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Was
soll an
meiner
Nase
bitte
jüdisch
sein?

Thomas Meyer

über den Antisemitismus im Alltag

Elster & Salis AG wird vom Bundesamt für Kultur mit
einem Förderbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.

 

Was soll an meiner Nase bitte jüdisch sein?

 

Thomas Meyer über den Antisemitismus im Alltag

Verlag

Elster & Salis AG, Zürich
info@elstersalis.com
www.elstersalis.com

Lektorat/Korrektorat

Patrick Schär für Torat GmbH

Satz

Peter Löffelholz für Torat GmbH

Umschlaggestaltung

Anja Mikula

Gesamtrealisation

www.torat.ch

Gesamtherstellung

CPI Books GmbH, Leck

 

1. Auflage 2021

 

© 2021, Elster & Salis AG, Zürich

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN 978-3-03930-014-3

 

eISBN 978-3-03930-015-0

Inhalt

Einleitung

Umfrage

Herkunft

Schweigen

Definition

Zwischenbericht

Sinnlosigkeit

Hochmut

Prägung

Groll

Selbstkritik

Prägung, ff.

Wunsch

Fazit

Dank

zum Autor

image Ich verwende im Folgenden der Leserlichkeit halber meist die männliche Schreibweise. Selbstverständlich dürfen sich auch Antisemitinnen adressiert fühlen sowie alle weiteren Identitäten mit entsprechender Geisteshaltung.

Gemäß den Empfehlungen von Amnesty International schreibe ich außerdem über »Schwarze Menschen«. Auf die ebenfalls empfohlene Kursivierung von »weiß« habe ich hingegen verzichtet.

www.amnesty.de/2017/3/1/glossar-fuer-diskriminierungssensible-sprache

Einleitung

Liebe Nichtjüdin!

Lieber Nichtjude!

Liebe nichtjüdische Person!image

Hier wird’s jetzt gleich etwas ungemütlich, und zwar für uns beide: Ich werde vom Antisemitismus berichten, den ich seit Jahrzehnten erlebe, und Sie werden hören, dass Sie mit großer Wahrscheinlichkeit antisemitisches Gedankengut in sich tragen.

Sehen Sie? Schon ungemütlich.

Bestimmt irritiert und verärgert es Sie, sich Judenfeindlichkeit unterstellen zu lassen. »Ich bin doch kein Neonazi!«, sagen Sie vielleicht.

Falls Sie in Deutschland aufgewachsen und der entsprechenden historischen Schocktherapie unterzogen worden sind, wollen Sie vermutlich erst recht nichts davon hören. »Ich weiß, was wir angerichtet haben, und will mir kein schlechtes Gewissen mehr machen lassen«, sagen Sie vielleicht.

image Die US-amerikanische Soziologin Robin Jeanne DiAngelo hat für dieses abwehrende Verhalten im Zusammenhang mit weißen Menschen in den USA den Begriff »White Fragility« geprägt:

»Weiße Menschen leben in einer Gesellschaft, die zutiefst von praktischer Rassentrennung und -ungleichheit geprägt ist, und sie profitieren von dieser Trennung und Ungleichheit. Folglich sind wir Weißen gegen die Belastungen und den Stress abgeschirmt, die aus rassistischer Benachteiligung erwachsen, und haben zugleich das Gefühl, wir hätten einen wohlverdienten Anspruch auf unsere Vorteile. (…) Da uns ein tief verinnerlichtes Überlegenheitsgefühl anerzogen wurde, das uns entweder nicht bewusst ist oder das wir uns nicht eingestehen können, reagieren wir in Gesprächen, in denen es um ›Rasse‹ oder Rassismus geht, äußerst empfindlich. (…) Bereits der geringste Stress durch Konfrontation mit Rassismus ist unerträglich. Allein schon die Andeutung, Weißsein sei von Belang, löst häufig eine ganze Reihe von Abwehrreaktionen aus. Dazu gehören Emotionen wie Wut, Angst und Schuldgefühle und Verhaltensweisen wie Argumentieren, Schweigen und Rückzug aus der Stresssituation. (…) Diesen Mechanismus bezeichne ich als ›Weiße Fragilität‹ (…).«

Robin J. DiAngelo, Wir müssen über Rassismus reden. Was es bedeutet, in unserer Gesellschaft weiß zu sein, Hoffmann & Campe, 2020

Ich hingegen will mir keine Lügenmärchen und frechen Scherze über Juden mehr anhören – und schon gar nicht, dass es sich dabei nicht um Märchen, sondern um Tatsachen handle und die Scherze freundschaftlich seien, nicht frech.

In den Augen vieler Nichtjuden ist Antisemitismus eine Gesinnung, der nur gewalttätige Extremisten, also schlechte Menschen anhängen. Da sie aber solchen Kreisen nicht angehören und somit zu den guten Menschen zählen, kann unmöglich antisemitisch sein, was sie von sich geben.

Behauptet ein Jude das Gegenteil, kommt er meist nicht sehr weit: Nach wenigen Worten fühlt sich sein Gesprächspartner vollkommen verkannt und protestiert entsprechend scharf gegen die Unterstellung, eine antisemitische Äußerung gemacht oder gar eine antisemitische Haltung zu haben.image

Ich habe diesen Text daher vor allem geschrieben, damit ich endlich mal ausreden kann. Aber auch, damit Sie, liebe nichtjüdische Personen, sich mit dem alltäglichen Antisemitismus auseinandersetzen, der nie handgreiflich wird, sich stets realistisch gibt und dadurch ebenso harmlos wie seriös wirkt – und sich in der Weltsicht vieler friedliebender, anständiger und gebildeter, eben guter Menschen eingenistet hat. Vermutlich auch in Ihrer.

Sind Sie noch da?

Dann möchte ich mich gern vorstellen.

Mein Name ist Thomas Meyer, ich bin 47 Jahre alt, lebe in Zürich und bin Vater, Schriftsteller und Jude. Diese drei Charakteristika machen mich, würde ich meinen, zur Hauptsache aus. Es vergeht kein Tag, an dem sie mich nicht bewegen und erfüllen. Hinsichtlich des Judentums verwundert mich das selbst immer wieder, denn Religion bedeutet mir nichts. Im Gegenteil, ich betrachte sie als diktatorischen Irrweg fernab der Göttlichkeit, die für mich in der Natur zu finden ist, nicht in menschlichen Bauten und Regelwerken. Schon als kleiner Junge konnte ich nichts damit anfangen. Meine Mutter versuchte, mir die Jiddischkajt, nach der sie sich seit ihrer eigenen, gänzlich säkularen Kindheit gesehnt hatte, mittels einiger Synagogen-besuche näherzubringen, aber ich verstand nicht, was ich inmitten eines Haufens fremder Erwachsener verloren hatte, die den ganzen Abend in einem Buch blätterten und dabei unverständliches Zeug murmelten. Meine Mutter konnte es mir auch nicht so recht erklären. Also drängte ich sie zur baldigen Heimkehr, da mich meine Legos wesentlich mehr interessierten als der Dienst für einen Gott, der seit der Erschaffung der Welt offenbar nur noch das Ziel verfolgt, seine Geschöpfe zu langweilen.

Doch das Judentum ist nicht nur eine Religion und eine Gemeinschaft. Es ist vor allem eine Identität, und als solche ist es mir so wichtig und nahe, dass ich es in eine Reihe stelle mit meiner Vaterschaft und dem Schreiben. Ich fühle mich durch und durch jüdisch, und zwar ganz einfach, weil meine Mutter erstens jüdisch ist und zweitens meine Mutter. Diese zwei Tatsachen sind unumstößlich, wie auch immer ich mich dazu stelle. Es gab Zeiten, da hätte ich meine Mame am liebsten mit der El Al auf den Mond ausfliegen lassen, aber dort oben wäre sie immer noch meine Mame gewesen und hätte bestimmt neue Wege gefunden, sich in mein Leben einzumischen. Mit dem Judentum verhält es sich ganz ähnlich: Ich hatte keine Bar-Mizwa, halte mich, soweit ich weiß, an kaum eines der 613 Ge- und Verbote, begehe keinen der jüdischen Feiertage und habe bei der Wahl meiner Freundinnen auf alles Mögliche geachtet, aber nie darauf, ob sie jüdisch waren. Und doch brennt in mir ein kleines Öllämpchen, das niemals erlischt und hell zu leuchten beginnt, sobald ich in Israel ankomme. Dort gibt es zwar eine Menge Leute, die komplett durchgeknallt sind, was Religion betrifft, und politisch ist es eine blanke Katastrophe, aber es ist das Land der Juden und somit auch meines. Ich bin vielleicht nicht das vorzeigbarste Zweiglein am Stamm, aber ich gehöre unwiderruflich dazu.

Umfrage

1.

Sind Sie Antisemit?

Falls ja: Warum?

Falls nein: Warum nicht?

2.

Wer und was kommt Ihnen spontan in den Sinn, wenn Sie an »die Juden« denken?

3.

Glauben Sie, dass Juden bestimmte Eigenschaften haben?

Falls ja: Welche?

4.

Wie erklären Sie es, wenn eine jüdische Person über keine dieser Eigenschaften verfügt?

a) sie ist eine Ausnahme

b) sie versteckt es gut

c) ich habe nicht richtig hingeschaut

d) sie ist vielleicht gar nicht jüdisch

e) ich hinterfrage meine Denkweise

5.

Was ändert sich für Sie, wenn Sie von einem Menschen erfahren, dass er jüdisch ist?

Was erwarten Sie nun von ihm?

6.

Ist Ihnen unwohl in der Gegenwart von Juden?

Falls ja: Warum?

7.

Wie viele Juden kennen Sie persönlich?

Gibt es Erfahrungen, die Sie mit ihnen wiederholt gemacht haben?

8.

Wie viele Vertreter einer bestimmten Bevölkerungsgruppe muss man Ihrer Meinung nach persönlich kennen, um ein allgemeingültiges Urteil über sie fällen zu können?

a) einen

b) zehn

c) hundert

d) alle

9.

War die Tatsache, dass ein bestimmter Mensch jüdisch ist, für Sie schon mal eine Erklärung oder ein Beweis?

Falls ja: Wofür?

10.

Wie wäre Ihre Meinung zu Israel, wäre es kein jüdisches Land?

Hätten Sie überhaupt eine?

11.

Glauben Sie, Sie seien ein besserer Mensch, wenn Sie sich positiv über Juden äußern?

12.

Wenn jemand nicht jüdisch ist, aber enorm geld-gierig – wundern Sie sich dann, dass er kein Jude ist, oder nehmen Sie es einfach so hin als zufälligen Charakterzug?

image Es gibt übrigens keine »Halbjuden«. Jude ist man gemäß der Halacha, dem jüdischen Religionsgesetz, wenn man eine jüdische Mutter hat. Ist die Mutter nicht jüdisch, ist man keiner. »Halbjude« ist eine Erfindung der Nazis, die das Judentum als »Rasse« ansahen und aufgrund der »Nürnberger Rassengesetze« ab 1935 auch Menschen mit einem jüdischen Großelternteil als »Mischlinge« verfolgten.

Zwar kann man zum Judentum übertreten, aber da es keine Bekennungsreligion ist, reicht ein Aufnahmeritual wie die christliche Taufe nicht aus – man muss bereits eine Weile lang religiös leben und wird dabei wiederholt einer peniblen Gesinnungs- und Praxisprüfung sowie gezieltem Liebesentzug unterworfen, was alles in allem einer jüdischen Mutter jedoch durchaus gleichkommt.

13.

Wie bezeichnen Sie jemanden, der in der Schweiz aufgewachsen ist und eine jüdische Mutter hat?

a) Ju–, äh … Mitbürger jüdischer, äh, Herkunft

b) Schweizer Halbjudeimage

c) Jude in der Schweiz

d) Schweizer

e) ich nenne diesen Menschen einfach bei seinem Namen

14.

Angenommen, Sie unterhalten sich mit einer Jüdin und werden von ihr dafür kritisiert, eine antisemitische Äußerung gemacht zu haben. Wie reagieren Sie?

15.

Falls die Folge davon ist, dass die Jüdin den Kontakt zu Ihnen abbricht: Wie beurteilen Sie diesen Schritt?

a) sie hat mich falsch verstanden

b) sie ist zu empfindlich

c) sie hat keinen Humor

d) müssen sich nicht wundern über Antisemitismus, diese Leute!

e) ich bin offensichtlich zu weit gegangen

16.

Ein Jude verhält sich exakt gemäß einem Klischee, das Sie über »die Juden« pflegen. Weisen Sie ihn darauf hin?

Falls ja: Warum?

17.

Ein psychologischer Supercomputer hat festgestellt, dass Sie eindeutig antisemitisches Gedankengut haben. Wie reagieren Sie?

a) das ist unmöglich, der Computer muss defekt sein

b) der Computer ist bestimmt ein israelisches Produkt

c) ich zerstöre den Computer, damit keiner von der Diagnose erfährt