Der Autor Rainer Fischer schreibt seit 1988 Kurzgeschichten, Erzählungen und Experimentelles. 1992 Preisträger beim „Jungen Literaturforum Hessen“. 2012 erschien die Kurzprosa-Sammlung „Küchendienst in der Hölle“, 2013 der Roman „Der Kaktusforscher“.

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© Rainer Fischer 2016

Herstellung und Verlag: BoD - Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 9783741269844

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Inhaltsverzeichnis

Das Laubsägenmassaker

i. Der erste Tag

Alex zog die Tür hinter sich ins Schloss, und im selben Augenblick fiel ihm ein, dass er seinen Müllbeutel drinnen vergessen hatte. Vor ein paar Minuten hatte er ihn drinnen neben die Wohnungstür gestellt. Er war erstens voll und enthielt zweitens die Küchenabfälle vom Wochenende, die bereits anfingen zu riechen und zu tropfen. Er schloss trotzdem ab, warf dem Müllschlucker einen kurzen, bedauernden Blick zu und ging zum Aufzug hinüber. Zu dieser Tageszeit kam der Aufzug sofort, zum Glück, er war ohnehin dabei, sich zu verspäten. Wenn montags die erste Vorlesung um elf Uhr cum tempore begann, was bei dieser Vorlesung bei diesem Dozenten aller Erfahrung nach achtzehn Minuten nach elf bedeutete, man also scheinbar lange ausschlafen konnte, war es unvermeidlich – eine weitere und viel allgemeinere Erfahrung –, sich trotzdem oder gerade deswegen zu verspäten und außerdem viel zu müde zum Mitdenken zu sein.

In der Tiefgarage hatte sich jemand in einem Winkel neben dem Fahrradständer erbrochen, schätzungsweise schon Freitagnacht. Alex öffnete das schwere Bügelschloss und schob sein Rad nach oben auf die Straße. Für Mitte Januar war es warm. Er musterte den grauen Himmel und hoffte, dass es nicht regnen würde.

Zwischen der Ausfahrt und der Haustür dieses monströsen Apartmenthauses hatte ein Mann herumgestanden, der ihn bereits entdeckt hatte und jetzt auf ihn zuging: nicht mehr jung, ziemlich verbraucht, nicht mehr die meisten Haare auf dem Kopf und sicher nicht der Intelligenteste. Der Anorak, den er trug, konnte, auch als er noch neu war, nicht schön gewesen sein.

»Entschuldigung, junger Mann, ich hätte da mal eine Frage.«

Vielleicht sucht er nur die richtige Hausnummer, überlegte Alex und beging den Fehler, ihm ins Gesicht zu sehen.

»Haste nich‘ mal ‘ne Mark für einen armen Wanderer?«

Scheiße, ich hätte es doch wissen müssen. Das erste Mal, dass ich vor der Haustür angeschnorrt werde. Sonst stehen die Finanzexperten in der Innenstadt und erkundigen sich nach meinem Kleingeld. Sehe ich etwa aus, als ob ich zu viel Geld hätte, dachte Alex, bemühte sich wegzugucken, stieg auf's Rad und sah zu, dass er weiterkam. Hoffentlich würde der noch lang genug bleiben und welche von den Skinheads anquatschen, die irgendwo weiter oben in Haus wohnten. Die würden dann vielleicht »Ab ins Arbeitslager!« zur Antwort brüllen oder sonst etwas Nettes. Es schien zwar unwahrscheinlich, dass Skins in diesem nicht gerade vornehmen, aber immerhin neuen und teuren Apartmentblock wohnten, aber er hatte sie oft im Fahrstuhl getroffen, wo er ein »Tach« oder »Hallo« mit ihnen gewechselt hatte; andererseits, irgendwo mussten sie ja auch wohnen.

Er kam fast zehn Minuten zu spät, öffnete so leise wie möglich die Tür am hinteren Hörsaalende und trat ein. Niemand beachtete ihn, er setzte sich in die Mitte der noch völlig leeren vorletzten Reihe. Ganz hinten saßen zwei der Ober-Esoteriker des Fachbereichs und verfolgten die Vorlesung auch sonst eher distanziert. Einer von ihnen schrieb Vorlesungsmitschriften mit einem aufwändigen Computerprogramm, die er gönnerhaft an ihm genehme Kommilitonen verlieh. Beide schrieben furchtbar ironische Artikel in der Fachschaftszeitschrift. Direkt vor Alex wölbten sich einige sehr unsympathische breite Rücken. Gewöhnlich saß er viel weiter vorn. Die ersten Reihen waren wie immer leer, in der Mitte verteilte sich die breite Masse. Wie in der Kirche seiner Kindheitserinnerungen.

Eine von drei Tafeln war bereits vollgeschrieben, Alex musste sich beeilen, um das abzuschreiben, gegen den Widerstand seines rechten Zeigefingers, der plötzlich unerklärlich steif und schmerzhaft war. An der Oberkante des rechten Mittelfingers, unterhalb des Nagels, hatte sich eine rötliche, schmerzhafte Mulde gebildet, in die der Stift ganz von selbst rutschte. Ob das jahrelange Schreiben ihn so deformiert hatte? Außerdem konnte er aus der ungewohnten Entfernung die Schrift kaum lesen. Schließlich holte er die Vorlesung in fieberhafter Anstrengung ein und bemühte sich, verständnismäßig einzusteigen und zu folgen. Der rheumatische Finger war etwas beweglicher und weitgehend taub geworden, er konnte wieder einigermaßen leserlich schreiben. Alex fand im gerade Abgeschriebenen einige Fehler. Der heutige Stoff war ganz uninteressant und fernliegend, zudem war der Prof noch chaotischer als sonst, vor allem deshalb, weil er sich mit dem, worüber er sprach, viel zu gut auskannte.

Die drei in der Reihe vor ihm hatten bereits aufgegeben und erzählten sich lieber von ihren Wochenenderlebnissen, wie viel Alkohol sich vernichtet und welche Frauen sie »durchgezogen« haben wollten. Alex kannte alle drei nur vom Sehen und aus Gerüchten, dafür allerdings sehr gut: das feiste Gesicht des einen, die schnieken Klamotten und den Silberblick des anderen. Er hatte sich lange ernsthaft gefragt, wer ihm die Hemden bügelte – er selbst doch bestimmt nicht, dass er eine Freundin hatte, die dumm genug dafür war, wollte er nicht hoffen –, bis er eines Tages durch Zufall mitbekam, dass der Typ noch bei seinen Eltern wohnte. Alex selbst sah seine Eltern nur während der Ferien, viereinhalb Stunden Bahnfahrt kostete das jedes Mal. Jetzt kam der dritte, ein schmerbäuchiger, fusselbärtiger Kettenraucher, mit seiner Story, was Alex endgültig aus dem Konzept brachte. Er ließ den Kugelschreiber fallen und steckte sein Schreibzeug ein. In seiner Tasche fand er ein grünes Taschenbuch, ein Samuel Beckett-Roman, den er in der Vorlesungspause weiterlesen wollte, und den er den dreien vor ihm jetzt gern um die Ohren gehauen hätte.

»Sex unmittelbar nach übermäßigem Alkoholkonsum wirkt sich ungünstig auf die Prostata aus«, sagte Alex so, das sie es hören mussten und sonst niemand, gleichzeitig blickte er über sie hinweg auf die Tafel und wählte einen möglichst sachlichen Tonfall.

Vor ihm waren sie still geworden. Alex sprach den nächsten Satz etwas lauter, akzentuierte ihn so hart wie nur möglich und spitzte jeden Konsonanten einzeln an: »Im fortgeschrittenen Alter, also ab etwa Mitte dreißig, führt das oft zu vorzeitigem Erguss und konstant tröpfelndem Harn.«

Drei befremdete Gesichter wandten sich ihm zu, die Reaktion der Asketen hinter sich bekam er nicht mit, umdrehen durfte er sich jetzt nicht. Die Antlitze der drei infernalischen Brüder, Kreationen aus Teig mit Haaren, fanden langsam ihren gewohnten Ausdruck wieder, also selbstherrliche Gehässigkeit und Gemeinheit, und während sie möglichst witzige Bemerkungen zu machen begannen und diese gegenseitig mit dem Grunzen quittieren, das bei ihnen das Lachen ersetzte, packte Alex seine Tasche und verließ eilig den Hörsaal.

Als sich Alex für sein Studienfach entschieden und mit dem Studium begonnen hatte, hatte er scheinbar grenzenlose Neugier und Enthusiasmus mitgebracht, was ihm jetzt eher kindisch vorkam. Innerhalb von drei Semestern hatte er seinen Eifer in tausend kleinen Arbeiten verzettelt, seine Professoren und Kommilitonen gingen ihm größtenteils auf die Nerven. Der Gedanke, so zu sein wie sie, war ihm unerträglich. Was er je gelernt hatte, hatte er wieder vergessen oder konnte es nicht mit den anderen Lehrinhalten in Übereinstimmung bringen. All das hatte sein Interesse zerstreut. Normalerweise zerstreut der Sprachgebrauch nur Zweifel, was doch eigentlich sinnlos ist, da Zweifel der Gravitation unterworfen sind: Mag man Zweifel auch zerteilen und auseinanderbringen, so ziehen sich die Zweifel gegenseitig an und finden wieder zusammen, um einen großen Zweifel zu bilden. Sein Interesse jedoch war immer mehr abgebröckelt und fortgeweht.

Alex schob Zigaretten rauchend sein Rad nach Hause, obwohl leichter Nieselregen fiel. Bei Regen lief er oft langsamer als sonst. Nachdem er die Vorlesung verlassen hatte, hatte er in der Mensa gegessen, ohne Appetit, nur aus Gewohnheit hatte er sich vollgestopft, bis das Tablett leer geräumt war, gleichgültig gegen das, was er aß, und obwohl er die rote Soße nicht mochte. Als er fertig gewesen war, hatte er sich vor Ekel ein Mastschwein genannt. Aber selbst das drohte zur Gewohnheit zu werden. Wenn sein Studium also sinnlos geworden war und nur noch überflüssige Anstrengung bedeutete, konnte er es ebenso gut aufgeben, besser gesagt, wäre es das Nächstliegende, es aufzugeben. Er konnte sich ohnehin nicht vorstellen, was er hinterher mit seinen sogenannten Kenntnissen anfangen sollte. Nur dass ihm alles, was mit Arbeit, Lebensaufgabe und Geld verdienen zu tun haben könnte, entweder noch widerwärtiger war oder es sehr schnell werden würde, sobald er sich damit beschäftigte. Dabei war er durchaus nicht faul. Aber selbst wenn im Bett liegen und Romane lesen, was er am liebsten tat, ein Beruf wäre, würde er das nicht ein halbes Jahr durchhalten ohne durchzudrehen. Mehr noch, selbst Alltägliches ließ sich auf die Dauer kaum noch aushalten. Essen, trinken und die Abfallprodukte wieder von sich geben, den zerfallenden Körper waschen, einschlafen und wieder wach werden müssen, konnte ihn so anstrengen und auslaugen und wurde durch gelegentliches Glücksgefühl so schlecht bezahlt, dass er das nicht unbegrenzt würde aushalten können und schon immer öfter darüber nachdachte, einfach Schluss zu machen.

Die einfache Frage, wovon er lebte, fand keine Antwort. Er arbeitete zwar, produzierte jedoch nichts und verrichtete keine Dienstleistungen. Im Gegenteil verbrauchte er sie. Er hatte zwar Geld, aber er hatte es nicht verdient, er hatte zwar genug, um es auszugeben, aber es wollte ihm trotzdem nicht gelingen, damit und davon zu leben. Er aß und trank, vielleicht mehr als er brauchte, aber das schien es nicht zu sein, was seinen Körper noch am Leben hielt, viel weniger seinen Geist in Bewegung. Schade, dass ich nicht nach Erschöpfung bezahlt werde, dachte er sarkastisch, wenn schon nicht nach Leistung.

Also gut, schloss er, ich gebe das Studium auf und lebe weiter, solange ich noch zu leben habe, nämlich solange, wie mein Geld noch reicht, das ich jetzt habe, und dann springe ich von einer Brücke oder hänge mich auf. Und bis dahin kann ich machen, was ich will, ohne überflüssige Rücksichten nehmen zu müssen, ohne mir Gedanken darüber zu machen, wie es weitergehen würde. Geradezu romantisch, noch einmal richtig intensiv leben zu können. Das muss das Konsequenteste sein. Außerdem ist damit ein Anlass und ein Zeitpunkt für den Selbstmord fixiert, auch wenn ich diesen Zeitpunkt jetzt noch gar nicht kenne. Dann bin ich in der letzten Minute das blöde Gefühl los, ich könnte mich zu früh umbringen oder hätte den richtigen Zeitpunkt schon verpasst.

Zum ersten Mal an diesem Tag besserte sich seine Laune. Manchmal arbeitete sein Hirn doch noch richtig, selbst dann, wenn‘s drauf ankam. Er steckte sich keine neue Zigarette mehr an, sondern fuhr das letzte Stück des Heimwegs, und er freute sich auf den Tee, mit dem er sich aufwärmen würde.

Nach dem Abendessen und Abwaschen fiel Alex nichts besseres ein, als den Fernseher einzuschalten. Ein grimmiger Detektiv mit Hang zur Kahlköpfigkeit, wahrscheinlich wegen Hormonüberschuss, trieb dort sein Unwesen, den er sofort unausstehlich fand. Trotzdem war die Hälfte der weiblichen Rollen so angelegt und die Schauspielerinnen so gestylt, dass kein Zweifel daran bestehen konnte, dass sie ihm vor dem Ende noch zum Opfer fallen würden. Fast ebenso gut konnte man sich denken, welche männlichen Darsteller er entweder verprügeln oder niederschießen würde. Als sich schließlich der Showdown abzuzeichnen drohte, wurde Alex erlöst durch den Kaffee, den er beim Abendessen in Mengen getrunken hatte und der es ihm jetzt erlaubte, sich auf die Toilette zurückzuziehen.

Alex bewohnte ein Einzimmerapartment: Kochstelle und Kühlschrank waren an der dem Fenster abgewandten Seite eingebaut. Seitlich davon gab es ein paar Wandschränke, über die Alex gleichmäßig Socken und Handtücher verteilt hatte. Außerdem hatte er Bett, Schreibtisch, Bücherregal und Fernseher untergebracht. Dusche, Toilette und Waschbecken ergaben gleich neben dem Eingang ein miniaturisiertes Badezimmer, im Mietvertrag Nasszelle genannt.

Alex fixierte eine Stelle neben dem Spiegel über dem Waschbecken. Angenommen, ich wäre eine Frau, dachte er, dann würde ich dort meine Ohrringe aufhängen. Vor seinem geistigen Auge erschien ein Sammelsurium von Ohrringen, kleine Anhängsel aus Altsilber, etwas größere aus Kupfer und Messing, wie aus Draht und in seltsamen Formen, Knäuel, Spiralen, Quasten, noch größere und seltsamere aus Blech, ein paar aus Holz und Leder. Kein Gold und keine Steine, falsche oder echte, die waren ihm zu hell für die Wand.

Er schüttelte den Kopf. Meine Ohrläppchen sind völlig unberührt, dafür habe ich eine Dachschaden.

Nach dem Händewaschen betrachtete er sich im Spiegel, da durch die Tür zum Wohnraum noch Pistolenschüsse zu hören waren. Der Krimi war noch nicht zu Ende.

Ich habe vortretende Knochen über den Augen, nicht bloß kräftige Augenbrauen. Überaugenwülste. Nase, Kinn … Mein Gott, ich bin ein Neandertaler. Breite Nase, wenig Kinn, starke Wangenknochen, wulstige Lippen, und dann dieser Gesichtsdruck, der nun wirklich alles andere als Intelligenz verriet. Ich bin ein Neandertaler… Nein, warte. Die Stirn ist zu hoch, Neandertaler haben eine flache Stirn. Hm… Vielleicht ist das das Kinn doch nicht so schwach. Tja, da ist wohl doch viel vom homo sapiens sapiens reingekreuzt. Nicht mal für einen richtigen Neandertaler reicht‘s bei mir. Oder gleich für einen Dinosaurier. Hauptsache hässlich. Kommt von Hass.

Als Alex das Bad verließ, gluckste der Fernseher grad mit dumpfer Stimme: »Die Natur braucht uns nicht. Aber wir brauchen die Natur!«

Gleich morgen würde er den Fernseher verkaufen.

ii. Die Dachstube

Tatsächlich verkaufte Alex seinen Fernseher erst in der darauffolgenden Woche, obwohl es ihm ernst war mit seinem Entschluss, und er musste sich bis dahin fast Gewalt antun, um nicht von sämtlichen ihm bekannten Fernsehfamilien einzeln Abschied zu nehmen. In derartigen, man könnte sagen, geschäftlichen Angelegenheiten wie Fernseher verkaufen besaß er eine sehr ausgeprägte Trägheit, die ihn die Dinge immer weiter aufschieben ließ. Nicht nur die Ausführung, allein die Entschlüsse waren unendlich anstrengend. Viel wichtiger als der Fernseher war noch, ein anderes Zimmer zu finden, da erstens das Apartment sehr teuer war, und er vor allen Dingen für niemanden mehr auffindbar sein durfte. Die jetzige Adresse kannten zu viele. Seine Eltern zum Beispiel wären schnellstmöglich angereist, hätten sie erfahren, dass ihr Sohn sein Studium aufgeben und in den Tag hineinleben wollte, vom Selbstmord einmal ganz zu schweigen. Und da Alex nun mal dabei war, sich aus der menschlichen Gesellschaft herauszulösen, schien es ihm selbstverständlich, dass Einwohnermeldeamt, Universitätsverwaltung, Kreiswehrersatzamt, Finanzamt, Polizei und ähnliche Institutionen seinen Aufenthaltsort nicht mehr kennen sollten. Die Folgen dieser Illegalität konnten ihn ja nicht mehr treffen. Schließlich wollte er noch seinen einstigen Kommilitonen aus dem Weg gehen, Professoren und Dozenten sah er außerhalb der Uni sowieso niemals.

Noch vor der Wohnungssuche löste er sein Bankkonto auf, nicht nur um laufende Abbuchungen zurückzuhalten, sondern auch um zu verhindern, dass seine Eltern weiter Geld überwiesen und so sein Leben ungewollt verlängerten. Außerdem trug er seine Fachliteratur ins Antiquariat. Die geliehenen Bücher brachte er selbstverständlich in die Universitätsbibliothek zurück. Den überwiegenden Teil seiner Bücher, hauptsächlich Romane und Erzählungen, ein bisschen Drama und ganz wenig Lyrik, wollte er natürlich behalten.

Ein bisschen tat es ihm um sein Apartment leid, es war eigentlich recht komfortabel, und es gab genug Leute, die sich für genau so etwas ein Bein ausreißen würden. Sein Vater hatte seinerzeit Herrn Viereck, dem Hausverwalter, fünfhundert Mark zustecken müssen, um es zu bekommen, und immer noch hatte man es wie eine Gnade annehmen müssen. Alex war sicher, dass praktisch alle Mieter den Verwalter geschmiert hatten.

Unter allen Nachbarn gab es nur eine, eine Germanistikstudentin, die er ein bisschen kennengelernt hatte, nachdem sie sich eines Tages seine TippEx-Flasche geliehen hatte. Alex hatte die Befürchtung gehabt, dass sie für den Mietvertrag mit dem Hausverwalter hatte schlafen müssen, aber eines Tages hatte sie ihm erzählt, dass ihr Vater ein Reisebüro leitete und er Viereck und Ehefrau für zwei Wochen eine Ferienwohnung in Florida kostenlos überlassen hatte. Manchmal ging ihm wirklich die Phantasie durch. Erst hatte er innerlich aufgeatmet, dann bedauerte er, dass die beiden drüben nicht von Straßengangstern erschossen worden waren. Er stellte sich die Schlagzeile vor: »Deutscher Hausmeister mit Frau in Florida bestialisch umgebracht« oder etwas in der Art. Dieses Vergnügen blieb anderen Leuten vorbehalten.

Tja, Hausmeister sind grundsätzlich Arschlöcher, genau wie Busfahrer, überlegte er. Eigentlich wäre das gar keine schlechte Idee, deutsche Hausmeister und Busfahrer nach Florida oder vielleicht Los Angeles zu schicken, wo sich die Ghettokids damit beschäftigten, sie um die Ecke zu bringen. Das hätte sogar den äußerst wünschenswerten Nebeneffekt, einige von den Nachwuchsgangster von ihren Weg ins Plattenstudio abzuhalten, wo sie sonst ganz grässliche Rap- und Hip-Hop-Musik produziert hätten, anders gesagt, Stottern durch soziale Indikation als Kunstform. Das hätte die Benutzung von Radios weniger gefährlich gemacht.

Alex erinnerte sich, dass er zufällig beim Betreten des Hauses die Rückkehr der beiden vom Floridaurlaub mitbekommen zu haben: Ein Taxi fuhr vor dem Haus vor, und es entstiegen der Vermieter im Hawaiihemd, seine Frau mit Strohhut und Sonnenbrille, beide braun gebrannt, sie aufgekratzt, er mit mit hochherrschaftlicher Attitüde. Während des Kofferausladens hatte Alex sich ungesehen und ohne Gruß vorbeidrücken können.

Trotz der fünfhundert Mark hatte Alex ein Apartment neben dem Fahrstuhlschacht bekommen. Das enthob ihn der Frage, ob dieses Haus laut oder hellhörig sei, nur hatte es Wochen und Monate gedauert, bis er die Fahrstuhlgeräusche spätabends und frühmorgens ignorieren konnte. Für Florida hatte es Westseite gegeben, die beste Lage.

Nun dauerte das Semester nur noch ein Woche, danach würde es schwieriger werden, ein Zimmer zu finden, weil viele Studenten weg fuhren, um zu arbeiten oder um Ferien zu machen. Vielleicht würde er für sein Apartment noch eine Provision herausschlagen können, aber er wollte auf keinen Fall einen Nachmieter suchen, bevor er ein neues Zimmer hatte.

Alex entdeckte beim Absuchen von schwarzen Brettern einen Zettel »Nachmieter gesucht für möbliertes Dachzimmer«, statt einer Telefonnummer war die Adresse angegeben. Vielleicht war das Telefon nur kaputt oder wegen einer unbezahlten Rechnung abgestellt, ihm wäre es allerdings am liebsten, wenn es dort gar keins gäbe.

Das Haus lag näher am Stadtzentrum als die alte Wohnung, die dafür recht nah an der Uni lag. Genau das, was er suchte. Auf beiden Seiten der Straße standen ziemlich alte und etwas heruntergekommene Häuser mit drei oder vier Stockwerken, die Straßenränder waren zugeparkt mit Autos, die meist ebenfalls ziemlich alt und ungepflegt waren, ab und zu war ein getunter Opel oder Ford dazwischen, manchmal ein neuer Kleinwagen. Falls dieser rot war, klebte am Heck ein Fisch-Piktogramm. Als ob Urchristen Auto fahren würden.

Alex‘ Adresse gehörte zu einem vierstöckiges Haus, das noch etwas schäbiger aussah als die Nachbarschaft. Die Ziegel waren mit der Zeit fast schwarz geworden, sahen aber noch sehr solide aus. Ein schmaler, verunkrauteter Rasen diente als Abstellplatz für Fahrräder. Beim Anblick der Klingeln hoffte Alex, sie würden vorläufig noch funktionieren. Es funktionierte sogar der Türöffner. Dachzimmer, erinnerte sich Alex und kletterte die Stufen hinauf. Überflüssig zu bemerken, dass sie knarrten. Oben im Halbdunkel des Treppenhauses wartete ein langhaariger Kettenraucher, der sich mit Peter vorstellte. Er begann auf Alex einzureden, anscheinend fürchtete er sein Zimmer nicht mehr bis zum nächsten Ersten loszuwerden. Das war zwar genau das, was Alex suchte, aber das brauchte man dem Typen ja nicht auf die Nase binden.

Als Fenster diente eine große Dachluke, eine Art Atelierfenster, wenn dieser Ausdruck nicht viel zu hochtrabend wäre. Dieser Anblick überzeugte Alex noch mehr als die niedrige Warmmiete davon, dass dieses Zimmer genau das richtige für seine letzten Monate sei. Das Zimmer war ansonsten ziemlich eng, Schrank, Bett, Tisch und Stuhl sahen so aus, als ob jemand zu geizig gewesen war, sie zum Sperrmüll zu geben. Dafür gab es ein recht neues Waschbecken, und ein Stück Wand war frei, an dem er sein Bücherregal aufstellen konnte. Damit waren seine letzten Bedenken ausgeräumt.

Peter nannte ihm nun schon zum vierten Mal die Miete. Da Alex wenig Fragen stellte, fiel ihm wenig ein außer »äh«, »ja« und »also«, und irgendetwas musste er ja sagen.

Der Besitzer des Hauses musste auf die Idee gekommen sein, die Wohnungen zimmerweise an finanziell minderbemittelte Studenten und andere arme Schweine zu vermieten, anstatt sein heruntergekommenes Haus von Grund auf zu renovieren. Die kleine Küche und die Überreste des Bades wurden etagenweise benutzt, Alex begutachtete sie nur flüchtig, sie schienen benutzbar zu sein. Bei einer derartigen Besichtigung entgingen einem die wahren Macken ganz zwangsläufig. Außerdem war ihm das alles ganz egal. Von den zukünftigen Nachbarn war glücklicherweise niemand zu sehen. Peter behauptete sie seien sehr ruhig, würden aber auch nichts sagen, wenn man selber mal laut wird. Und ein Telefon gab es tatsächlich nicht, aber die Zelle sei gleich um die Ecke, fügte er eilig hinzu, da Alex aus purer Schadenfreude mit keiner Andeutung seine Freude darüber verriet. Er war sogar Schwein genug, Peter zu fragen, warum er überhaupt auszöge.

Schließlich sagte er zu, froh darüber, diesen Nervtöter so schnell wieder loszuwerden und die Wohnungssuche dazu. In knapp zwei Wochen würde er einziehen können, und wenigstens ein lästiger Bewohner dieser Etage würde dann verschwunden sein. Er musste Peter noch versprechen, gleich morgen zu seinem Vermieter, einem Immobilienmakler zu fahren und den Vertrag zu unterschreiben und dabei auf keinen Fall die Kaution zu vergessen.

Alex machte sich am nächsten Morgen auf den Weg, um seinen Mietvertrag zu unterschreiben, nicht ohne Bedauern darüber, dass er dafür eine Vorlesung ausfallen lassen musste. Eigentlich mochte er Vorlesungen sehr gern, lieber als sich mühsam durch Lehrbücher zu quälen. Manchmal hatte er halt doch gern mit Menschen zu tun. Außerdem war es eine seiner letzten, da das Semester fast vorüber war.

Der Makler war in Wirklichkeit eine ältere Frau, mehr freundlich als herrisch, sie hatte eine hohe, graue Dauerwelle und offenbar rheumatische Knie, weshalb sie beim Gehen einen Stock benutzte. Sein rheumatischer Finger von neulich fiel ihm wieder ein. Eigentlich hatte er sich Mietspekulanten und Immobilienhaie ganz anders vorgestellt, aber so viel es ihm leichter, freundlich zu buckeln. Ihre Büroräume waren im Erdgeschoß eines gepflegten Altbaus untergebracht, ziemlich altmodisch eingerichtet und heute morgen jedenfalls überheizt. Außer der Maklerin gab es noch zwei Angestellte.

Sie legte ihm einem vorgedruckten, mehrseitigen Vertrag vor, den Alex nur überflog. Ihm kam die Idee, sich den Zeigefinger aufzuritzen und mit seinem Blut zu unterschreiben. Er reichte den Vertrag zurück, und die Maklerin begann, die Kopfzeilen auszufüllen. Alex bewunderte heimlich ihren Kugelschreiber und ihre Handschrift.

Nachdem sie Ort, Datum und seinen Namen eingetragen hatte, kam die die Spalte »Beruf«.

»Sie studieren, nehme ich an?«

Einfach ja zu sagen, war ihm jetzt zu dumm.

»Ja. Ich studiere Tautologie.«

Alex war in Versuchung, »Misanthropie im Nebenfach« hinzuzufügen, aber das war doch zu gefährlich.

»Im dritten Semester.«

Sie schrieb »Student« auf die freie Linie.

Da er nur Student war, wollte sie, eine reine Formalität, noch die Adresse seine Eltern haben. Einen Moment dachte er daran, ihr zu sagen, dass er keine Eltern mehr habe, aber dann würde sie sicher wissen wollen, woher er sein Geld bekam und ob er die Miete bezahlen könne. Aus Verlegenheit gab er die richtige Adresse an, immerhin würden seine Eltern später auf diesem Weg erfahren, was mit ihm passiert war. Wie perfekt die Welt doch manchmal funktionierte. Dann durfte er endlich die zwei Ausfertigungen unterschreiben. Bevor er ging, nahm sie ihm noch fünfhundert Mark Kaution ab.

»Für die Miete, falls sie beim Auszug in Rückstand sind, und für die Einrichtungen.«

Von den Möbeln sagte sie nichts, und Alex hütete sich zu fragen. Vielleicht wußte sie gar nichts davon, vermutlich war ihr das auch völlig egal, weil sie auf eine Gelegenheit wartete, das Haus günstig weiterzuverkaufen.

iii. Neues Leben

Zweitausendfünfhundertundsiebzig Mark hatte Alex zusammengezählt, die Scheine lagen nach Wert sortiert auf dem Tisch vor ihm. Dazu kam noch etwas Kleingeld, das zu zählen er jetzt zu faul war, vielleicht noch fünfzehn oder zwanzig Mark. Außerdem war die erste Miete bereits gezahlt. Sein Fahrrad hatte er an einen alternativen Fahrradladen verkauft. Hinterher kam ihm das ein bisschen wie ein Verrat an sich selbst vor. Vor allen Dingen hatte er sein Girokonto und ein altes Postsparbuch flüssig gemacht. Streng genommen hatte er sogar noch die Kaution des alten Apartments zurückzubekommen, aber die hatte Herr Viereck einbehalten, da er nicht fristgerecht gekündigt und auch nicht die Wände gestrichen hatte, wie es im Mietvertrag stand. Sicher war die Wohnung in den nächsten Tagen wieder vermietet, aber Alex zweifelte, ob er sich dazu würde aufraffen können, noch mal zum Hausverwalter zu fahren und nach dem Geld zu fragen. Es war ohnehin nicht sehr aussichtsreich, da der Verwalter immer für irgendeinen Schaden Geld zurückbehielt und in die eigene Tasche steckte.

Es war viertel nach eins, nachts, heute war der erste März, Jahresanfang des alten römischen Kalenders, der Beginn des Monat des Kriegsgottes. Tagsüber hatte Alex seine Sache herübergebracht, seine überflüssigen Möbel hatte er per Zeitungsannonce verschenkt an Leute, die ihm dafür mit dem Auto beim Umziehen halfen. Abends hatte er sein neues Zimmer saubergemacht und eingeräumt, den Schrank vollgestopft und vor allen Dingen sein Bücherregal aufgebaut.

Durch die Dachluke konnte man Sterne zählen, so klar war der Himmel. Draußen war es bitter kalt geworden.

Zweitausend, Fünfhundert und Siebzig. Von jetzt an würde die Uhr also rückwärts laufen. Zweihundertfünfzig kostete das Zimmer im Monat. Das Geld würde schätzungsweise drei oder vier Monate lang reichen. Er hatte sich nicht vorgenommen, sparsam zu sein. Der Entschluss, sein Leben zu verändern und sich umzubringen, sobald sein Geld ausgegeben war, bedeutete durchaus, sich vorher noch etwas zu leisten, um nicht zu sagen, Geld auf den Kopf zu hauen. Vielleicht konnte er jetzt doch noch ein paar angenehme Tage haben, und das sollte nicht am Geld scheitern. Zumindest wollte er nicht schlechter leben und etwa Geld sparen, um seine armselige Existenz zu verlängern und zu verdünnen und immer weiter in die Länge zu ziehen. In die Mensa zum Beispiel wollte er nicht mehr gehen, abgesehen davon, dass er ja kein Student mehr war. Andererseits bedeutet nicht zu sparen nicht, in Ekstase und Verschwendung auf sein Ende zu zu rennen. Dafür brauchte man vermutlich nur einen einzigen Abend, und Alex war sicher, dass er genau an dem dazu bestimmten Abend nicht dazu aufgelegt wäre. Außerdem fand er es pompös und angeberisch, sein gesamtes Geld in einer Orgie durchzubringen und sich anschließend die Kugel zu geben. Mit zweitausendfünfhundertundsiebzig Mark wäre das wohl auch eher albern und armselig.

Immerhin hatte er sich nicht verboten, Geld einzunehmen. Vielleicht würde er im Lotto gewinnen, sechs Richtige mit oder auch ohne Zusatzzahl, das würde möglicherweise Jahrzehnte bedeuten. Das war überhaupt eine witzige Idee, er musste demnächst unbedingt Lotto spielen. Weiterhin hatte er die Möglichkeit, noch weitere Dinge, die er für überflüssig hielt, zu verkaufen. Er könnte sogar für Geld arbeiten, rein theoretisch sozusagen, denn es war zwar äußerst unwahrscheinlich, ohne danach zu suchen eine Arbeit zu finden, die bei ausreichende Bezahlung noch leicht und angenehm und vor allem nicht viel Zeit kostete.

Nur um Geld betteln würde er auf keine Fall, allein der Gedanke daran war ihm verhasst. Er selbst gab Bettlern niemals Geld, seine bevorzugte Entschuldigung war – abgesehen davon, dass er sich für nicht wohlhabend genug hielt –, dass man ja nicht dem etwas gab, der es am nötigsten brauchte, sondern dem, dem zu begegnen man das Pech hatte. Nein, zweimal hatte er es doch getan. Das eine Mal war es ihm einfach peinlich gewesen, dass sich ihm jemand in den Weg stellte und solange auf ihn einredete, bis er seine Mark bekam, und dann bedankte der Bettler sich auch noch. Damals hatte er noch keine Übung darin, einfach weiterzugehen. Das andere Mal war es ein kleiner, langhaariger Obdachloser gewesen, den er vom Sehen kannte, da er oft mit seinen beiden Hunden bei der Mensa herumlungerte. Der hatte ihn eines Samstagabends in der Innenstadt gefragt, ob er ihm dreißig Pfennig geben würde, die ihm für ein Bier fehlten. Diese Ehrlichkeit hatte Alex beeindruckt, wenn auch insgeheim eher belustigt, und er hatte ihm die dreißig Pfennig gegeben. Aber er selbst würde niemals Leute anschnorren. Voller Ingrimm stellte er sich vor, wie er an einer Ecke in der Fußgängerzone stünde, und niemand würde ihm etwas geben, da sie alle annahmen, er würde das Geld vertrinken, oder vielleicht Drogen davon kaufen oder nur Zigaretten. Dabei bettelte er sie um die Verlängerung seines Lebens an. Und die Zeit war schon wieder im Kurs gefallen, seit er nur noch trockenes Brot aß, sie stand jetzt auf ein Tag zu sechs Mark dreiundsechzig. Ekelerregend.

Noch einen Kaffee und dann würde er endlich schlafen gehen. Zum Glück stand seine kleine Kaffeemaschine im Zimmer und Wasser gab es auch, sodass er nicht in die Küche musste. Während der Kaffee durch den Filter lief, nahm Alex die Geldscheine vom Tisch und versteckte sie portionsweise zwischen seinen Büchern. Dabei kam ihm der Gedanke, dass er durch die eigenmächtige Änderung seines Lebensplanes jeden, der jemals in ihn investiert hatte – seine Eltern und die Bundesrepublik Deutschland in erster Linie – übers Ohr hauen würde. Das hatten sie nun davon. Den Kaffee trank er, indem er sich auf dem Stuhl balancierend weit aus der geöffneten Dachluke beugte, Nebelschwaden ausatmete, die heiße dampfende Tasse von einer Hand in die andere nahm und nach Sternen, Straßenlaternen und noch beleuchteten Fenstern suchte. Als die Tasse leer war, legte er sich ins Bett, dessen Federn zu seinem Schreck sehr weit nachgaben, aber er war so müde, dass er bald einschlief.

Gegen Mittag wachte Alex auf, döste noch ein bisschen, stand schließlich auf und frühstückte umständlich, drei Tassen Kaffee und die Reste von den Brötchen und Kuchenstücken, aus denen gestern seine improvisierten Mahlzeiten bestanden hatten. Anschließend ging er den nächstgelegenen Supermarkt auskundschaften.

Nachmittags wollte er die Küche ausprobieren und die gerade gekauften Champignons braten. Sie sah im ganzen etwas alt und schmutzig aus, besaß aber immerhin einen nagelneuen Boiler. Ein paar Töpfe und Pfannen mit angetrockneten Essenresten standen herum und auf der Lampe lag fettiger Schmutz, als sei er wie Schnee darauf gefallen. Alex versengte sich fast die Finger an dem ungewohnten Gasherd, aber all das beeinträchtigte seine gute Laune keineswegs.

Pilze, dachte er, während er dieselben kleingeschnitten in die zerlassene Butter schüttete, fleischgewordene Verwesung, Knollen auf verfaulten Holz. Oder wachsen Champignons auf Stroh oder vielleicht auf Kuhfladen? Nichtsdestoweniger mochte er Pilze sehr gern. Wie wohl gebratene Aasgeier schmeckten?

Er begann, seine mitgebrachten Küchensachen in sein neues Schrankfach einzuräumen: eine Flasche Olivenöl, auf das das Essen besser rutschte. Spülmittel. Der Dosenöffner, das wichtigste überhaupt. Eine Dose roter Pfeffer, die er seit Studienbeginn besaß. Allen Anschein nach befand sich jetzt ein großer roter Klumpen darin, schüttelte man die Dose, so lösten sich einige Körnchen und konnten zu den Löchern heraus rieseln. Ein Marmeladenglas mit Salz, wovon er je nach Tagesform zuviel oder zuwenig nahm, ein anderes voll Zucker, eine Dose Curry, eine mit Oregano. Asche zu Asche, dachte er und streute reichlich davon über seine Pilze. Ketchup oder nicht Ketchup, das ist hier die Frage.

Später am Nachmittag, nachdem er sich an Pilzen mit Nudeln und Ketchup vollgestopft hatte, unternahm Alex einen Spaziergang in die Stadt. Es war immer noch eiskalt, es sah sogar aus, als ob es bald wieder schneien würde. Er lief in die Fußgängerzone, durch eine gepflasterte Straße mit Bänken, Abfallkörben und Pflanzenkübeln, ziemlich teure Geschäfte auf beiden Seiten. Vor einem standen Drahtkörbe mit Waren, Glas und Porzellan. Eine Frau kramte darin herum, Alex sah sie nur von hinten, sie trug einen schwarzen Anorak mit Fellkragen, teuer vermutlich, aber unauffällig. Als er noch etwa zwei Meter entfernt war, wandte sie sich um zum Weitergehen und verlor dabei einen Handschuh, den sie vorher ausgezogen hatte.

»Sie haben ihren Handschuh verloren«, sagte Alex und er fand dabei seine Stimme leise, vor allem heiser und kratzig, schließlich war er nicht darauf vorbereitet gewesen, reden zu müssen. Die Frau blickte sich suchend zur falschen Seite um, worauf er den schwarzen Fäustling aufhob, er war aus schwarzem Wildleder mit Fell und lag unter einem der Körbe, er gab ihn mit einem »Hier, bitte« zurück. Sie trug eine getönte Brille und ihr Gesicht war gebräunt, wovon auch immer, Skifahren oder Sonnenbank. Sie bedankte sich, aber das hörte er nur noch im Weggehen.

War das nun unhöflich, überlegte er. War sie wirklich froh, ihren Handschuh nicht verloren zu haben, oder auch ärgerlich, dass er, also ein vergammelter, ungepflegter Student – seine Schuhe waren lange nicht geputzt, und er trug seine alte, wattierte Jacke – ihren Handschuh in die Hand genommen hatte, den sie vielleicht einen Moment später ohnehin vermisst hätte? Er war vermutlich deshalb so schnell weitergegangen, weil er diesen Fall angenommen hatte, vielleicht auch aus Bescheidenheit oder vielmehr einer Art Minderwertigkeitskomplex. Hatte er überhaupt während des ganzen Vorganges etwas getan, was man wirklich mit Nachdenken bezeichnen konnte? Oder hatte sich nicht vielmehr sein Kopf ebenso mechanisch weiterbewegt wie Arme und Beine, ein Hampelmann, der automatisch Handschuhe aufheben kann? Er fühlte sich benommen. In dem Augenblick, als er in die Knie ging, erinnerte er sich, war es ihm peinlich gewesen, solche Bewegungen auf offener Straße auszuführen.