Die Handlung dieser Erzählungen sowie die darin vorkommenden Personen sind frei erfunden, eventuelle Ähnlichkeiten mit realen Begebenheiten und tatsächlich lebenden oder bereits verstorbenen Personen wären rein zufällig.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbiografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
© 2016 Siegfried Binder
Herstellung und Verlag: BoD - Books on Demand GmbH, Norderstedt
Satz, Layout: Ross Werbedesign, Soest
Titelbild: © Gemälde „Venezianerin“ von Anselm Feuerbach, 1855/56
ISBN 9783741244131
Den Menschen, die sich mir
anvertraut haben.
Er war an Hässlichkeit nicht zu überbieten. Er war klein und verwachsen, langnasig, fetthaarig und schieläugig. Man rief ihn Frosch, weil die Breite seines Mundes die Hälfte seines Gesichts einnahm. Zum Gaudi der Unverständigen verstand er sich als Dichter und Seher, recht betrachtet war er ein Naturphilosoph, der die bäuerliche Enge seiner Heimat nie verlassen hatte, sich deshalb nicht mit gleichwertigen Gesprächspartnern gedanklich austauschen konnte und sein Denken allein aus sich heraus entwickeln musste. Seine Eltern hatten ihn auf den Namen Noah getauft. Er wusste von seiner Familiengeschichte, dass die Großeltern 1917 dem Völkermord der Türken durch Flucht entkommen waren und sich im nördlichen Irak am Tigris als Bauern niedergelassen hatten. Sie hatten ihre aramäische Muttersprache und ihren christlichen Glauben behalten und waren stolz, die Sprache Jesu zu sprechen und dem Volk an zu gehören, das als erstes seiner Lehre sich angeschlossen hatte. Der Frosch sah manche Dinge des tradierten christlichen Glaubens anders, fast ketzerisch, wurde aber toleriert und tolerierte seinerseits. Von seiner Körperstatur eher schwach, vom Aussehen abstoßend, zog er sich als Heranwachsender in die Einsamkeit zurück und suchte die Ruhe der Abgeschiedenheit. Dann dachte er über das Leben, die Vergänglichkeit und die Ewigkeit nach. Er hielt mit seiner Ideenwelt nicht zurück:
„Wir Menschen sind der Natur unterworfen und unterwerfen die Natur. Die Natur ist weder vernünftig noch moralisch. Sie lebt nach den ihr vorgegebenen Gesetzen. Der Mensch ist frei, weil er denken und Neues erschaffen kann. Er entscheidet selbst über gut und böse. Gott haust nicht unter den Sternen, er bestimmt nicht das Weltgeschehen und lenkt nicht unser Schicksal. Ein solcher Gott existiert nicht, er wird uns dereinst auch nicht richten. Gott ist in uns. Jeder Mensch bestimmt sein Sosein selbst. Sittliche Verantwortung haben wir zu aller erst uns gegenüber. Diese Moral ist fordernder als Hunger und Durst. Unsere Freiheit erlaubt uns zu entscheiden, ob wir moralisch leben wollen in Sicherheit trotz unberechenbarer Naturgewalten oder den Gesetzen des Bösen folgen, wo der Mensch des Menschen Feind ist.“
Oh, da hatte er was gesagt! Die streng gläubigen Orthodoxen zerrten ihn vor ein Kirchengericht und befragten ihn hochnotpeinlich. Bestreitet er die Existenz Gottes, Jesu Sohnschaft Gottes und seine Auferstehung und Himmelfahrt? Spaltet er die Gemeinschaft, muss er exkommuniziert werden? Da stand er vor den hohen Herren, verdattert und bestürzt und sein so loses Mundwerk brachte kein Wort hervor. Der Pfarrer seines Dorfes, der ihn getauft und kommuniziert hatte, verteidigte ihn: „Brüder, er ist ein besonderes Kind Gottes. Schon früh hatte er Gesichte.
Er gab sie preis und man verdächtigte ihn als Hexer. Man mied ihn, bis man sich im Dorf überzeugt hatte, dass er harmlos ist und nichts weiter darstellt als einen Träumer, Spinner und Sonderling mit skurrilen Ideen und spleenigem Verhalten. In der Schule lernte er schnell, verschlang alle Bücher, denen er habhaft wurde. Er informierte sich übers Internet, was in der Welt geschieht, versteht so manches und vieles nicht. Er hat begriffen, dass in unserer heutigen Welt Lust zum Laster wird, Sinnenfreude zur Perversion verkommt, der Glaube stirbt oder zum Fanatismus mutiert. Sein Gedächtnis ist phänomenal - er kann die Heilige Schrift komplett wortwörtlich Euch wiedergeben. Zuweilen meine ich, dass sein Geist verwirrt ist. Er stellt Dinge in Frage, die ganz offenbar und bewiesen sind. Zum Beispiel, dass Gott im Himmel thront und wir seinen ewigen Gesetzen vertrauen dürfen, dem Wechsel von Tag und Nacht, von Sommer und Winter. Dann wiederum hat er erhellende Gedanken, schwer nach zu vollziehen und von durchdringender Klarheit, wie verglühende Sternschnuppen in der dunklen Nacht. Seht seine Gestalt - genauso verwachsen scheint sein Denken. Ich frage mich, ob er uns nicht überlegen ist und er eine Sprache spricht, die wir noch nicht verstehen. Sein Wesen ist sanft und friedfertig. Nie kommt ein böses Wort über seine Lippen. Er strahlt die Liebe Gottes aus. Lasst ihn in unserer Mitte, ich verbürge mich für ihn. “Der Kirchenrat billigte Noah die Freiheit des Fantasten zu und er fühlte sich in dieser Freiheit gut aufgehoben.
Die Felder und Wiesen der Familie Athra schmiegten sich an den Tigris. An diesem Tage war Noah von seinem Vater beauftragt worden zu überprüfen, ob die als Wasserspeicher für die Tiere angelegten Brunnen noch hinreichend gefüllt seien. Die Wassermenge des Tigris hatte in den letzten Jahren kontinuierlich abgenommen, der Spiegel des Grundwassers war bedrohlich gesunken. Es war Hochsommer und es hatte seit sieben Monaten nicht geregnet. Die trockene Hitze von über 40 Grad ließ die Luft flimmern und zauberte merkwürdige, fließende Gestalten und Gebilde vor die Augen von Noah. Kobolde purzelten zwischen Erde und Himmel, schnitten Grimassen und winkten ihm zu. Sie sprangen wie spielende Lämmer auf Mauern und Türmen, die sich verbogen und zusammenfielen. Ein todblasses Antlitz formte sich, glotzte ihn mit entleerten Augen an, Menschen schrumpften zu Kinderskeletten. Obwohl Noah solche Luftspiegelungen kannte, erschrak er. Ihn beschlichen dunkle Ängste. Von seinen Gefühlen besetzt, schloss Noah die Augen und schritt voran, ohne auf seine Umgebung weiter zu achten. Er sprach laut vor sich hin und gab seiner situativen Gestimmtheit dichterischen Ausdruck; weil er meinte, Gefühl und Vernunft seien nur in der Poesie vereint:
„Totenstille - doch ich werde gewahr, es droht mir Gefahr.
Will mich schier erdrücken, kann sie nirgendwo erblicken.
Aus dem Nichts fühl´ ich ihn nah´n den Tod bringenden Orkan.
Und wie im Traumgesichte wiederholt sich vergessene Geschichte.
Er saust und braust, jagt die Wolken, peitscht das Wasser, entwurzelt Bäume, dringt in alle Lebensräume.
Gott, ich habe nur eine Bitte, beschütze mich in meiner Hütte.
Ich höre, wie er pfeift und heult, nirgendwo verweilt.
Widerstand zerschmettert, lärmt und tost und Flüche johlt, Blitz und Donner als Gehilfen holt.
Zornig an der Türe rüttelt,
wutentbrannt die Hütte schüttelt.
Wahllos schlägt er, ziellos ist sein Hass.
Das Vernichten, das Ausmerzen ist sein Spaß.
Löscht Leben aus, ohn´ Mitgefühl und eisigkalt, und keine Macht gebietet Halt.
Hinterlässt als Held eine verwüstete Welt.
Seine Fährte ist verbrannte Erde.“
Während er so selbstvergessen und selbstverliebt wandelte, rezitierte und sich korrigierte, stolperte er und fiel in einen Brunnen. Er fiel nicht tief, zog sich auch nur kleine Schrammen zu. Das Wasser im Brunnen stand ihm kniehoch und kühlte angenehm. Er rief nicht um Hilfe, sondern meinte, im philosophischen Sinne sei seine Stunde gekommen. In seinem Herzeleid spürte er bisher nie erlebte spirituelle Gehobenheit und wünschte sich, dass sie nie vergehe. Er jauchzte innerlich:
„Welch ein Glück, in der Einsamkeit zu sterben. Dahin die Jugend, dahin die Zeit. Ich liebte die Welt, nun hat sie mich verlassen. Welch schöner Tag, welch schöner Morgen. Das Leben ist nicht verloren, in der Ewigkeit werden wir neu geboren.“
Er horchte und meinte, Engelstöne zu hören und Geläut von Glocken aus einer anderen Welt. Es war der Nachbar, der zufällig mit seinem Esel des Wegs kam und sein Tier tränken wollte. Der Esel, von Durst geplagt, beugte sich über den Brunnenrand und schrie sein klägliches la, la, la. Noah schaute nach oben und sah ein Teufelsgesicht. Das Glücksgefühl fiel von ihm ab und Furcht erfasste ihn. Wird nun ein Donnerwort den Weltuntergang verkünden? Die letzte Posaune erschallen und der Rufer ihn zum Gericht auffordern? Nein, wie bei allen Poeten vermengten sich bei ihm Wirklichkeit und Gaukelei.
Der Bauer warf einen Eimer, der am Tau befestigt war, in den Brunnen und wunderte sich, dass das Wasser nicht platschte. Er schaute in die Tiefe des Wasserlochs, rieb sich verwundert die Augen und erkannte nach einer Weile, dass sich dort unten ein Mensch befand. Er rief:
„He, Du da, wer bist Du, was machst Du da unten?“
Noah antwortete:
„Ich bin der Noah.“
„Oh je, der Schelm und Possenreißer. Was hast Du schon wieder im Sinn?“
„Ich warte auf meine letzte Stunde.“
„Und wie lange schon?“
„Es ist eine Zeit her. Ich hatte eine schreckliche Vision. Es wird uns Böses widerfahren, Tod und Verderben.“
„Du Narr. Du haust seit Geburt wie in einer dunklen Erdhöhle, siehst nur den Himmel und die Wolken, vielleicht die Schatten der Vorübergehenden und willst uns die Zukunft der Welt prophezeien. Hilf lieber, die Erde zu pflügen und die Ernte einzubringen. Dann wirst Du auch den Weltenlauf verstehen.“
„Bauer, kennst Du nicht den Urschmerz, der alles lähmt? Die Wunde, die Dich kraftlos macht? Den Gedanken, der Dich gefangen hält? Kennst Du nicht die Geschicke unseres Volkes, die sich jeder Zeit erneuern können?“
„Nein, kenne ich nicht. Weißt Du, was ich kenne? Ich habe ein tüchtiges und sinnenfrohes Weib, ich esse beherzt den Schinken und trinke genüsslich den Wein. Die Kühe geben mir Milch und die Bienen Honig. Und ich kenne die anfallende Arbeit des Tages. Wo ist das Traurige und das Trübe? Höre auf, Dich zu belügen. Komm herauf, an den Wänden sind Steigeisen, beweise, dass in Dir Mumm steckt! Merke Dir: Was Du nicht für Dich tust, wird keiner für Dich erledigen.“
Noah kletterte aus dem Brunnen, ließ sich auf den Brunnenrand nieder und blinzelte zum Bauern: