Susanne Ospelkaus, Jahrgang 1976, geboren in Frankfurt (Oder), lebt mit ihrem zweiten Mann Alexander und den zwei Söhnen nahe München. Sie ist Autorin, Dozentin für pflegerische und pädagogische Berufe und Therapeutin in der Pädiatrie.
Sie liebt die Begegnungen mit Menschen und spürt auf, was das Leben wertvoll macht, trotz Einschränkung, Verlust oder Enttäuschung. Ihre Beobachtungen finden sich in Erzählungen für Kinder und Jugendliche sowie in journalistischen Texten wieder.
„Meine Reise durch das Trauerland“ ist ihre persönliche Geschichte über Abschiednehmen, Loslassen und Neuanfänge.
Anfragen für Lesungen und Veranstaltungen:
www.susanne-ospelkaus.com
© 2021 Brunnen Verlag GmbH
www.brunnen-verlag.de
Lektorat: Petra Hahn-Lütjen
Umschlagfoto: Susanne Wagner, wagner1972.com
Umschlaggestaltung: Daniela Sprenger
Satz: DTP Brunnen
ISBN Buch 978-3-7655-0761-8
ISBN E-book 978-3-7655-7585-3
Für alle, die durch ein Trauerland gehen.
Bleib nicht stehen!
In liebevoller Erinnerung an Thomas Luck
Über „Meine Reise durch das Trauerland“
1. Lebensbund
Auf der Suche nach Klarheit
Noch mal
Was für ein Zirkus
Besorgt und versorgt
2. Folge der Trauer
Ich sehe dich
3. Lebensmut
Fühlen
Glauben
Wissen
Glückspillen
Zuhause
4. Vertraue der Trauer
Ich begleite dich
5. Lebenswund
Die Rettungskapsel
Turbulenzen
Aus der Bahn geworfen
Déjà-vu
Mutanfall
6. Die Trauer ist behutsam
Ich begleite dich
7. Lebenswert
Freudenbringer
Glücksucher
Ausnahmezustand
Äußerster Ausnahmezustand
Abschied bei Tageslicht
8. Die Trauer ist fürsorglich
Ich sammle deine Tränen
9. Lebensdrang
Schwierige Gleichungen
Lichtjahre
Guck mal!
10. Die Trauer bewahrt die Erinnerungen
Wir gehen gemeinsam durch die Zeit
11. Lebensmut
Mosaik
Wüstenwanderung
Wüstenwind
Epilog
Danksagung
Susanne Ospelkaus hat in ihrem Leben nicht nur große Verluste zu verwinden. Sie ist in ihrer ganz eigenen Art, davon zu berichten, eine wortgewaltige Poetin. Ihre Erzählung malt eindrückliche, zu Herzen gehende und entwaffnend ehrliche Alltagsbilder, die sich in der Seele einnisten und den Leser ganz nah ans Geschehen heranrücken lassen, ohne dass dabei das Gefühl aufkommt, zum Voyeur zu werden. Die Lektüre von „Meine Reise durch das Trauerland“ hat mich sehr angerührt.
Arne Kopfermann, Musiker und Autor
Was habe ich beim Lesen dieses Buches mitgefühlt, auch manche Träne vergossen (– denn in großen Teilen ist es meine eigene Geschichte von Verlust und Trauer). Was habe ich geschmunzelt, sogar laut gelacht, denn die sowohl poetische als auch bodenständige Schreibe dieser Schriftstellerin vermag es, dass sich Tragik und Komik, der Alltag und das Ungeheuerliche umspielen und gegenseitig zur Geltung bringen.
So malt Susanne Ospelkaus lebendige Bilder in unseren Köpfen, die erschüttern, mitreißen, trösten und beflügeln.
Thea Eichholz, Texterin und Musikerin
Als ich das Buch gelesen habe, hatte ich Tränen in den Augen – Tränen der Trauer und Tränen des Trostes. Susannes Leben und ihr Schicksalsschlag berühren zutiefst. Ein starkes Buch, das Mut macht und wunderbar zu lesen ist.
Stefan Schwabeneder, Radiomoderator und Autor
„Meine Reise durch das Trauerland“ ist fesselnd geschrieben! Ich fühle mich beim Lesen der Autorin sehr nah und verbunden, habe Tränen in den Augen und spüre gleichzeitig Hoffnung und Zuversicht. Wunderbar, dass es zwischendurch so witzig geschrieben ist – das lässt bei aller Dramatik aufatmen. Stark, wie hier Glaube lebendig wird und nichts abstrakt Religiöses ist, sondern mitten im Alltag passiert!
Persönlich faszinieren mich besonders die Texte, in denen die Trauer „spricht“ – so was habe ich noch selten gelesen.
So kreativ und gleichzeitig tief!
Frauke Teichen, ICF München
Das autobiografische Buch von Susanne Ospelkaus ist mehr als ein Rückblick auf durchlebte existenzielle Krisen einer jungen Familie. Mitreißend und zugleich hoch einfühlsam nimmt die Autorin ihre Leserinnen mit auf eine spannende Reise in die Vergangenheit, die einen Dialog zum Umgang mit eigenen Lebensfragen und Lebenskrisen eröffnet.
Ausgesprochen mutig und zutiefst ehrlich schreckt die Autorin auch vor sensiblen Themen nicht zurück und gibt auf diese Weise Gedanken und Gefühlen eine Sprache, die oft nur heimlich gedacht, aber nie ausgesprochen werden.
Die beschriebenen Erfahrungen eröffnen neue Perspektiven auf die Rolle der Trauer im Leben und den Umgang mit Leid.
Ein Buch, das man nicht mehr aus der Hand legt, wenn man einmal begonnen hat zu lesen.
Kathrin Douglass, Pfarrerin
Der Tag ist wunderschön: Sommersonne und Schmetterlinge, Kinderlachen und Seifenblasen, Butterbrot und Gummibärchen. Wir radeln über Feldwege. Das Getreide wiegt im Wind. Am Horizont kratzen die Alpen am Himmel. Wir leben östlich von München und können zwischen Natur und Stadt wählen. Die Berge locken, und ich trete in die Pedale, als würde es schon bergauf gehen. Dabei ist es flach. Ich kämpfe mich Meter für Meter vorwärts, während mein Mann Thomas durch das Getreidemeer gleitet, samt Kinderanhänger, Spielzeug, Wechselwäsche und Picknickkorb. Ich steige ab, schiebe und fühle mich wie eine 80-Jährige, nicht wie 30. Das Fahrrad wird zu meinem Rollator. Über den Lenker gebeugt, schiebe ich mich vorwärts. Es fühlt sich an, als kämpfe ich mich durch eine Wüste. Meine Füße versinken im Sand und jeder Schritt wird mühsam. Heiße Luft brennt in meinen Lungen. Sandkörner kratzen in meinem Hals. Vor meinen Augen flimmert die Landschaft, als würde sie sich auflösen und zu einem neuen Bild zusammensetzen. Das Getreidemeer ist zu einer grenzenlosen Wüste geworden, und mein Blick verliert sich am Horizont. Von Ferne höre ich ein Kinderlied und sehe meine Familie als schwebende Gestalten. Eine Fata Morgana in Oberbayern. Thomas hat das Verdeck des Fahrradanhängers geöffnet und beugt sich zu unseren Söhnen hinab. Wahrscheinlich beantwortet er Warum-Fragen. Warum sind Wolken weiß? Warum haben Kühe Flecken? Warum schnurren Katzen? Ferdinand will mit seinen drei Jahren die Welt verstehen und hat viele Fragen. Sein kleiner Bruder Eduard plappert ihm alles nach: „Ninad, warum? Papa, warum?“
Ich quäle mich vorwärts, konzentriert auf meinen Atem und Herzschlag. Von fern höre ich Ferdinand singen: „Summ, summ, summ, Bienchen, summ herum.“
Thomas’ Stimme begleitet die hohen Kindertöne mühelos. Vieles ist für ihn mühelos. Das Einzige, was ihn zu quälen scheint, ist die Suche nach dem perfekten Klang seiner Kompositionen, den besonderen Harmonien oder ungewöhnlichen Rhythmen.
Er ist Musiker, singt und spielt Gitarre, komponiert und schreibt Lieder. Seine Welt ist mir oft fremd, genauso wie ihm mein Wüstenland fremdartig erscheinen muss. Er versucht mir seine Welt nahezubringen und erzählt und erklärt. Ich hingegen schweige über meine unfreiwillige Wüstenwanderung, über Müdigkeit und Erschöpfung. Ich bin mir selbst fremd geworden.
Meine Hände sind schwitzig und die Gummigriffe am Lenkrad werden klebrig. Der Schweiß läuft mir den Rücken herunter. Es dauert lange, bis ich meine singenden Männer erreiche. Das kleine Lied ist zu Ende. Die Jungs mümmeln an Reiswaffeln. Die mit Spucke vollgesogenen Krümel kleben an Eduards Wangen. Ferdinand pflückt sie mit zwei Fingern von seinem Bruder ab und steckt sie sich selbst in den Mund. Thomas lacht. Gemeinsam haben wir immer viel gelacht, bis uns der Bauch wehtat. Diesmal steckt mich sein Lachen nicht an.
Plötzlich höre ich mich sagen: „Ich fühle keine Liebe mehr für dich.“
Wo kommen auf einmal diese Worte her? Aus der glühenden Wüste? Ich blicke hoch in das Gesicht meines Mannes und sehe, wie Entsetzen seine Lachfältchen vertreibt und die Fröhlichkeit in seinen Augen stockt. Seine Leichtigkeit ist verschwunden, verglüht in der Hitze meiner geheimen Welt.
Er schweigt und ich warte. Thomas ist ein Mann der wohlüberlegten Worte. Er redet nicht einfach drauflos und er lässt sich nicht provozieren. Wir laufen nebeneinander her und schieben unsere Räder, hinter uns plappern die Kinder vor Zufriedenheit.
Die schöne Kulisse passt nicht zu der Schwere in unserem Inneren. Trotz des Kummers fühle ich mich Thomas seit Langem wieder nah. Auf eine fremde und seltsame Weise verbindet uns die Trauer über die verlorene Leichtigkeit.
Das Getreidemeer weicht und eine Pferdekoppel liegt vor uns, wie Spielfiguren stehen die Pferde auf den eingezäunten Rechtecken.
Ferdinand jubelt: „Da, guck! Da sind Kühe.“
„Nein“, verbessert Thomas, „das sind Pferde.“
Seine Stimme klingt wie immer – freundlich und warm.
„Die weißen Pferde nennt man Schimmel und die schwarzen Rappen.“
Ich kann jetzt nichts tun, um die Verletzungen meiner Worte zurückzunehmen. Wenn die Kinder im Bett sind, müssen Thomas und ich reden.
Ferdinands Stimme trällert aus dem Anhänger: „Hopp, hopp, hopp, Pferdchen, lauf Galopp.“
Es ist die gleiche Melodie wie bei Bienchen, summ herum. Wieso fällt mir das jetzt auf?
Wir sitzen auf unserem weißen Sofa. Wie unvernünftig, sich ein weißes Sofa zu kaufen, wenn man kleine Kinder hat! Ich mag dieses helle Ding, in das man sich wie ein großes Federbett kuscheln kann. Es gibt Geborgenheit und die brauchen wir beide dringend. Erschöpft sinken wir in die Polster und ich staune, wie ruhig der Abend verlaufen ist.
Die frische Luft hat die Kinder müde gemacht. Ich badete sie und Thomas wärmte Brei auf. Sie aßen nur langsam und konnten ihre Augen kaum offen halten. Jeder trug ein Kind ins Zimmer, ganz weich und warm lag der kleine Körper an meiner Brust. Wie wunderbar er duftete. Wir sprachen ein Gebet und sangen ein Schlaflied. Ich schaffte nur ein paar Zeilen, dann versagte mir die Stimme.
Thomas sang weiter, und ich hustete und räusperte dazu im Rhythmus. Am liebsten hätte ich mich in die kleinen Bettchen gelegt und gewartet, dass jemand ein Lied für mich singt, mich zudeckt und mir einen Kuss auf die Stirn gibt.
Wir sitzen in dem weißen Sofa und fassen uns an den Händen. Es kostet mich Überwindung, Thomas zu berühren, denn ich weiß, wie sehr ich ihn verletzt habe. Ich bin dankbar für die Gewohnheit, uns beim Beten die Hände zu reichen. Thomas umschließt meine Finger, als ich ihn berühre. Ich fühle seine Wärme und den Ring an seinem Finger.
Er flüstert: „Wir haben es uns versprochen.“
„Ja.“
Er meint unser Ehegelöbnis. Der Druck seiner Hand wird stärker und ich sehe ihn an. In seinen Augen blitzt Entschlossenheit. „Wenn du sagst, dass du keine Liebe für mich fühlst, dann sind es wohl schlechte Zeiten für mich.“
Ich schüttle den Kopf. „Aber ich weiß, dass ich dich liebe. Irgendetwas stimmt nicht mit mir. Ich fühle mich schlapp, habe abgenommen und kann mich nicht einmal daran freuen. Ich huste und schwitze nachts mein Nachthemd nass.“
Thomas nimmt mich in den Arm und dann packen wir Kummer und Enttäuschungen in ein Gebet. Was wir einander nur schwer sagen können, sagen wir Gott. Wir sitzen noch lange auf dem Sofa. Hand in Hand.
Ich habe keine Lust, zu einem Arzt zu gehen, aber ich habe es Thomas versprochen. Die Kinder muss ich mitnehmen, denn wir haben keine Eltern in der Nähe, die uns die Jungs abnehmen könnten. Um aus einem unangenehmen Weg ein Ereignis zu machen, nehme ich den Bollerwagen. Ich polstere ihn mit Decken und Kissen aus, setze einen Plüschelefanten und einen Plastiktraktor hinein. Es sind nur anderthalb Kilometer zur Praxis und trotzdem verlässt mich meine Kraft auf halbem Weg. Ich habe mir zu viel vorgenommen. Die Wartezeit beim Arzt vertreiben wir uns mit krümelfreien Keksen und dem dreimaligen Vorlesen des Bilderbuches Die Raupe Nimmersatt.
Ich bin stolz, dass sich meine Söhne alleine beschäftigen, während sich der Arzt mit mir unterhält. Er macht sich Notizen und wiederholt: „Sie sind also erschöpft und haben keinen Appetit. Die Stimme versagt Ihnen und seit sechs Monaten fühlen Sie sich schlapp.“
Ich nicke. Er knipst auf dem Kugelschreiber herum und holt einen Rezeptzettel hervor. „Sie sind eine junge Mutter. Gönnen Sie sich Ruhe. Und gegen den Hustenreiz nehmen Sie Lutschpastillen.“
„Aber … könnte es nicht sein, dass ich …“
„Ach was, jetzt übertreiben Sie nicht. Sie sind einfach nur überfordert.“
Er gibt mir die Hand und reflexartig greife ich zu. Das ist ein Fehler, denn sein Griff wird fest, hebelt mich aus dem Stuhl und navigiert mich zur Tür. Meine Kinder krabbeln und tapsen dem großen Onkel mit dem weißen Kittel hinterher. Auf dem Flur nehme ich Eduard auf den Arm. Ferdinand geht vor mir her und versucht, die Haustür zu öffnen.
„Ich kann das alleine“, sagt er und stemmt seinen kleinen Körper dagegen.
„Ja, das machst du toll.“
Wir zuckeln zurück. Die Kinder laufen neben mir her und bleiben an jedem Gartenzaun stehen. Es ist mir recht, denn so kann ich verschnaufen. Durch einen Vorgarten marschiert eine Gartenzwergparade, einer hässlicher als der andere. Die Jungs lieben sie, drücken ihren Kopf gegen den Zaun, schieben ihre Finger durch den Maschendraht und deuten auf die Zwerge.
In mir brodelt es. Ich bin nicht überfordert. Oder doch? Will ich es nur nicht zugeben? Sind meine Gefühle falsch? Lutschpastillen sollen gegen Gefühle der Liebesunfähigkeit helfen? Ich könnte heulen, tue es aber nicht, weil die Kinder auf den Arm genommen werden wollen, um einen Zwerg zu sehen, der gegen eine Blume pinkelt. Das finden sie lustig. Ferdinands Gekicher lenkt mich von den Lutschpastillen ab.
Meine Ärzte-Rallye geht weiter, und zunehmend schleicht sich Unruhe in meine Gedanken. Wir trauen uns nicht, die Sorgen auszusprechen, denn man möchte kein Unheil heraufbeschwören. Als wäre es ein Zeichen mangelnden Gottvertrauens, wenn man Ängste in Worte packt. Ist es nicht so, dass sich der Mensch von Natur aus mehr sorgt als nötig? Viele Befürchtungen treffen nie ein, und man würde nur kostbare Zeit durch schwere Gedanken vergeuden.
Nach drei weiteren Ärzten, die mich ebenfalls als überforderte Mutter bezeichnen, kümmert sich endlich eine Ärztin um mich. Inzwischen bin ich nicht nur besorgt, sondern auch verärgert. Männer meinen, den Belastungsgrad von Müttern erkennen zu können, und sprechen einer Frau ihre Intuition im Umgang mit dem eigenen Körper ab. Ist es normal, dass eine Mutter nicht mehr im Liegen schlafen kann?
Jeden Abend errichte ich ein Kissenlager und bette mich wie eine orientalische Prinzessin. Ich versuche, aufrecht zu schlafen, denn sobald sich mein Oberkörper senkt, überfallen mich Hustenattacken. Weckt mich nicht der Husten, so ist es die Kälte. Meine durchgeschwitzte Nachtwäsche lässt mich frieren. Wüstennächte sind kalt, bitterkalt.
Die Ärztin schickt mich in die Radiologie, mein Thorax wird durchleuchtet. Stumm reicht mir die Radiologin die Aufnahmen. Sie sind gut verschlossen in einem Papierumschlag.
„Alles in Ordnung?“, frage ich.
Sie rollt die Lippen nach innen und kaut langsam darauf herum. Schließlich sagt sie: „Sie sollten sofort zu Ihrer Hausärztin gehen. Sie wird Ihnen alles erklären. Machen Sie sich keine Sorgen.“
Sie öffnet die Tür. Und ich trage den braunen Umschlag vorsichtig wie eine Briefbombe in meinen Händen.
Machen Sie sich keine Sorgen! Der Satz gibt meinem Gedankenkarussell erst recht Schwung, und ich rotierte mit immer größerem Tempo um die Sorge, dass ich krank sei. Soll ich Thomas anrufen? Er ist unterwegs und braucht Stunden, ehe er zu Hause ist. Ich lasse es bleiben. Es reicht, wenn meine Sorgen Achterbahn fahren.
Ich setze mich ins Auto, löse vorsichtig den Klebestreifen und ziehe meine Röntgenaufnahmen aus dem Umschlag. Ich halte sie an den Rändern und versuche, keine Fingerabdrücke zu hinterlassen. Das Schlüsselbein und die Rippen kann ich gut erkennen. Auf der linken Seite sind Schatten. Das müsste das Herz sein. Ich starre noch eine Weile auf das blau-graue Bild und kann es nicht deuten. Durch meinen therapeutischen Beruf habe ich großes Vertrauen in die Medizin. Wenn etwas in meinem Brustkorb ist, das da nicht hingehört, soll man es herausschneiden. Fertig!
Ich lege die Briefbombe auf den Beifahrersitz und fahre zu meiner Hausärztin. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie er in jeder Kurve hin und her rutscht. Wie explosiv ist der Brief? Wird er mich in den Tod reißen? Ich hoffe, dass er nur eine Attrappe ist, denn die Radiologin hatte gesagt, dass ich mir keine Sorgen machen soll. Ich schleppe mich in die Hausarztpraxis, und die Sprechstundenhilfe lotst mich an den Wartenden vorbei direkt zur Ärztin. Sie reißt den Umschlag auf, hält das Röntgenbild gegen das Licht und seufzt. Dann geht alles ganz schnell: Klinikeinweisung. MRT. Arztgespräche. PET. Aus der angeblich überlasteten Mutter ist von einem Tag auf den anderen eine Patientin mit einer Wucherung im Brustkorb geworden.
Das Warten auf weitere Untersuchungen zermürbt. Eine Biopsie soll Klarheit bringen, und bis dahin mühen wir uns, die Alltagsroutine aufrechtzuerhalten. Aufstehen. Frühstücken. Spielen. Kochen. Mittagsschlaf. Spielen. Wäschewachen. Kuscheln. Putzen. Toben.
Die Sommersonne lockt uns ins Freie, und wir schleppen Decken, Getränke und Spiele nach draußen. Thomas tobt mit den Kindern. Er wirft Eduard in die Luft und ruft: „Engelchen, flieg!“
Der Einjährige juchzt: „Noch mal!“
Thomas packt ihn erneut, geht in die Knie und wirft ihn nach oben. Die blonden Haare wehen und die Arme und Beinchen baumeln. Kaum hält der Vater seinen Sohn im Arm, ruft der: „Noch mal! Noch mal!“
Es ist ein Spiel voller Vertrauen und eine Lektion über Loslassen und Gehaltenwerden.
Ich sitze auf einer Decke im Gras. Eduard tapst mir entgegen, rudert mit den Armen, schwankt und landet auf dem Po. Er krabbelt vorwärts, drückt dann seine Beinchen durch und versucht sich aufzurichten. Immer wieder und wieder stellt er sich der Kraft von 9,81 Meter pro Quadratsekunde entgegen. Es sieht spielerisch und kinderleicht aus.
Mich hingegen nagelt die Schwerkraft auf der Picknickdecke fest. Wenn ich erst einmal sitze oder liege, wird aufstehen mühsam. Jeden Morgen kämpfe ich gegen die 9,81 Meter pro Quadratsekunde, um aus dem Bett zu kommen. Meine Beine fühlen sich an, als steckten sie im Wüstensand. Jeder Schritt kostet mich Anstrengung. Auf dem Mond beträgt die Schwerkraft nur 1,62 Meter pro Quadratsekunde. Wie würde mein Alltag mit 84 % weniger Schwerkraft aussehen? Ich schwebe ins Haus und hole Apfelsaft. Ich schwebe zur Waschmaschine, und die feuchte Wäsche gleitet wie von selbst auf die Leine. Ich schwebe mit dem Kleinkind ins Bad, und im Nu hat es eine strahlend weiße Windel an. Aber ich lebe nicht auf dem Mond, sondern auf der Erde. Eduard streckt seine Arme aus und ich rufe: „Komm, Engelchen, komm!“ Er lässt sich fallen und landet auf meinem Schoß.
„Klingling?“, fragt er und ich nicke.
Meine zehn Finger verwandeln sich in Figuren, spazieren über Eduards Oberkörper, berühren seine Ohren und tippen rhythmisch an seine Stirn. „Geht ein Mann die Treppe hoch, klingling, klopfklopf“, singe ich. Er kichert und zieht seine Schultern hoch, weil er das Zupfen an seinem Ohrläppchen erwartet. Meine Finger marschieren über den kleinen Körper.
„Noch mal!“
Und wieder tippeln meine Finger über Arm, Schulter und Kopf. Sie legen Zentimeter um Zentimeter zurück. Es ist ein Langstreckenlauf aus Reimen und Berührungen.
Egal, was wir tun, er ruft: „Noch mal!“
Ich nehme ein Pappbuch und gemeinsam schlagen wir die dicken Seiten auf. Sofort steckt Eduard seinen Finger durch die Löcher, die die Raupe Nimmersatt in den aufgezeichneten Früchten hinterlassen hat. Haben wir die letzte Seite zugeschlagen, öffnet er sie wieder und ruft: „Noch mal?“
Der Kleine tönt ständig: „Noch mal!“ Der Große hingegen beharrt: „Das kann ich alleine.“
Alleine zieht er sich aus und gemeinsam entwirren wir das Geknuddel von auf links gedrehten Hosenbeinen. Alleine zieht er die Sandalen an, hat aber die Schuhe an den Füßen vertauscht.
„Du musst deine Schuhe noch einmal ausziehen. Schau, das ist der rechte für den rechten Fuß.“
„Alleine“, plärrt er und ich lotse seine Füßchen ins passende Schuhwerk. Alleine kraxelt er die Rutsche hoch oder hangelt sich am Klettergerüst entlang. Ich zügle meinen Impuls, ihm zu helfen, während Thomas ruft: „Toll, das kannst du schon ganz alleine. Schaffst du es noch weiter?“