherige Titel von Wladimir Megre zu Anastasia

Band 1:

Anastasia – Tochter der Taiga

ISBN 978-3-906347-65-3 · gebunden

ISBN 978-3-906347-66-0 · broschiert

Band 2:

Anastasia – Die klingenden Zedern Russlands

ISBN 978-3-906347-71-4 · gebunden

ISBN 978-3-906347-79-0 · broschiert

Band 3:

Anastasia – Raum der Liebe

ISBN 978-3-906347-74-5 · gebunden

ISBN 978-3-906347-83-7 · broschiert

Band 4:

Anastasia – Schöpfung

ISBN 978-3-906347-75-2 · gebunden

ISBN 978-3-906347-91-2 · broschiert

Band 5:

Anastasia – Wer sind wir?

ISBN 978-3-906347-78-3 · gebunden

ISBN 978-3-906347-92-9 · broschiert

Band 6:

Anastasia – Das Wissen der Ahnen

ISBN 978-3-89845-040-9 · gebunden

Band 7:

Anastasia – Die Energie des Lebens

ISBN 978-3-89845-058-4 · gebunden

Band 8.2:

Anastasia – Die Bräuche der Liebe

ISBN 978-3-89845-180-2 · gebunden

Band 10:

Anastasia – Anasta

ISBN 978-3-905831-05-4 · gebunden

Alle Rechte – auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe, der Übersetzung und der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen – vorbehalten.

Copyright © 2005 by Владимир Мегре

Copyright © der deutschen Ausgabe:

ISBN 978-3-89845-123-9

1. Auflage 2018

Übersetzung: Helmut Kunkel

Verlag »Die Silberschnur« GmbH · Steinstr. 1 · 56593 Güllesheim

Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel:Gefühle im Morgengrauen

2. Kapitel:Der Sieg über die Strahlung

3. Kapitel:“Wulle, wulle Gänschen – gi-ga-gack!” oder: das Überwissen, das wir verlieren

4. Kapitel:Ein großes Problem

imageEs gibt eine Lösung

5. Kapitel:Der Jungbrunnen

imageDie erste Prozedur

imageDie zweite Prozedur

imageDie dritte Prozedur

imageDie Geheimprozedur

imageEine Erscheinung

6. Kapitel:Göttliche Ernährung

7. Kapitel:Der Dämon Kratie

8. Kapitel:Der Milliardär

9. Kapitel:Ich werde dich zeugen, mein Engel

10. Kapitel:Ein starkes Stück

imageEin Gespräch mit Präsidenten

imageAn den Präsidenten und die Regierung der Russischen Föderation

imageDie Wissenschaft der elementalen Gestaltung oder: In wessen Händen die Ideologie des Landes liegt

imageDie russisch-orthodoxe Kirche – wie russisch ist sie eigentlich?

imageDie Besatzer in Aktion

11. Kapitel:Das Buch der Ahnen und die Familienannalen

imageZum Thema “Juden”

12. Kapitel:Lasset uns schaffen!

13. Kapitel:Der Hektar – ein Stückchen des Planeten Erde

14. Kapitel:Die Macht des Volkes

15. Kapitel:Eine neue Zivilisation

imageDie Unsterblichkeit

imageLiebe kann Welten erschaffen

Anmerkungen

Über den Autor

1. Kapitel

Gefühle im Morgengrauen

Anastasia schlief noch, doch allmählich wurde der Himmel über der grenzenlosen sibirischen Taiga heller. Ich war an diesem Morgen als Erster wach, doch blieb ich leise auf meinem Schlafsack liegen und bestaunte die friedlichen Züge von Anastasias makellosem Antlitz und ihre ebenmäßigen Konturen, die im sanften Licht der Morgendämmerung immer deutlicher zu Tage traten. Gut, dass sie unser Nachtlager diesmal unter freien Himmel verlegt hatte! Wahrscheinlich hatte sie geahnt, dass die Nacht sehr mild sein würde, und hatte deshalb unser Bett nicht wie gewöhnlich in ihrer warmen, gemütlichen Erdhöhle aufgeschlagen, sondern vor deren Eingang. Mir hatte sie den Schlafsack gegeben, den ich bei meinem vorigen Taiga-Aufenthalt mitgebracht hatte, und sie selbst lag neben mir auf einem Lager aus getrockneten Gräsern und Blumen.

Einfach bezaubernd sah sie aus auf ihrem Taiga-Bett, gekleidet in das feine linnene Nachthemd, das ich ihr als Geschenk eines Lesers mitgebracht hatte. Vielleicht zog sie es nur in meiner Gegenwart an und schlief sonst unbekleidet. Je kälter es im Wald wurde, desto mehr trockenes Gras musste man sich unterlegen, doch in einem Heuhaufen wurde einem selbst im Winter nicht kalt. Sogar ein normaler Mensch, der nicht so abgehärtet ist wie Anastasia, kann im Heu ohne warme Kleidung schlafen. Ich habe das selbst ausprobiert. Heute aber lag ich auf meinem Schlafsack. Während ich so die schlafende Anastasia betrachtete, stellte ich mir vor, wie sich diese Szene in einem Film machen würde …

Eine Lichtung inmitten der grenzenlosen sibirischen Taiga. Die einsame Stille der Morgendämmerung wird nur gelegentlich vom kaum hörbaren Rauschen der Wipfel majestätischer Zedern unterbrochen. Eine schöne Frau schläft friedlich auf einem Bett aus Heu und Blumen. Ihr Atem geht gleichmäßig und ist kaum zu hören, nur sieht man, wie sich ein Grashalm, der sich an ihre Oberlippe schmiegt, leicht vor und zurück bewegt, wenn die junge Frau die gesunde Luft der sibirischen Taiga ein- und ausatmet … Es war das erste Mal, dass ich das Glück hatte, Anastasia im Schlaf zu sehen, denn sonst war sie immer zuerst erwacht. Doch heute …

Ich genoss ihren Anblick. Vorsichtig richtete ich mich auf, stützte mich auf meinen Arm und betrachtete ihr Gesicht. Ich verfiel ins Nachdenken und sprach leise zu mir selbst: “Wie schön du doch bist, Anastasia! Bald ist es nun zehn Jahre her, seit ich dich zum ersten Mal sah. In dieser Zeit bin ich um einiges gealtert, aber du hast dich fast gar nicht verändert. In deinem Gesicht kann ich keinerlei Falten erkennen. Nur durch dein goldenes Haar zieht sich jetzt eine graue Strähne. Dies ist ein Zeichen dafür, dass dir etwas Außergewöhnliches widerfahren ist. Nach der massiven Hetzkampagne, die von der Presse und gewissen Behörden gegen dich und deine Ideen geführt wurde, tut sich nun auch etwas im Lager der Dunkelmächte. Sie können einem ganz schön auf die Nerven gehen, das muss man ihnen lassen. Und dich, dich hätten sie sich natürlich schon längst liebend gern geschnappt. Nun ja, offenbar sind ihre Greifarme nicht lang genug …

Nur hast du jetzt eben diese graue Strähne in deinem Haar. Sie kann deine Schönheit aber nicht beeinträchtigen. Weißt du, farbige Strähnen im Haar sind sogar Mode heutzutage. Junge Leute bleichen sich einzelne Haarsträhnen und finden das schick. Also bitte, so sparst du dir den Friseur. Und die Narbe von der Kugel, die auf dich abgefeuert wurde, ist fast völlig verschwunden.”

Inzwischen war es noch etwas heller geworden, und selbst aus der Nähe konnte ich die Narbe an ihrer Schläfe kaum mehr erkennen.

“Du schläfst seelenruhig an der frischen Luft in deiner Taigawelt, während unsere Welt große Veränderungen durchmacht. Man spricht heute von einer Revolution der Informationen. Vielleicht werden sich ja die Menschen unserer technokratischen Welt mit deiner Hilfe oder auf Anordnung ihrer eigenen Seele daran machen, einen eigenen Familienlandsitz zu errichten und den Boden zu veredeln. Viele haben dein Leitbild mit ganzem Herzen angenommen, das wunderschöne Leitbild für ihre Familie, ihr Land und vielleicht die ganze Welt. Sie haben dich verstanden und arbeiten auf eine schöne Zukunft hin.

Was mich selbst betrifft, so bemühe ich mich nach besten Kräften, dich zu verstehen. Bisher kann ich das Ausmaß der Bedeutung, die du für mich hast, nur erahnen. Du hast so viel für mich getan: Du hast mich gelehrt, Bücher zu schreiben; du hast mir einen Sohn geboren; du hast mir zu Ruhm verholfen; durch dich habe ich die Achtung meiner Tochter zurückgewonnen … und so weiter. Aber das alles ist nicht die Hauptsache. Die Hauptsache liegt irgendwo in meinem Innern verborgen.

Wie du weißt, Anastasia, habe ich mit dir noch nie über meine Beziehung zu dir gesprochen – weder mit dir noch mit mir selbst. Auch habe ich noch nie in meinem Leben zu einer Frau gesagt: ‘Ich liebe dich.’ Das liegt nun nicht etwa daran, dass ich keine Gefühle hätte, nein, ich habe diesen Satz einfach immer als seltsam und sinnlos erachtet. Ich habe immer gedacht, wenn man jemanden liebt, sollte sich das in erster Linie im praktischen Leben zeigen. Wenn man dagegen noch extra große Worte machen muss, mangelt es für mich irgendwie an echten Taten. Und schließlich sind Taten wichtiger als Worte.”

Anastasia ruckelte sich im Schlaf etwas zurecht und seufzte tief, wachte jedoch nicht auf. So fuhr ich mit meinem Selbstgespräch fort: “Ich habe mit dir noch nicht einmal über die Liebe gesprochen, Anastasia. Hättest du mich aber gebeten, für dich einen Stern vom Himmel zu holen, so wäre ich auf den höchsten Baum geklettert und hätte mich vom letzten Zweig abgestoßen, um zu diesem Stern zu springen. Im Herunterfallen hätte ich mich an den Zweigen des Baumes festgehalten, wäre noch einmal emporgeklettert und erneut zum Stern gesprungen.

Du hast mich aber nicht gebeten, dir einen Stern vom Himmel zu holen, Anastasia. Du hast mich lediglich gebeten, Bücher zu schreiben. Das tue ich, wenn auch manchmal eher schlecht als recht. Aber ich bin ja noch nicht einmal fertig. Der letzte Band fehlt noch. Ich will mir alle Mühe geben, dass er dir gefällt.”

Anastasias Wangen röteten sich ein wenig, sie zuckte mit den Wimpern, und plötzlich schlug sie die Augen auf. Dieser zärtliche Blick ihrer graublauen Augen … o Gott, welche Wärme diese Augen ausstrahlten, besonders aus der Nähe! Anastasia sah mich schweigend an; ihre Augen glänzten, als seien sie feucht.

“Guten Morgen, Anastasia! Das ist wohl das erste Mal, dass du so lange geschlafen hast. Sonst bist du immer zuerst aufgewacht”, sagte ich.

“Auch dir einen guten Morgen und einen schönen Tag, Wladimir”, antwortete Anastasia in halbem Flüsterton. “Ich würde gern noch ein bisschen mehr schlafen.”

“Hast du nicht gut geschlafen?”

“Doch, sehr gut sogar. Aber ich hatte gerade einen wunderschönen Traum.”

“Was hast du geträumt?”

“Ich habe geträumt, dass du mit mir gesprochen hast – über einen hohen Baum und einen Stern, über das Herunterfallen und das erneute Hochklettern. Du sprachst von einem Baum und einem Stern, aber mir war so, als ginge es eigentlich um die Liebe.”

“Träume sind oft unverständlich. Was könnte schon ein Baum mit der Liebe zu tun haben?”

“Da könnte es durchaus einen Zusammenhang geben. Einfache Worte haben manchmal eine tiefe Bedeutung. Bei diesem Bild geht es vor allem um Gefühle, nicht um die direkte Bedeutung. Mit der Morgendämmerung hat mir der Tag erstaunliche Gefühle beschert. Ich will ihn begrüßen gehen und ihn umarmen.”

“Wen?”

“Den schönen Tag, der mir dieses besondere Geschenk gemacht hat.”

Anastasia stand langsam auf, ging ein paar Schritte vom Eingang der Höhle weg und machte wie gewöhnlich ihre seltsamen Morgenübungen. Sie streckte ihre Arme zu den Seiten und ein wenig nach oben aus. Einen Augenblick schaute sie in den Himmel, um sich plötzlich umzudrehen. Dann rannte sie eine Strecke und schlug einen unglaublichen Salto. Wieder drehte sie sich um. Ich lag noch immer auf meinem Schlafsack vor dem Höhleneingang, genoss Anastasias energetische Turnübungen und dachte: “Alle Wetter! Sie ist ja eigentlich kein Mädchen mehr, bewegt sich aber so gewandt, so anmutig und geschmeidig wie eine junge Athletin. Ich wüsste zu gern, wie sie fühlen konnte, was ich zu ihr während des Schlafes gesagt hatte. Vielleicht sollte ich ihr besser die Wahrheit gestehen …”

Und so rief ich aus: “Anastasia, du hast nicht einfach geträumt!”

Anastasia blieb mitten auf der Lichtung stehen, wandte sich ungestüm um, schlug ein, zwei Mal ihren Salto, war plötzlich neben mir, setzte sich geschwind ins Gras und sagte freudig: “Es war also nicht bloß ein Traum? Das musst du mir sofort erklären, und zwar ausführlich.”

“Nun ja, ich habe tatsächlich über einen Baum nachgedacht, und dann sprach ich mit mir selbst über einen Stern.”

“Dann verrate mir bitte auch, woher du diese Worte hattest. Wie bist du darauf gekommen?”

“Vielleicht durch meine eigenen Gefühle?”

Ein Ruf von Anastasias Großvater unterbrach unser Gespräch: “Anastasia! Anastasia, jetzt höre mir mal sofort zu!”

Anastasia sprang auf, und auch ich erhob mich.

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2. Kapitel

Der Sieg über die Strahlung

“Hat Wolodja wieder was angestellt?”, fragte Anastasia den herbeieilenden Großvater. Und nach einem beiläufigen “Hallo, Wladimir” berichtete er: “Er ist am Seeufer und hat beim Tauchen einen Stein vom Grund geholt. Jetzt steht er da und hält ihn in der Hand. Ich vermute, der Stein verbrennt ihm die Hand, aber er lässt nicht los. Und ich weiß nicht, welchen Rat ich ihm geben kann. Dann wandte sich der Großvater mir zu und sagte streng: “Du bist doch sein Vater … was stehst du hier so tatenlos herum?”

Ohne recht verstanden zu haben, was eigentlich los war, rannte ich zum See. Der Großvater lief neben mir her und erklärte: “Es ist ein radioaktiver Stein. Er ist ganz klein, hat aber eine Menge Energie. Diese Energie ist eine Art radioaktive Strahlung.”

“Wie ist dieser Stein denn auf den Grund des Sees gekommen?”

“Der ist schon lange dort. Bereits mein Vater hat von ihm gewusst. Aber bisher konnte niemand so tief tauchen.”

“Und wie hat Wolodja es geschafft? Wie hat er überhaupt von dem Stein erfahren?”

“Das Tauchen habe ich ihm beigebracht.”

“Wieso?”

“Er wollte es unbedingt lernen, ständig hat er mich damit gelöchert. Wenn ihr keine Zeit habt, euch um seine Erziehung zu kümmern, bleibt natürlich alles an mir hängen.”

“Und wer hat ihm von dem Stein erzählt?”

“Na wer schon? Ich natürlich!”

“Warum?”

“Er wollte wissen, ob es etwas gibt, was den See im Winter nicht einfrieren lässt.”

Beim See angekommen, sah ich meinen Sohn Wolodja am Ufer stehen. Sein Haar und sein Hemd waren nass, aber es tropfte kein Wasser mehr von ihm herab. Ich sah ihn unverwandt an, wie er mit nach vorn ausgestreckter Hand dastand, die Finger zur Faust geballt. Es war klar: In der Hand hielt er jenen unseligen Stein vom Grund des Sees. Kaum war ich zwei Schritte auf ihn zugegangen, da wandte er sich mir zu und sprach: “Komm nicht näher, Papa!”

Als ich stehen blieb, fügte er hinzu: “Sei gegrüßt, Papa! Aber geh bitte etwas weiter weg. Besser, du und Großvater legt euch auf die Erde, dann kann ich mich in aller Ruhe konzentrieren.”

Anastasias Großvater legte sich sofort flach auf den Boden, und ich legte mich zu ihm, auch wenn ich nicht verstand wieso. Eine Zeit lang betrachteten wir schweigend Wolodja, dann kam mir ein ganz einfacher Gedanke, und ich sprach: “Wolodja, schmeiß das Ding doch einfach weg.”

“Wohin denn?”, fragte mein Sohn, ohne sich umzudrehen.

“Ins Gras.”

“Das geht nicht, sonst wird dort vieles sterben. Ich spüre ganz deutlich, dass ich den Stein nicht wegwerfen darf.”

“Und was willst du dann tun? Etwa tagelang so stehen bleiben?”

“Ich denke nach, Papa. Lasst uns schweigen. Meine Gedanken sollen zu einem Schluss kommen und dürfen nicht abgelenkt werden.”

Während wir Wolodja beobachteten, bemerkte ich plötzlich, dass sich vom gegenüberliegenden Ufer ganz gemächlich Anastasia näherte. Sie kam bis auf fünf Meter an Wolodja heran, setzte sich seelenruhig ans Ufer und tauchte ihre Füße ins Wasser. Nach einiger Zeit wandte sie sich ihrem Sohn zu und fragte ihn: “Brennt dir deine Hand, mein Sohn?”

“Ja, Mama”, antwortete Wolodja.

“Woran hast du gedacht, als du den Stein holtest, und woran denkst du jetzt?”

“Von dem Stein geht eine starke Strahlung aus. Großvater hat mir davon erzählt. Aber auch der Mensch hat solche Energie, das weiß ich. Ich habe den Stein geholt und halte ihn jetzt fest. Mit aller Kraft versuche ich jetzt, seine Energie zu unterdrücken, nach innen zurück. Ich will beweisen, dass der Mensch stärker ist als jede Strahlung.”

“Und gelingt es dir, die Überlegenheit deiner Energie zu zeigen?”

“Ja, Mama. Aber dieser Stein wird immer heißer. Er versengt mir ein bisschen die Hand.”

“Warum wirfst du ihn dann nicht weg?”

“Ich spüre, dass ich das nicht darf.”

“Warum nicht?”

“Ich spüre es einfach.”

“Was spürst du?”

“Er … er wird explodieren. Sobald ich meine Hand öffne, wird er explodieren. Die Explosion wird sehr stark sein.”

“Ja, da hast du schon Recht, er wird explodieren. Was den Stein so erhitzt, ist die in ihm eingeschlossene Energie. Du hast mit deiner Energie den Energiefluss des Steines unterbrochen und nach innen gerichtet. In Gedanken hast du im Stein einen Kern gebildet, in dem jetzt seine und deine Energien eingeschlossen sind. Diese Energiegewalt kann aber nicht unbegrenzt dort festgehalten werden. Sie wallt und tost jetzt in dem von dir erschaffenen Kern, und die so erzeugte Hitze verbrennt dir die Hand.”

“Ja, aber loslassen kann ich ihn nicht.”

Äußerlich war Anastasia völlig gelassen. Ihre Bewegungen waren langsam und fließend, und sie sprach gemessen, doch fühlte ich, dass sie überaus konzentriert war und dass ihr Verstand wahrscheinlich auf Hochtouren arbeitete. Sie stand auf, räkelte sich ein wenig und sagte ruhig: “Wolodja, du hast also verstanden, dass der Stein explodieren kann, wenn du ihn mit einem Mal loslässt.”

“Ja, Mama.”

“Dann musst du ihn eben allmählich loslassen.”

“Wie meinst du das?”

“Öffne zuerst ganz sachte Daumen und Zeigefinger und entblöße so nur einen Teil des Steines. Stelle dir dabei vor, wie aus ihm ein Strahl in die Höhe schießt, ein Strahl aus der Energie, die du in ihn eingegeben hast. Und nach deiner Energie wird seine eigene hervorströmen. Aber pass auf: Der Strahl darf nur nach oben gerichtet sein!”

Wolodja konzentrierte seinen Blick auf seine fest zusammengepresste Faust, dann lockerte er langsam Daumen und Zeigefinger. Es war ein sonniger Morgen, aber trotz des Tageslichts war der Strahl, der nun vom Stein ausging, deutlich sichtbar. Vom Strahl getroffen, ging ein Vogel augenblicklich in Rauch auf, und eine kleine Wolke verpuffte im blauen Äther. Nach einigen Minuten dann hatte sich der Strahl fast verflüchtigt.

“Ach du meine Güte, so viel Zeit habe ich jetzt mit euch verbracht”, sagte Anastasia. “Ich werde wohl besser gehen und Frühstück machen, während ihr euch hier amüsiert.”

Sie ging sehr langsam weg. Nach ein paar Schritten geriet sie ein wenig ins Wanken, hockte sich ans Wasser und wusch sich das Gesicht. Mir kam es so vor, als ob sie hinter ihrer äußerlichen Ruhe eine unglaubliche Anstrengung verbarg – wohl deshalb, um Wolodja nicht zu beunruhigen.

“Mama, Mama, woher wusstest du, was ich tun musste?”, rief der Kleine ihr hinterher.

“Woher?”, äffte der Großvater, der sich inzwischen erhoben hatte, Wolodja scherzhaft nach. “Ja woher denn wohl? In der Schule war deine Mama in Physik die Beste”, lachte er laut.

Anastasia drehte sich zu uns um, lachte ebenfalls und erwiderte: “Ich habe das vorher nicht gewusst, mein Sohn. Egal was geschieht, man muss immer eine Lösung suchen, und wer suchet, der findet auch. Lass es nie zu, dass dein Gedankenfluss von Angst blockiert wird.”

Als der Strahl gänzlich unsichtbar geworden war, öffnete Wolodja seine Faust. Auf seiner Handfläche lag ruhig der kleine, längliche Stein. Er betrachtete ihn eine Zeit lang, dann murmelte er vor sich hin: “In dir steckt nicht mehr Kraft als im Menschen.” Darauf machte er wieder eine Faust, nahm Anlauf und sprang kopfüber in den See. Drei Minuten lang war nichts von ihm zu sehen, und als er schließlich auftauchte, schwamm er geradewegs aufs Ufer zu.

“Das Luftanhalten hat er von mir gelernt”, meinte der Großvater.

Wolodja stieg ans Ufer, sprang eine Weile umher und schüttelte sich das Wasser vom Leib. Als er dann zu uns kam, hielt ich es nicht mehr aus und sagte: “Weißt du eigentlich, was radioaktive Strahlung ist, mein Sohn? Nein, natürlich nicht. Sonst wärst du ja nicht nach diesem Stein getaucht. Hast du hier denn nichts anderes zu tun?”

“Ich weiß sehr wohl, was radioaktive Strahlung ist, Papa”, entgegnete Wolodja. “Großvater hat mir von Nuklearwaffen erzählt und auch von den Katastrophen in euren Atomkraftwerken und von den Problemen mit dem Atommüll.”

“Und was sollte das Ganze mit diesem Stein?”

“Ganz genau, was sollte das Ganze?”, fügte der Großvater hinzu. “Wladimir, es ist deine Aufgabe, den Kleinen zu erziehen. Was mich betrifft, so werde ich mich erstmal aufs Ohr hauen. Dein Sohn hat mich in letzter Zeit zu sehr beansprucht.”

Der Großvater ging davon, und so war ich allein mit meinem Sohn, der in seinem nassen Hemd vor mir stand. Es war ihm anzusehen, dass er sich schlecht fühlte, weil er uns alle so sehr in Angst und Schrecken versetzt hatte. Mir war allerdings auch nicht danach, ihn zu rügen und den Aufpasser zu spielen. So stand ich einfach nur schweigend da, denn ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Wolodja fing als Erster an zu sprechen.

“Versteh doch, Papa, Opa hat mir gesagt, dass allein die Aufbewahrungsorte für Atommüll eine große Gefahr bedeuten. Nach der Wahrscheinlichkeitstheorie können sie in ihrer Umgebung großen Schaden für Land und Leute anrichten – sogar auf dem ganzen Planeten.”

“Gut, aber was hat das mit dir zu tun?”

“Wenn die Menschen denken, das Problem sei gelöst, die Gefahr aber noch immer besteht, dann haben sie sich geirrt.”

“Na und?”

“Opa hat gesagt, ich soll die richtige Lösung finden.”

“Und? Hast du sie gefunden?”

“Ja, Papa, gerade eben.”

Es war schon seltsam. Hier stand mein Sohn vor mir, gerade mal neun Jahre alt, und sprach in ruhigem, überzeugtem Ton über die sichere Aufbewahrung von nuklearem Abfall. Dabei hatte er noch nicht einmal eine Schule besucht, ganz zu schweigen davon, dass er eine Ausbildung in Kernphysik absolviert hätte. Ohne eine tatsächliche Lösung zu diesem Problem von ihm zu erwarten, sondern einfach um das Gespräch weiterzuführen, fragte ich ihn: “Und was ist dir konkret zu diesem unlösbaren Problem eingefallen?”

“Es gibt mehrere Möglichkeiten, aber die effektivste Lösung ist die der Dezentralisierung.”

“Wie bitte? Dezentralisierung wovon?”

“Von den Abfällen, Papa.”

“Wie meinst du das?”

“Ich habe erkannt, dass diese Strahlung in kleiner Dosis überhaupt nicht gefährlich ist, Papa. In geringer Menge ist sie in allem enthalten: in uns selbst, in den Pflanzen, im Wasser, in den Wolken. Wenn sie aber an einer Stelle in hoher Konzentration auftritt, dann besteht eine echte Gefahr. In den Atommülllagern, von denen mir Opa erzählte, wird zu viel radioaktives Material an einem Ort aufbewahrt.”

“Nun, das ist allgemein bekannt. Deshalb wird ja der Atommüll in eigens dafür errichteten Lagern aufbewahrt, die sorgfältig vor Terroristen geschützt werden. Jedes dieser Lager wird von speziell ausgebildetem Personal überwacht, um die Einhaltung der Aufbewahrungsvorschriften zu gewährleisten.”

“Das schon, Papa, aber es ist trotzdem gefährlich. Nicht nur gefährlich, Katastrophen sind sogar unvermeidlich. Und der Grund dafür ist, dass irgendjemandem eine schlechte Lösung eingefallen ist, die dann den Menschen aufgezwungen wurde.”

“Mein Sohn, mit diesem Problem haben sich wissenschaftliche Institute beschäftigt, an denen große Gelehrte arbeiten. Du kennst diese Leute nicht und hast auch von dem Wissensgebiet selbst keine Ahnung. Also kannst du dir auch kein Urteil über die Lösung des Problems erlauben. Das alles ist Sache der modernen Wissenschaft.”

“Aber was kommt dabei heraus, Papa? Es sind doch gerade die Schlussfolgerungen der modernen Wissenschaft, die für die Menschheit eine so große Gefahr darstellen. Ich gehe freilich nicht zur Schule und kenne mich auch nicht in den Wissensgebieten aus, von denen du sprichst, aber …”

Er schwieg und senkte den Kopf.

“Aber was? Wieso sprichst du nicht weiter?”

“Ich will nicht zu einer solchen Schule gehen und auch nicht die Art von Wissenschaft erlernen, die du meinst.”

“Warum nicht?”

“Weil solche Wissenschaft zu Katastrophen führt.”

“Aber andere Arten von Wissenschaft gibt es doch nicht!”

“Doch. Mama sagt immer: ‘Man muss die Realität allein mit seiner eigenen Seele begreifen.’ Ich weiß, dass sie damit Recht hat, und will mich danach richten. Deshalb lerne ich lieber für mich selbst. Ich weiß noch nicht, wie ich das besser ausdrücken kann.”

“Erstaunlich, wie sehr er auf seinen Überzeugungen beharrt!”, dachte ich und fragte: “Wie groß ist denn deiner Meinung nach die Wahrscheinlichkeit, dass eine solche Katastrophe eintritt?”

“Hundert Prozent.”

“Bist du dir da sicher?”

“Die Wahrscheinlichkeitstheorie und die Tatsache, dass viele zu passiv sind gegen unheilvolles Denken sagen mir, dass die Katastrophe kommen muss. Den Bau der großen Atommülllager kann man mit dem Bau großer Bomben vergleichen.”

“Dann wirkt dein Denken wohl dem destruktiven Denken entgegen?”

“Ja, ich habe meine Gedanken in den Kosmos entsandt, und sie werden sich durchsetzen.”

“Und was haben deine Gedanken konkret zur sicheren Aufbewahrung des Atommülls beigetragen?”

“Ich denke, all der Atommüll, der in den großen Lagern in hoher Konzentration gespeichert wird, muss aufgeteilt werden.”

“Aufgeteilt – meinst du in Tausende und Millionen kleiner Teilchen?”

“Ja, Papa.”

“Wie einfach! Aber die wesentliche Frage bleibt – wo sollen all diese Teilchen gelagert werden?”

“Auf den Familienlandsitzen, Papa.”

Zuerst konnte ich kaum glauben, was ich da soeben gehört hatte, und wusste nichts zu entgegnen. Dann schrie ich fast zurück: “Du phantasierst! Der Fieberwahn muss dich gepackt haben, Wolodja!”

Nachdem ich mich etwas gefasst hatte, fügte ich hinzu: “Natürlich lässt sich eine globale Katastrophe vermeiden, indem man die nuklearen Abfälle auf verschiedene Lager aufteilt. Dafür werden aber Millionen von Familien, die auf ihren Landsitzen leben, in Lebensgefahr gebracht. Und alle Leute wollen doch in einer ökologisch reinen Umgebung wohnen.”

“Ja, das stimmt, Papa. Nur gibt es auf der ganzen Welt fast keine solchen ökologisch reinen Orte mehr.”

“Und wie wäre es mit der Taiga hier?”

“Die Gegend hier ist verhältnismäßig rein, aber auch nicht ideal. Ideale Gegenden gibt es nicht mehr. Die Wolken bringen aus allen Himmelsrichtungen sauren Regen mit. Die Gräser, Bäume und Büsche kommen bisher noch einigermaßen mit der Verschmutzung zurecht, aber die unreinen Orte dieser Welt werden mit jedem Tag größer und noch unreiner. Deshalb ist es jetzt wichtig, nicht vor dem Schmutz davonzulaufen, sondern etwas gegen ihn zu unternehmen. Mama sagt: ‘Wir selber müssen reine Orte schaffen.’

Aus der großen Menge möglicher Varianten hat mein Geist die einzig praktische Lösung herausgesucht. Meine Idee ist, den Müll nicht zentral zu lagern, sondern in kleinen Portionen auf den Familienlandsitzen zu verteilen. Diese kleinen Partikel müssen gezähmt werden, damit sie fürs Leben Nutzen bringen. Für das Leben auf Erden erscheint mir diese Lösung jedenfalls noch am sichersten.”

“Und wo dort? In der Vorratskammer? Im Safe? Oder vielleicht eingekapselt im Keller? Hat deine grandiose Idee eine Antwort darauf?”

“Die Kapseln müssen unter der Erde vergraben werden, in mindestens neun Metern Tiefe.”

Dieser Vorschlag meines Sohnes erschien mir zunächst schier unglaublich. Doch je länger ich darüber nachdachte, desto mehr neigte ich dazu, ein Körnchen Rationalität darin zu entdecken. Zumindest könnte man durch eine solche Aufbewahrung von nuklearem Abfall auf jeden Fall eine Megakatastrophe verhindern. Und was die Verschmutzung der einzelnen Gehöfte betrifft, so kann man sie nicht nur vermeiden, sondern sogar einen Nutzen daraus ziehen. Vielleicht gelingt es ja den Wissenschaftlern zum Beispiel, einen Minireaktor zu entwerfen.

Plötzlich hatte ich einen Geistesblitz – mir kam ein weiterer Grund für die Dezentralisierung von Atommülllagern in den Sinn: das Geld! Andere Staaten zahlen Unsummen, um ihre nuklearen Abfälle zu lagern. Von diesem Geld bauen sie die Lagerstätten und bezahlen das Bedienungspersonal und die Schutzsysteme. Ein Teil des Geldes versickert wie gewöhnlich in unbekannten Kanälen. Wäre es nicht toll, wenn all dieses Geld an die Landgüter gehen würde, die eingekapselten Atommüll lagern? So wäre die Masse der Bevölkerung vor Strahlungskrankheiten geschützt, und außerdem würden Devisen in unser Land fließen.

Zurzeit kann niemand irgendwelche Sicherheit garantieren, nicht einmal den Menschen, die fern von den Atommülllagern leben. Als das Unglück im Atomkraftwerk von Tschernobyl passierte, wurden nicht nur Gebiete in der Ukraine verseucht, sondern auch in Russland und Weißrussland. Und durch die Wolken wurden die radioaktiven Teilchen bis nach Mitteleuropa getragen. Folglich verdient der Vorschlag meines Sohnes, so grob umrissen er auch sein mag, die Aufmerksamkeit der wissenschaftlichen Welt, der Regierungen und – vor allem – der Öffentlichkeit.

Ich spazierte am Seeufer entlang und hing meinen Gedanken nach; meinen Sohn hatte ich darüber ganz vergessen. Er stand schweigend an der gleichen Stelle wie zuvor. Seine Erziehung gestattete es ihm nicht, mich anzusprechen, denn dort in der Taiga gilt es als unzulässig, den Gedankenfluss eines Menschen zu unterbrechen. Ich beschloss, das Thema zu wechseln.

“Anscheinend denkst du ständig über irgendwelche Probleme nach, Wolodja. Hast du denn keine Pflichten zu erfüllen? Musst du gar nicht arbeiten?”

“Arbeiten? … Müssen? Ich tue immer, was ich will. Was meinst du eigentlich mit ‘arbeiten’, Papa?”

“Arbeit … nun, das ist, wenn du etwas tust und dann dafür Geld bekommst. Oder du tust etwas, was der ganzen Familie nützt. Als ich so alt war wie du, haben mir zum Beispiel meine Eltern aufgetragen, mich um die Kaninchen zu kümmern. Das tat ich dann auch. Ich rupfte Gras für sie ab, fütterte sie und reinigte ihre Ställe. Und durch die Kaninchen hatte unsere Familie ein zusätzliches Einkommen.”

Wolodja hörte mir zu und sagte plötzlich aufgeregt: “Papa, ich werde dir jetzt von einer Pflicht erzählen, die ich mir selbst gegeben habe. Es ist eine sehr frohe Pflicht. Entscheide du selber, ob sie Arbeit zu nennen ist oder nicht.”

“Ich bin ganz Ohr.”

“Dann lass uns ein Stückchen gehen. Ich möchte dir eine Stelle zeigen.”

3. Kapitel

“Wulle, wulle Gänschen – gi-ga-gack!” oder: das Überwissen, das wir verlieren

Wir entfernten uns vom See. Wolodja ging voran. Er war plötzlich wie verändert. Seine Nachdenklichkeit war in freudige Erregung umgeschlagen. Mal hüpfte er beim Gehen, mal drehte er sich im Kreise, und er redete in einem fort: “Um Kaninchen kümmere ich mich nicht, Papa. Es ist etwas anderes – wie soll ich es nur nennen? Ich habe etwas geboren … nein, das passt nicht. Erschaffen? – Auch nicht gut. Warte, jetzt erinnere ich mich, wie das bei euch genannt wird: Eier ausbrüten. Genau, ich habe Eier ausgebrütet.”

“Wie meinst du das – ausgebrütet? Eier werden von Hennen ausgebrütet oder von anderen Vögeln.”

“Das weiß ich, aber dennoch musste ich es selbst tun.”

“Warum? Erzähle mir alles schön der Reihe nach.”

“Der Reihe nach, na gut. Also, es war so: Eines Tages bat ich Opa, für mich ein paar Vogeleier zu suchen – Eier von Wildenten und Wildgänsen. Zuerst war er gar nicht froh darüber und brummte etwas vor sich hin, aber nach drei Tagen brachte er mir vier große Gänseeier und fünf etwas kleinere Enteneier.

Weiter der Reihe nach: Ich grub ein kleines Loch, legte den Grund des Loches mit Hirschkot und Gras aus und bedeckte diese Mischung mit einer Schicht Stroh. Obendrauf legte ich die Eier, die Opa mir gegeben hatte.

“Wozu der Kot?”

“Der sorgt für die Wärme, die die Küken zum Ausschlüpfen brauchen. Aber auch von oben muss es schön warm sein. Deshalb habe ich mich manchmal mit dem Bauch aufs Loch gelegt. Bei Kälte oder Regen trug ich einem Bären auf, auf dem Loch zu liegen.”

“Und hat der Bär die Eier nicht zerdrückt?”

“Nein, das Loch war ja viel kleiner als der Bär. Er lag auf dem Loch und die Eier unten drin. Mal ließ ich eine Wölfin die Eier beschützen, mal schlief ich selbst neben ihnen, bis die Jungen schlüpften. Es war eine große Freude, dabei zuzusehen. Nicht alle Eier waren befruchtet. Aus neun Eiern schlüpften zwei Gänslein und zwei Entlein. Ich fütterte sie mit Grassamen und zerkleinerten Nüssen und ging mit ihnen ins Wasser. Wenn ich sie fütterte, lud ich auch andere Tiere aus der Umgebung ein.”

“Wozu das?”

“Sie sollten sehen, dass ich mich um die Vogeljungen kümmerte. So verstanden sie, dass sie ihnen nichts tun durften, sondern sie im Gegenteil beschützen sollten. In der Nacht schlief ich neben dem Nest. Bei Kälte oder Regen ließ ich dort einen Bären schlafen. Die Jungen krochen unter sein warmes Fell und machten es sich dort gemütlich.

Rings um das Loch steckte ich eine Reihe von Pflöcken in die Erde, die ich mit einem Geflecht aus Zweigen zu einem Zaun verband. Auch die obere Öffnung verschloss ich mit einem Flechtwerk aus Zweigen. Die kleinen Enten und Gänse wuchsen heran und lernten, aus ihrem Loch hervorzukriechen. Ich ging um das Netz herum und pfiff drei Mal kurz: ‘Tju-tju-tju.’ Sofort kamen sie hervor und trippelten hinter mir her. Sie haben auch versucht, dem Bären zu folgen, aber das habe ich ihnen abgewöhnt, denn der Bär könnte zu weit umherschweifen, und die Jungen würden möglicherweise in der Wildnis umkommen.

Zum Glück ist ihnen nie etwas zugestoßen. Sie wuchsen heran, bekamen Federn und lernten zu fliegen. Ich warf sie in die Höhe, um es ihnen beizubringen. So begannen sie umherzufliegen, aber sie kamen immer wieder in ihr Gehege zurück.

Als es dann Herbst wurde und sich die Vögel in Schwärmen versammelten, um in den Süden zu ziehen, schlossen sich meine flügge gewordenen Entlein einem Entenschwarm an, meine Gänslein einem Gänseschwarm, und dann flogen sie alle auf und davon – in wärmere Gegenden. Ich hoffte … ich war fast überzeugt davon, dass sie im Frühling zurückkommen würden. Und stell dir vor, das taten sie auch! Papa, das war ganz toll! Als sie kamen, hörte ich ihre frohen Schreie: ‘Gi-ga-gack!’ Ich rannte zu ihrem Gehege und begann laut zu pfeifen: ‘Tju-tju-tju.’ Ich fütterte sie mit Grassamen und mit zerhackten Nüssen. Sie fraßen mir aus der Hand. Es war eine Riesenfreude. Auch die Tiere aus der Umgebung kamen herbeigelaufen und feierten das Wiedersehen. Sieh nur, Papa, jetzt sind wir da!”

An einer windgeschützten Stelle, zwischen zwei Johannisbeersträuchern, erblickte ich den Flechtbau meines Sohnes. Aber er war leer.

“Du hast doch gesagt, sie seien zurückgekehrt”, meinte ich.

“Sind sie auch. Sie sind nur gerade fortgeflogen, um Nahrung zu suchen. Aber schau nur dort, Papa!”

Wolodja schob die Zweige auseinander, um den Eingang zu erweitern, und ich sah drei kleine Nestgruben. In einer lagen fünf kleine Eier – wahrscheinlich Enteneier –, in einer anderen ein größeres Ei, das ich als ein Gänseei identifizierte.

“Tatsächlich, dann sie sind wohl doch zurückgekehrt und haben Eier gelegt … aber nur ein paar.”

“Ja!”, rief Wolodja begeistert. “Sie sind heimgekehrt und haben Eier gelegt. Sie können auch mehr Eier legen, wenn man ihnen einen Teil der Eier wegnimmt und sie öfter füttert.”

Mein Sohn strahlte über das ganze Gesicht. Ich begriff nicht wieso und fragte ihn: “Worüber freust du dich eigentlich so sehr, Wolodja. Niemand hier – weder Großvater noch deine Mama noch du – würden diese Eier essen. Deshalb kann ich deine Beschäftigung nicht Arbeit nennen, denn sie hat keinen praktischen Nutzen.”

“Wirklich? Aber andere Menschen essen doch Vogeleier. Mama sagt, man kann alles verwenden, was die Tiere von sich aus dem Menschen geben. Das gilt besonders für Menschen, die es gewohnt sind, sich nicht nur von Pflanzen zu ernähren.”

“Und was haben die Leute mit dem zu tun, was du hier machst?”

“Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass alles dafür getan werden muss, um die Menschen, die auf dem Lande leben, von ihren wirtschaftlichen Sorgen zu entlasten. Damit sie mehr Zeit haben zum Nachdenken – zum Nachdenken über die Pläne Gottes, des Schöpfers unserer Welt. Mir gefällt die Wissenschaft der Erkenntnis Seiner Gedanken. Es ist die größte Wissenschaft, und man muss sie einfach verstehen – um zum Beispiel die Frage zu beantworten: Warum hat Er es so gemacht, dass die Vögel im Herbst in den Süden fliegen, aber dann nicht in den warmen Regionen bleiben, sondern wieder zurückkehren? Ich habe viel darüber nachgedacht, und ich vermute, Er hat es deshalb so eingerichtet, um die Menschen im Winter zu entlasten. Im Winter finden die Vögel kein Futter und fliegen fort. Aber sie bleiben nicht im Süden, sondern kommen zurück, um den Menschen dienlich zu sein. Das ist Gottes Wille. Der Mensch muss lernen, die Absichten Gottes zu erkennen.”

“Du vermutest also, Wolodja, dass auf jedem Bauernhof – oder zumindest auf vielen – Enten und Gänse leben können, die dort Eier legen und gefüttert werden. Im Herbst fliegen sie dann in den Süden, um im Frühling zurückzukehren. Stimmt’s?”

“Ja – bei mir ging es doch auch.”

“Na gut, bei dir ging es, einverstanden. Da wäre allerdings noch etwas … Es wird dir nicht gefallen, aber ich muss dir die Wahrheit sagen – damit du dich mit deinem Vorschlag nicht blamierst.”

“Sag mir die Wahrheit, Papa.”

“Also gut. Weißt du, es gibt da eine Wissenschaft, genannt Ökonomie oder Wirtschaftswissenschaft. Wirtschaftswissenschaftler berechnen, wie man die Produktion von Waren – in diesem Fall von Eiern – rationalisieren kann. In unserer Welt gibt es viele Geflügelfarmen. Auf jeder von ihnen werden Unmengen Hühner gehalten. Diese Hühner legen Eier, die dann in Geschäften verkauft werden. Die Menschen kommen in die Geschäfte und kaufen so viele Eier, wie sie brauchen. Das Ganze zielt darauf ab, den Arbeitsaufwand und die Zeit für die Produktion eines Eies möglichst gering zu halten.”

“Arbeitsaufwand – was ist das, Papa?”

“Das ist die Summe der aufgewendeten Arbeit und Zeit für die Produktion eines Eies. Man muss sehr gewissenhaft kalkulieren, um den Ablauf so effektiv und damit so gut wie möglich zu gestalten.”

“Gut, ich werde mich bemühen, das zu berücksichtigen, Papa.”

“Wenn du alle Faktoren berücksichtigst, wirst du es selbst verstehen. Aber dazu brauchst du Unterlagen über die Kosten. Ich werde versuchen, sie von einem Volkswirt zu besorgen.”

“Aber ich kann das auch selber ausrechnen, Papa.”

Wolodja runzelte ein wenig die Stirn und sagte nach nur einer Minute: “Minus zwei gegenüber der Unendlichkeit.”

“Was ist denn das für eine Formel?”

“Die Effektivität der göttlichen Ökonomie kann durch eine positive unendliche Zahlenreihe ausgedrückt werden. Die moderne wissenschaftliche Ökonomie hingegen unterschreitet den Nullpunkt um zwei Einheiten.”

“Du hast schon eine seltsame Art zu rechnen, da komm ich nicht ganz mit. Könntest du mir das etwas erklären?”

“Ich habe mir einen Ausgangspunkt meiner Rechnung vorgestellt, in diesem Fall die Null. Alle Kosten der Eierfabrik, angefangen von ihrem Bau bis hin zur Lieferung der Eier in die Geschäfte, belaufen sich auf minus eins.”

“Wieso minus eins? Kosten werden doch in Rubeln und Kopeken berechnet.”

“Währungen sind nie stabil, daher sind sie für diese Kalkulation unbrauchbar. Wir setzen einfach das Maß all dieser Kosten auf minus eins fest. Wenn solche Kosten entstehen, so belaufen sie sich also auf minus eins.”

“Und wie kommst du dann auf minus zwei?”

“Durch die verminderte Qualität. Solche Eier können nicht gut sein. Die unnatürliche Haltung der Hühner und das einseitige Futter werden die Qualität der Eier auf jeden Fall verringern, daher das zweite Minus. Zusammen kommen wir also auf minus zwei.”