Der Mathematiker und theoretische Physiker Dr. Paul Kirchberger (1876 - 1945) zeichnete sich durch seine Erfahrung in der Informationsvermittlung als Professor an der Leibniz-Oberrealschule zu Charlottenburg aus. Er veröffentlichte zahlreiche gemeinverständliche Werke aus den Bereichen Mathematik, Astronomie und Physik einschließlich der Quantentheorie. Dabei stand er nicht nur in Verbindung mit renommierten Wissenschaftlern wie Arnold Sommerfeld, Moritz Schlick, Max von Laue oder David Hilbert, sondern war mit einigen von ihnen befreundet. Das garantierte seinen Veröffentlichungen Authentizität und wissenschaftliche Zuverlässigkeit.
Der Naturwissenschaftler Dipl.-Math. Klaus-Dieter Sedlacek, Jahrgang 1948, lebt seit seiner Kindheit in Süddeutschland. Er studierte neben Mathematik und Informatik auch Physik. Nach dem Studienabschluss 1975 und einigen Jahren Berufspraxis gründete er eine eigene Firma, die sich mit der Entwicklung von Anwendungssoftware beschäftigte. Diese führte er mehr als fünfundzwanzig Jahre lang. In seiner zweiten Lebenshälfte widmet er sich nun seinem privaten Forschungsvorhaben. Er hat sich die Aufgabe gestellt, die Physik von Information, Bedeutung und Bewusstsein näher zu erforschen und einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Im Jahr 2008 veröffentlichte er ein aufsehenerregendes und allgemein verständliches Sachbuch mit dem Titel „Unsterbliches Bewusstsein – Raumzeit-Phänomene, Beweise und Visionen“. Er ist der Herausgeber der Reihen „Wissenschaftliche Bibliothek“ und „Wissenschaft gemeinverständlich“.
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„Sagen Sie mal, was ist das eigentlich mit der Relativitätstheorie?“ bin ich schon von recht vielen philosophisch interessierten Laien gefragt worden, und wenn ich auch ihrem Wunsch, ihnen die Sache in fünf Minuten zu erläutern, nicht immer zu entsprechen vermochte, so hatten solche Gespräche doch manches Gute: Sie halfen mir selber, dem die Relativitätstheorie genau dieselben Schwierigkeiten machte wie allen andern Zeitgenossen, zu größerer Klarheit und bestärkten mich in der Überzeugung, dass es möglich sein müsse, die Kernpunkte auch ohne jedes mathematische Rüstzeug zu entwickeln. Dass man von diesem Standpunkt aus auf einiges verzichten muss, versteht sich von selbst, ansonst ja die Mathematik ein überflüssiges Ding wäre. Aber den Lesern, an die ich in erster Linie denke, kommt es beispielsweise auf die Gestalt der Lorentztransformation nicht an, sondern lediglich auf die Grundgedanken, die Relativierung von Raum und Zeit sowie die Möglichkeit, die Theorie anhand der Tatsachen nachzuprüfen.
Natürlich gibt es schon viele populäre Schriften über unseren Gegenstand. Aber auch „populär“ ist ein relativer Begriff. Uhren, die in der x'-Achse des bewegten Systems K' aufgehängt sind und von dem in K ruhenden Beobachter abgelesen werden, machen dem Fachmann keine Schwierigkeiten. Sie absorbieren aber die Aufmerksamkeit des an diese Dinge nicht gewohnten Lesers so stark, dass er nicht nebenbei noch andere und keineswegs einfache Dinge verdauen kann. — Selbstverständlich konnten aber die bisherigen Versuche, die Relativitätstheorie in populärer Form darzustellen, nicht ohne Einfluss auf meine Arbeit sein. Besonders wichtig für mich waren die zahlreichen philosophischen Aufsätze des Herrn Petzoldt sowie die Schriften der Herren Angersbach und Bloch (vergl. den Literaturnachweis am Schluss) und übrigens auch zahlreiche persönliche Unterhaltungen, die ich mit sämtlichen drei Autoren haben durfte. Aber wenn ich nicht glaubte, einem großen und wichtigen Leserkreis noch erreichbar zu sein, dem jene Schriften verschlossen sind, so wäre mein Büchlein nicht entstanden.
Herr Professor v. Laue hatte die große Freundlichkeit, in meine Arbeit vor ihrer Drucklegung Einsicht zu nehmen, einige zweifelhafte Punkte eingehend mit mir zu besprechen, mich beim Lesen der Korrektur zu unterstützen und einem größeren Publikum die Gewähr für unbedingte wissenschaftliche Zuverlässigkeit meiner Arbeit zu bieten. Es ist mir eine angenehme Pflicht, den von mir hochverehrten Mann auch an dieser Stelle meiner herzlichen Dankbarkeit zu versichern. Von den mannigfachen Freunden möchte ich zudem mit besonderer Dankbarkeit die Herren Professoren Schlick (Kiel) und Wieleitner (Augsburg) erwähnen, deren aufmerksame und sehr kritische Lektüre von erheblichem Nutzen war.
Paul Kirchberger
Wenn man politische, philosophische oder auch andersartige Streitigkeiten zu zergliedern und sich die Gründe für ihre gewöhnlich fast völlige Ergebnislosigkeit klarzumachen sucht, so findet man nicht selten als die Ursache dieser betrüblichen Erscheinung eine ungenügende Herausarbeitung des Streitpunktes. Jeder der Streitenden könnte die Behauptungen des Gegners, vielleicht mit dem Vorbehalt, dass sie ihm nicht das Wichtigste zu sein schienen, ruhig zugeben, die beiderseitigen Thesen widersprechen sich gar nicht, eine Widerlegung ist also schon aus diesem Grund unmöglich, und der Streit geht ziel- und endlos weiter. Es ist also für jede ernsthafte Untersuchung von der größten Wichtigkeit, dass der eigentliche Streitpunkt, die Kernfrage, um die alles geht, möglichst klar und unzweideutig herausgearbeitet wird. Mit der Formulierung der richtigen Fragestellung ist nicht selten sowohl für den Forscher als auch für den Lernenden die Hälfte oder sogar der größere Teil der Arbeit bereits geleistet, da manchmal die Antwort leichter ist als die Frage.
Die Geschichte weist auch mehrere Fälle auf, wo selbst eine negative Antwort, d. h. die klare Erkenntnis, dass eine Lösung der Aufgabe in dem ursprünglich erwarteten Sinne durchaus ausgeschlossen ist, von der weittragendsten Bedeutung geworden ist, ja sich sogar als weit fruchtbarer erwiesen hat, als es eine positive Beantwortung getan hätte. Ein bekanntes Beispiel hierfür ist die sogenannte Quadratur des Zirkels, die Aufgabe, ein Quadrat zu konstruieren, das einem gegebenen Kreise inhaltsgleich ist, oder, was auf dasselbe hinauskommt, den Kreis aufzurollen, d. h. eine Strecke zu konstruieren, die eine der Kreislinie gleiche Länge besitzt. Die Lösung der Aufgabe mit Zirkel und Lineal ist unmöglich, aber die Erkenntnis dieser Unmöglichkeit und ihr endlich gelungener Beweis hat die Wissenschaft weit mehr gefördert, als es die verlangte Konstruktion je gekonnt hätte. Ähnliche Beispiele aus der Geschichte der Mathematik ließen sich in ziemlich großer Zahl anführen, aber ungleich bedeutsamer ist ein entsprechender Fall aus der Geschichte der Physik: Die Erkenntnis von der Unmöglichkeit des Perpetuum mobile, d. h. einer dauernd aus sich selbst heraus arbeitenden Maschine, hat zu dem wichtigsten Satz unserer gesamten Naturwissenschaft geführt, dem Satz von der Erhaltung der Energie. Jene Unmöglichkeit und diese Behauptung sind sogar logisch identisch, indem diese aus jener und umgekehrt in schlüssiger Form abgeleitet werden kann.
Ganz ähnlich liegen nun die Dinge bei der Frage, die uns hier beschäftigen wird, der Frage nach dem Sinn und der Möglichkeit der Feststellung einer absoluten Bewegung. Die Frage lautet: Lässt sich die Bewegung eines Körpers nur relativ, d. h. in Bezug auf andere Körper feststellen, oder auch absolut, d. h. in Bezug auf den bloßen Raum? Es bedarf nur geringer Überlegung, um festzustellen, dass gemeinhin eine Bewegung stets nur „relativ“, also mit Beziehung auf einen als ruhend empfundenen Vergleichskörper, gedacht und beschrieben wird. Bewege ich mich in einem fahrenden Eisenbahnzug oder lange ich mein Gepäckstück vom Netz herunter, so ist natürlich der fahrende Wagen der Bezugskörper, die Bewegung der Eisenbahn selber bezieht sich auf die als ruhend angenommene Erde, die Bewegung der Erde wird auf die Sonne bezogen, die fortschreitende Bewegung der Letzteren auf den Fixsternhimmel und der gegenwärtige Stand der Astronomie, verbieten uns nicht, an eine Fortbewegung der gesamten sichtbaren Fixsternwelt zu glauben, die dann freilich, um einen greifbaren Sinn zu bekommen, andere vergleichsweise ruhende Sternwelten voraussetzen würde. Überall also nur „relative“ Bewegung. Wir erklären:
Eine Anschauung, die die alleinige Geltung der relativen Bewegung behauptet und der absoluten Bewegung jeden Sinn abspricht und ihre Erkennbarkeit leugnet, nennen wir ein Relativitätsprinzip.
Wir werden sofort sehen, dass es mehrere Relativitätsprinzipe gibt.
Schließen wir fürs Erste alle naturwissenschaftlichen, insbesondere alle physikalischen Erwägungen aus, und beschränken wir uns auf die rein geometrische Betrachtung, d. h. auf die Raumanschauung, wie sie uns durch den Gesichts- und Tastsinn dargeboten wird, so existiert, wie sofort zu sehen, unbegrenzte Relativität. Bewege ich, indem ich zum Fenster hinaussehe, meinen Kopf nach links, so werde ich durch keine geometrische Überlegung gehindert, die Bewegung nur relativ zur Umwelt aufzufassen. Ich kann mir also vorstellen, dass diese, und nicht mein Kopf, sich bewegt hat, allerdings nach rechts, und zwar die entfernteren Partien schneller, die näheren langsamer. Es sind keine geometrischen Gründe, die mir eine solche Annahme ausgeschlossen erscheinen lassen. Die gegenseitige Lage aller Körper zueinander wird durch die zweite Auffassung der Bewegung genau so gewahrt wie durch die nächstliegende, und nur diese gegenseitige Lage ist es, die geometrisch greifbar ist . Ebenso kann ich natürlich jeden beliebigen andern Punkt als ruhenden Pol auffassen und dementsprechend eine Bewegung der ganzen Welt einschließlich meines Kopfes mit alleiniger Ausnahme des Ruhepunktes behaupten. Und diese Sätze bleiben zu Recht bestehen, so kompliziert auch die infrage stehende Bewegung sein mag. Und wenn ich auf einem fahrenden Karussell Walzer tanze, nichts kann mich, rein geometrisch gedacht, hindern, mich selbst als ruhend hinzustellen und der ganzen übrigen Umwelt, bis zu den entferntesten Himmelskörpern, die entsprechenden Bewegungen zuzuschreiben. Ob eine solche Annahme wahrscheinlich ist, und aus welchen Gründen dies nicht der Fall ist, das soll uns in unseren rein geometrischen Betrachtungen nicht stören.
Das kinematische Relativitätsprinzip ist keineswegs so selbstverständlich und inhaltsarm, wie es nach diesen Bemerkungen scheinen könnte. Es hat vielmehr, wenngleich nicht unter diesem Namen, in der Geschichte der Wissenschaften eine bedeutsame Rolle gespielt, und zwar insbesondere in der Geschichte der Weltsysteme. Den alten Astronomen und auch noch den mittelalterlichen bis einschließlich Kopernikus lag die physikalisch-mechanische Auffassung der Bewegungen der Himmelskörper völlig fern, sie verstanden sie nur geometrisch. Anders ausgedrückt, sie suchten die Bewegungen der Gestirne lediglich zu beschreiben, die Frage nach den Gründen dieser Bewegung wurde nicht aufgeworfen. Von diesem Standpunkt aus ergab sich natürlich eine unbegrenzte Relativität, es konnte jeder Punkt des Weltalls als ruhend angenommen und darauf die Bewegungen des als bewegt angenommenen Teils bezogen werden, also beispielsweise auch auf die als ruhend gedachte Erde. Dies ist bekanntlich der Standpunkt des ptolemäischen Systems, das ähnlich wie die aristotelische Philosophie anderthalb Jahrtausende lang als unantastbarer Kanon des allein Richtigen angesehen wurde. Außerordentlich bezeichnend ist es nun, dass Ptolemäus selbst in der Einleitung seines großen Werkes bemerkt, dass sich die Bewegungen der Sterne, „und zwar vielleicht einfacher“ durch die Annahme einer Erdbewegung beschreiben ließen. Er hat also eine Ahnung unseres geometrischen Relativitätsprinzips gehabt. Keine geometrischen, also keine in seinem Sinn astronomischen Gründe, sondern physikalischmechanische Überlegungen waren es, allerdings irrtümliche, die ihn die Möglichkeit einer Bewegung der Erde leugnen und auf seinem System bestehen ließen.
Die klare Erfassung dieser Fragen scheint auch heutzutage noch ihre Schwierigkeit zu haben. Noch deutlich steht ein kleines Erlebnis in einem Studentenverein vor mir, dem ich vor Jahren angehörte. Es wurde ein Vortrag gehalten über den Astronomen Tycho Brahe, der bekanntlich ein Weltsystem aufgestellt hatte, das zwischen Ptolemäus und Kopernikus vermittelte, aber wie Ersterer die Erde als ruhend annahm. Der Vortragende kritisierte dies ziemlich abfällig, und auch wir Hörer glaubten uns ziemlich erhaben im sicheren Gefühl unserer kopernikanischen Überlegenheit. Da trat in der Diskussion ein Professor, dem offenbar der Schalk im Nacken saß, mit der Behauptung auf, das tychonische System sei buchstäblich richtig, unter der Aufforderung, ihn eines besseren zu belehren. Allseitig zwar sehr erstaunte Gesichter, aber äußerst magere Antworten! Schließlich fand ein junger Student, der in der Zwischenzeit schon bedeutende wissenschaftliche Leistungen vollbracht hat, die richtige Lösung: Durch geometrische Betrachtung des Sonnensystems kann eine Entscheidung überhaupt nicht getroffen werden. Diese ist nur möglich unter Hereinbeziehung des außerhalb des Planetenraums befindlichen Fixsternhimmels oder mit Zuhilfenahme mechanischer Betrachtungsarten.
In einem kürzlich erschienenen Buch findet sich die Bemerkung, die von Galilei entdeckten Phasen der Venus seien nur aufgrund des kopernikanischen Weltbildes möglich. (Die Phasen der Venus, die für sehr scharfe Augen auch wohl ohne Hilfsmittel wahrnehmbar sind, sind den verschiedenen Lichtgestalten des Mondes sehr ähnlich; nur verändern sie sich sehr viel langsamer und sind auch von einer sehr bedeutenden Änderung in der Größe der ganzen Scheibe begleitet.) Wir werden es jetzt besser wissen: Schattenbildungen, wie sie die Phasen der Venus und des Mondes darstellen, sind eine rein geometrische Erscheinung, deren befriedigende Erklärung von dem angenommenen Ruhepunkt der Bewegung ganz und gar unabhängig ist. Dass sie vom Ptolemäischen oder vom tychonischen Weltsystem aus sich genau so gut erklären lassen wie vom Kopernikanischen, ist eine einfache Folgerung aus unserem „kinematischen Relativitätsprinzip". Übrigens wollen wir nicht unerwähnt lassen, dass die zum praktischen Gebrauch des Astronomen und Seefahrers bestimmten „Astronomischen Jahrbücher“ und „Nautischen Jahrbücher“ die Bewegung der Gestirne so aufzeichnen, wie sie einem im Erdmittelpunkt sich bewegenden Beobachter erscheinen müssten, die Erde selbst also als gleichsam ruhend betrachten. Anders ausgedrückt: Für diese rein praktischen Zwecke ist noch heute das geozentrische System in Gültigkeit, und Astronomen und Seefahrer fahren wohl dabei.
Mögen auch vom rein geometrischen Standpunkt aus alle Bewegungen einander gleichwertig sein, so zeigt uns doch die alltägliche Erfahrung, dass dies tatsächlich nicht der Fall ist. Sitzen wir in einem fahrenden Eisenbahnzug, oder noch besser in einem recht sanft und gleichförmig gleitenden Fahrstuhl, so merken wir, dass wir zwar nicht die Bewegung als solche, wohl aber das Anfahren und Anhalten empfinden. Und sitzen wir in einer Straßenbahn oder einem sonstigen Gefährt, so merken wir an eigentümlichen Gleichgewichtsstörungen sofort, wenn wir eine Kurve fahren. Wir merken dies, auch ohne dass wir zum Wagen hinausschauen, also ganz augenscheinlich ohne jede Beziehung auf einen Vergleichskörper, oder, wie wir uns kurz ausdrücken wollen, nicht nur relativ, sondern auch absolut. Ganz dieselbe Auskunft wie unser unmittelbares Gefühl würde uns auch ein mit allen möglichen Apparaten ausgestatteter Physiker geben; auch er wäre, gleichviel durch welche Versuche er dies feststellen wollte, außerstande, die Bewegung des gleichmäßig dahinfahrenden Eisenbahnzugs von diesem aus festzustellen, falls ihm ein Blick aus dem Fenster verwehrt wäre, während er andererseits mit Leichtigkeit und auch ohne Vergleichskörper jede Änderung in der Geschwindigkeit und der Richtung des Zugs bemerken würde. Wollen wir also die Bedeutung der absoluten Bewegung leugnen und die ausschließliche Geltung der relativen Bewegung behaupten, so müssen wir, wie es scheint, zwei Voraussetzungen machen: Die Bewegung muss ganz streng geradlinig sein und stets mit derselben Geschwindigkeit vor sich gehen; es muss, wie man sagt, eine geradlinig-gleichförmige Bewegung sein. Die Behauptung der bloß relativen Bedeutung dieser Bewegungen, diesmal ohne jede Beschränkung in den Hilfsmitteln der Beobachtung (im Gegensatz zum Vorangegangenen), macht den Inhalt des gegenwärtigen Relativitätsprinzips aus. Wir behaupten also:
Geradlinig-gleichförmige Bewegungen üben als solche keinerlei nachweisbare Wirkung aus, sie sind also nicht wahrnehmbar, wir können sie uns beliebig hinzu- oder wegdenken, ohne an den physikalisch greifbaren Bedingungen das Mindeste zu ändern.
Behauptet also z. B. jemand, unsere ganze Fixsternwelt mit ihren Millionen Fixsternen, Sternhaufen, Nebelflecken flöge, ohne dass sich etwas außerhalb ihrer befände, mit ungeheurer Geschwindigkeit durch den leeren Raum, so kann man ihn wohl fragen, wodurch sich denn eine solche Behauptung von ihrem Gegenteil unterscheide. Ob ihr ein philosophischer Sinn zukommt, ist nicht unsere Sache zu entscheiden. Ein naturwissenschaftlicher kommt ihr jedenfalls ebenso wenig zu wie der entgegengesetzten Behauptung, dass der leere Raum an uns vorbeiflöge.
Man sieht leicht, dass das mechanische Relativitätsprinzip völlig identisch ist mit dem sogenannten Trägheitsprinzip, demzufolge jeder Körper seinen ihm einmal eigenen Bewegungszustand so lange beibehält, bis er durch „Kräfte“ zu einer Änderung gezwungen wird. In der Tat: Gäbe es keine Trägheit, so könnten sich die auf der Erdoberfläche oder im fahrenden Eisenbahnzug befindlichen Gegenstände nicht dauernd weiterbewegen, folglich auch nicht „relativ“ zur Erde oder „relativ“ zum Zug in Ruhe bleiben; sie würden sich im Vergleich zum bewegten Bezugskörper anders verhalten als zum ruhenden, d. h. nichts anderes als: Die Bewegung als solche wäre erkennbar, es gäbe kein mechanisches Relativitätsprinzip.
Man sagt nicht zu viel, wenn man behauptet, dass es wenig Sätze gibt, deren völliges Verständnis der denkenden Menschheit solche Schwierigkeiten gemacht hat wie dieser Satz. Wir sahen oben schon, dass Ptolemäus, der das kinematische Relativitätsprinzip anscheinend verstand, am mechanischen scheiterte. Ob Galilei der Erste war, der es begriff, mag ebenso dahingestellt bleiben, wie ob er es wirklich bis in die letzten Konsequenzen hinein durchdachte und in seiner Anwendung niemals irrte. Vielleicht hat erst Newton diesen letzten Rest ausgeschöpft. Aber Galilei war jedenfalls der Erste, der unser Prinzip klar aussprach, seine volle Tragweite erkannte, es ausführlich erörterte und mit der Lebhaftigkeit, ja Leidenschaftlichkeit, die diesen Großen auszeichnete, zum Gegenstand auch populärer Darlegungen gemacht hat. In seinem noch heute sehr lesenswerten Gespräch über die beiden Weltsysteme setzt er mit großer Klarheit ganz im Sinne unserer Darlegungen auseinander, dass sich vermöge des Trägheitsprinzips alle Vorgänge auf der bewegten Erde ganz genau so abspielen, wie sie sich auf der ruhenden abspielen würden, und dass es folglich unmöglich ist, aus Vorgängen auf der Erde auf Ruhe oder Bewegung der Letzteren zu schließen. So trägt denn unser Satz mit Recht Galileis Namen.
Wir müssen noch einen Zusatz machen: Die Bewegung der Erde ist nicht gleichförmig-geradlinig. Sie beschreibt eine fast kreisförmige Bahn um die Sonne und dreht sich um ihre Achse. Aber bei der außerordentlichen Größe des Radius beider Bewegungen können kleinere Teile von ihnen, die bei der kurzen Zeitdauer und der geringen geografischen Ausdehnung der meisten Versuche allein in Betracht kommen, doch als geradlinig angesehen werden. Ist freilich die Ausdehnung eines Versuchs oder eines natürlichen Vorgangs in räumlicher oder zeitlicher Hinsicht so groß, dass die Abweichungen der Erdbewegung von der geradlinig-gleichförmigen in Betracht kommen, so ist hierdurch allerdings die Erdbewegung nachweisbar. Es sind nun verschiedene solcher Erscheinungen bekannt, so die Ablenkung eines vom Äquator zum Nordpol wehenden Windes in östlicher Richtung (weil er die größere östliche Geschwindigkeit, die er hat, beibehält), ebenso das Vorauseilen eines von sehr großer Höhe herabfallenden Körpers gleichfalls in östlicher Richtung, die Drehung eines genügend lange schwingenden Pendels (sog. Foucault-Pendels).
Von besonderer Wichtigkeit ist nun für uns, einen Vorgang, der sich auf einem bewegten Körper oder, wie wir im Anschluss an die übliche Ausdrucksweise sagen wollen, auf einem „bewegten System“ abspielt, von diesem System aus und gleichzeitig von außerhalb zu verfolgen. Nehmen wir, um ein einfaches Beispiel zu bekommen, etwa an, auf dem Verdeck eines fahrenden Schiffes spielen Kinder Ball. Das Schiff ist unser „bewegtes System“, und wir beobachten nun den Ball und namentlich die Geschwindigkeit seiner Bewegung sowohl vom Schiff als auch vom Ufer aus. Vom Schiff aus beurteilt geht das Ballspiel genau so vor sich, wie es sich auf dem festen Land abspielen würde, d. h. die Geschwindigkeit, die der geworfene Ball relativ zum Schiff hat, ist die normale, die er auch auf dem Ufer haben würde, und zwar für die Hin- und Rückbewegung. Verfolgen wir aber den Ball vom Land aus, so ist seine Bewegung in der Schiffsrichtung die schnellere. Denn zu der Geschwindigkeit des Schiffes, die auch er innehat, kommt ja nun noch seine eigene hinzu, die Geschwindigkeiten addieren sich. Bei der Rückwärtsbewegung des Balles haben wir uns die Geschwindigkeit des Schiffes von der „Eigengeschwindigkeit“ des Balles abgezogen zu denken oder umgekehrt, sodass beispielsweise, wenn Ball- und Schiffsgeschwindigkeit (Eigen- und Systemgeschwindigkeit) zufällig einander gleich sind, aber entgegengesetzte Richtung haben, vom Ufer aus beurteilt und relativ zu diesem die Geschwindigkeit null ergibt. Wird umgekehrt auf dem Land der Ball geworfen, so erscheint natürlich seine Vorwärtsbewegung vom Schiffe aus verlangsamt, die Schiffsgeschwindigkeit ist von ihr abzuziehen, während natürlich seine Rückbewegung, verglichen mit dem Schiff, entsprechend schneller erscheint. Nehmen wir nun etwa an, das mastenlos gedachte Schiff verschwinde hinter einem Damm und es seien nur noch die hin- und herfliegenden Bälle oder auch etwa der hohe Hut eines auf Deck auf- und abpromenierenden Fahrgastes sichtbar geblieben, so würde es offenbar möglich sein, aus der Differenz der Geschwindigkeiten in der Hin- und der Rückbewegung einen Schluss auf die Geschwindigkeit des Schiffes zu ziehen. Und ebenso umgekehrt, wenn die auf dem Ufer stattfindende Bewegung vom Schiff aus beurteilt wird. Versuchen wir diese Bemerkungen in abstrakte Form zu bringen, so können wir, wenn wir zunächst nur Vorwärtsbewegungen berücksichtigen, etwa sagen:
Die Geschwindigkeit einer auf einem bewegten System sich abspielenden Bewegung ist, vom ruhenden System aus beurteilt, gleich der Summe der Systemgeschwindigkeit und der Eigengeschwindigkeit der Bewegung. Und ebenso umgekehrt: Die Geschwindigkeit einer Bewegung im ruhenden System ist, vom bewegten System aus beurteilt, gleich der Differenz der Eigengeschwindigkeit und der Systemgeschwindigkeit.