Reisen ist das Entdecken, dass alle Unrecht haben mit
dem, was sie über andere Länder denken.
Aldous Huxley (1894 - 1963)
Evelyn Brennhausen hat mit ihrem Mann zwanzig Jahre im Mittleren Osten und in Asien gelebt. Die Erlebnisse ihres ersten Auslandsaufenthalts hat sie spannend und voller Emotionen in einem Buch verfasst. Zum Schutz der Privatsphäre hat sie alle Namen der Personen geändert.
Heute lebt das Ehepaar am Bodensee.
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© 2016 Evelyn Brennhausen
Illustration: Foto Fotolia
Herstellung: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN:978-3-741296871
Die Maschine befand sich im Steigflug. Wir hielten uns an den Händen und schauten auf die Lichter, die unter uns immer kleiner wurden. Dann verschwanden sie aus unserem Sichtfeld und wir durchstießen die dicke Wolkendecke. Es holperte.
Wie das letzte Jahr, dachte ich, das hatte es in sich. Mehr noch. Es war ein Jahr, in dem es rauf und runter ging.
Es war im Herbst 1990. Ich wartete auf einen Anruf. Einen Anruf, der mein Leben, der unser Leben verändern würde. Alles war streng geheim gehandhabt worden, nichts Brauchbares war durchgesickert. Obwohl die Gerüchteküche brodelte, konnte mein Freund Peter nichts in Erfahrung bringen. Doch heute war Besprechung mit den Chefs. Und heute sollte die Katze aus dem Sack.
Die Warterei zerrte an meinen Nerven. Ich versuchte mich zu beschäftigen, doch es gelang mir nicht. Ständig starrte ich auf das Telefon. Gerade verschwand die Sonne hinter den Häuserreihen. Graue Schatten schlichen sich ins Zimmer. Es schien, als bohrten sie sich wie lange Finger in mein jetziges Leben. War es ein schlechtes Omen?
Plötzlich durchschnitt das Klingeln die Stille. Ich schreckte auf und hastete zum Telefon. War es der Anruf, der Gewissheit bringt? Erfuhr ich nun das Ergebnis nach dem Wohin. Mein
Herz schlug mir bis zum Hals.
Ich riss den Hörer von der Gabel. „Eva …“, aber ich kam gar nicht zu Wort. Mein Freund Peter war am anderen Ende des Hörers und war in heller Aufregung. Voller Erwartung lauschte ich und konnte kaum glauben, was er mir verkündete. Vage nahm ich noch ein: „Tschüss, bis später!“, wahr, dann riss mich ein Knacken in der Leitung aus meiner Schockstarre.
Aufgelegt. Er hatte einfach aufgelegt. ‚Keine Zeit jetzt für weitere Erklärungen‘, hallte es noch wie ein schales Echo in meinen Ohren. Vertröstet auf später! Später? Jetzt sofort wollte ich mehr wissen, ich brauchte Antworten! Vergebens, die andere Seite blieb still.
Der Hörer wog schwer in meiner Hand. Ich knallte ihn auf die Gabel. Alleingelassen mit der ersehnten Gewissheit, mit der ich nichts anfangen konnte. Tausend Fragen schossen mir durch den Kopf. Hundert Gedanken wirbelten hinter meiner Stirn. Wohin sollen wir ziehen? In welches Land? Was war mit den Abmachungen? Mein Kopf dröhnte.
Mittlerweile war die Sonne verschwunden. Ich stand im Dunklen. Und so fühlte ich mich auch. Dunkel, leer, doch vollgepackt mit Unsicherheit.
Ich machte Licht. Das Zimmer erhellte sich, meine Gedanken nicht. Ich sah mich um. Alles stand noch an seinem Platz und doch war alles anders. Befremdlich. Die Zukunft hatte begonnen. Oder nicht?
Nun verstand ich die Heimlichtuerei der Firma. Nach drei Absagen hatten sie händeringend jemanden gesucht. Keiner wollte in dieses Land. Und wir? Wollten wir?
Pläne hatten wir gemacht, mein Freund und ich. Ja, wir wollten raus. Raus in die weite Welt. Etwas erleben. Abenteuer in der Ferne.
Auswandern wollte ich schon immer. Meiner Mutter hatte das damals nur ein ungläubiges Kopfschütteln entlockt. Meinem Freund nicht. Er begeisterte sich dafür, bewarb sich auf eine Stellenanzeige, die die weite Welt versprach und er wurde angenommen
Südostasien …, Indonesien, Malaysia, Thailand oder Singapur. Eines dieser Länder hätte es sein sollen. Alles zunichte, unser Traum von Asien war geplatzt. Geplatzt wie ein zu praller Ballon in heißer Wüstenhitze. Nun blieben wir auf der Mitte der Strecke hängen, weil die Firma dringendst eine Vertretung für ein Land im Mittleren Osten brauchte!
Ich ließ mich aufs Sofa fallen. Die Kissen knallte ich in eine Ecke. Haben wir überhaupt eine Wahl? Können wir ablehnen? Oder bleibt dann Peters Karriere an der ersten Sprosse der Erfolgsleiter hängen?
Mein Blick fiel auf eine Flasche Obstler, die in der Ecke stand. Das war genau das Richtige. Ich stand auf, griff sie mir, holte ein Schnapsglas aus dem Schrank und füllte es randvoll.
Das klare Zeug kippte ich in einem Zug hinunter. Brennend lief es durch meine Kehle. Wärme breitete sich aus. Wohlige Wärme. Ich atmete ein paar Mal tief durch und …wurde ruhiger.
Dann stutzte ich. Alkohol?! Alkohol ist dort doch verboten!
Muslime dürfen doch nichts trinken!
Ich aber schon, dachte ich trotzig, und füllte erneut mein Glas. Bevor sein Inhalt in meinem Magen verschwand, besiegelte ich meine ungewisse Zukunft mit den Worten: „Auf dich, du Unbekannte im Orient! Prosit IRAN!“
Teheran war mein erster Gedanke, als ich am anderen Morgen aufwachte. Teheran, die Hauptstadt Irans. Dort sollen wir hinziehen. Für drei Jahre. Gestern war es fast Mitternacht, als Peter nach Hause kam. Wir hatten noch über das brennende Thema Iran gesprochen und waren dann hundemüde ins Bett gefallen. Doch die Nacht war unruhig, mein Schlaf aufgewühlt. Ich hatte Kopfschmerzen. Von den zwei Schnäpsen konnte das nicht sein, dachte ich. Ich hatte vielmehr die bleischweren Träume in Verdacht, die mich in den dunklen Stunden verfolgt hatten. Ich war noch immer durcheinander.
Das Bett neben mir war leer. Peter war schon aufgestanden. Ich hörte ihn in der Küche hantieren. Bevor mich die nächtlichen Fantasien wieder umgarnen konnten, reckte und streckte ich mich und stand auf.
Einladend duftete der Kaffee. Ich setzte mich an den gedeckten Tisch und nahm einen Schluck von dem heißen Gebräu. Jetzt konnte ich mich nicht mehr zurückhalten und sprudelte los: „Peter, was machen wir denn jetzt? Wir müssen mehr über dieses Land in Erfahrung bringen!“
„Das machen wir ja.“, beruhigte er mich, „es ist noch nichts entschieden. Komm, lass uns erstmal frühstücken.“
Peter war immer so besonnen. Ich nicht, in mir hibbelte und wibbelte es, und zwischen Brot und Marmelade entlud sich eine heiße Debatte. Wir diskutierten das Für und Wider des Angebots, wägten die Vor- und Nachteile ab, betrachteten das Problem von allen Seiten, verglichen und bewerteten die Hinweise. Doch letztendlich wussten wir nicht viel über den Iran, nur was wir gehört und gelesen hatten.
Ich konnte mich noch an die prächtigen Zeiten erinnern, die Zeiten von Macht, Prunk und schillerndem Lebensstil von Schah Mohammad Reza Pahlavi. An seine Frau, Kaiserin Soraya, die verstoßen wurde, weil die Ehe kinderlos blieb. Und an die dritte Ehefrau, Farah Diba, die dem Schah endlich den gewünschten Thronfolger gebar und 1967 zur Kaiserin gekrönt wurde. Die Regenbogenpresse berichtete damals eingehend über diese glanzvollen Ereignisse dieser Monarchen-Familie, deren Jet-Set-Leben im internationalen Rampenlicht so märchenhaft klang. Doch das Märchen nahm ein tragisches Ende. Im Januar 1979 floh der Schah und seine Familie aus dem Land und sie kehrten nie wieder zurück. Eine glitzernde Welt zerbrach.
„Weniger glitzernd ging es danach zu!“, ergänzte Peter, „denn das besiegelte das Ende der Monarchie. Die Islamische Revolution war der Wegbereiter für den in Paris im Exil lebenden Ayatollah Khomeini. Er kehrte zurück und übernahm die Macht im Iran. 1980 zettelte das Khomeini-Regime mit dem Nachbarland Irak einen Krieg an, der acht Jahre dauerte. Acht Jahre große Zerstörung und viel Leid! Dann noch die Besetzung der amerikanischen Botschaft. Sechzig Geiseln wurden 444 Tage festgehalten. Seit Khomeinis Tod im Jahr 1989 öffnet sich das Land wieder. Vielleicht eine Chance, auch für uns!“
„Komm, wir fahren in die Stadt!“, schlug ich vor, „der große Buchladen hat bestimmt etwas Aktuelles über den Iran.“
„Hier gibt es nichts über das Land!“, rief ich.
Ungläubig standen wir im Buchladen vor den Reiseführern. Indien, Indonesien, Irland …, aber Iran? Standen hier nur Reiseführer, die eine heitere Urlaubszeit versprachen? Wir schauten unter P wie Persien, das war der alte Name des Irans. Dort fanden wir tatsächlich etwas! Zwischen Paraguay und Peru lugte ein Heftchen hervor, so zart, so dünn, so scheu, als flüsterte es uns zu: „Ja, mich gibt es noch!“
Ich zog es heraus. ‚Reiseführer Persien‘ und beschrieben wurden Reiserouten durch den Iran. Es wirkte altmodisch. Es war ein Relikt aus dem Jahr 1973, Erstauflage 1967!
Kein Wunder, nach all den Kriegsjahren interessierte sich niemand für Iran. Aber wir kauften es, außerdem noch einen Bildband über das antike Persien.
Selbst die Verkäuferin konnte uns keine weiteren Bücher empfehlen. Doch sie zögerte kurz und bat uns in die Romanabteilung. Vor einem Stapel von Büchern blieb sie stehen und drückte mir ein Exemplar in die Hand. „Ein Bestseller! ‚Nicht ohne meine Tochter’ von Betty Mahmoody!“
Wir lasen, dass das Thema die Flucht einer amerikanischen Mutter mit ihrem Kind aus dem Iran war. Sie wollte weg von ihrem gewalttätigen Ehemann und von seiner unfreundlichen Familie. Das waren ja Aussichten! Wir nahmen es mit.
Das Buch habe ich verschlungen. Ich lernte eine Seite des Irans kennen, die mich zweifeln ließ, ob der Iran wirklich das Land meiner Träume werden konnte!? Ein Land, in dem die Gleichstellung von Mann und Frau nicht existiert!? Mit der Heirat bestimmt der Ehemann über seine Frau. Sie kann ohne sein Einverständnis nicht verreisen, denn der Mann hält ihren Pass unter Verschluss!
Obwohl Frau Mahmoody Amerikanerin ist, musste sie sich verschleiern. Müssen sich alle Frauen verschleiern? Egal welcher Nationalität oder Glaubensrichtung sie angehören? Gibt es Ausnahmen? Muss auch ich mich verschleiern?
Das muss ich ausprobieren! Verstohlen zog ich eines meiner Tücher aus der Kommodenschublade und band es mir um, so wie Frau Mahmoody es in ihrem Buch erklärt hat. Als ich mich im Spiegel sah, erschrak ich. Wie sah das denn aus? Unattraktiv und altbacken. Schnell nahm ich das Tuch wieder ab.
Als ich den Roman zu Ende gelesen hatte, gab ich ihn an Peter weiter. Zuvor hatte er meine aufgeregten Schilderungen geduldig ertragen. Am Schlimmsten fand ich das Los der Frauen, deren Leben durch männergemachte Regeln und Gesetze bestimmt werden. Bei dieser Ungerechtigkeit konnte ich in die Luft gehen.
Mit einer Handbewegung winkte Peter ab: „Eva, du weißt nicht, ob das alles der Wahrheit entspricht. Das ist ein Roman. Der muss reißerisch und übertrieben sein. Würde ihn sonst jemand lesen? Nur so wurde er zum Bestseller.“
Meine Zweifel und mein Argwohn blieben. Es konnte nicht alles erfunden sein. Ich musste für mich klären, wie es auf der Frauenseite aussah. Peter war keine Frau, er hatte gut reden. Er brauchte auch kein Kopftuch tragen. Von verschleierten Männern hatte ich jedenfalls nichts gelesen!
Als wir unseren Eltern und Freunden erzählten, dass wir ein Angebot der Firma für den Iran bekommen hätten, brach ein Tumult los.
„Seid ihr verrückt geworden? Zu den Mullahs wollt ihr gehen? Was wollt ihr da? Überlegt euch das noch einmal genau?“, polterte mein Vater.
„Oh je, meine Eva muss unters Kopftuch!“, jammerte meine Mutter. „Die Frauen müssen sich dort doch verschleiern, oder?
Willst du wie eine Vogelscheuche herumlaufen? Hast du nicht diese schwarz verhüllten Frauen im Fernsehen gesehen? Wie beängstigend die aussehen. Das willst du mit dir machen lassen?“
Peters Eltern hielten sich zurück mit einem: „Wenn ihr meint!“
„Das ist ein gefährliches Land!“, kam es aus der Freundesecke, „dort war lange Krieg! Bleibt lieber hier. Könnt ihr euch nicht an das verheerende Erdbeben im Sommer erinnern, nur zweihundert Kilometer nordwestlich von Teheran? Habt ihr nicht die Bilder im Fernsehen gesehen? Es hatte eine Stärke von 7,4 auf der Richterskala und 50.000 Todesopfer waren zu beklagen. Hunderte von Dörfern wurden dem Erdboden gleichgemacht, der Schaden ging ins Unermessliche!“ All das und noch mehr flog uns um die Ohren. Wie die Hyänen fielen sie über uns her, haben gekämpft, geschnaubt, gedrängelt, wollten dieses Vorhaben Iran aus unseren Köpfen herausziehen wie Unkraut aus einem Beet.
Natürlich konnten wir die Sorgen unserer Eltern und Freunde verstehen. Und die Negativschlagzeilen aus dem Iran machten es nicht besser. Revolution, Krieg, Geiselnahme, Erdbeben, Unterdrückung …! Rebellen, Fanatiker, bärtige Männer mit drohenden Fäusten und schwarz verschleierte Frauen, die lauthals schreiend das Regime durch Demonstrationen unterstützten. Berichterstattung der Medien! Sensationsreportage! Aber konnte es in einem Land nur Missstände geben?
Nachrichten her oder hin, entschieden hatten wir uns noch nicht. Peter wollte sich erst vor Ort ein Bild machen, über das Leben dort, über seine zukünftige Arbeit und wie die Repräsentanz in Teheran aussehen sollte. Die Zusammenarbeit mit dem iranischen Vertreter war ein weiterer Punkt. Dazu musste Peter nach Teheran fliegen.
Als uns Peters bester Freund besuchte, erzählte Peter ihm von seinen Plänen. Die stießen auf pures Unverständnis und er machte Peter Vorwürfe, dass er es wagen könne, in ein Kriegsgebiet zu fliegen.
„Willst du dich mit aller Gewalt in Gefahr bringen?“, preschte er vor, „Saddam Husseins Truppen haben das kleine Emirat Kuwait im August besetzt. Iran grenzt an Irak und was ist, wenn Saddam auch Iran überfällt? Wenn alles dort eskaliert? Du bist so unverantwortlich, wenn du da hin fliegst!“
Dann griff er sogar mich an, dass ich naiv sei, wenn ich das unterstützte, ich müsse Peter zurückhalten und es ihm verbieten.
Unsere Einwände wischte er weg, er hörte gar nicht mehr hin, drohte uns sogar: „Wenn ihr das Angebot für Iran annehmt, spreche ich kein Wort mehr mit euch.“
Er war so aufgebracht, dass die jahrzehntelange Freundschaft zwischen den beiden um ein Haar zerbrochen wäre. Erst als Peter ihm versprach, nicht eher nach Teheran zu fliegen, bevor die Krisensituation dort beendet sei, beruhigte sich sein Freund wieder.
Alle Aufregung umsonst. Auch die Firma war dagegen, dass Peter zu diesem Zeitpunkt in ein Krisengebiet fliegt. Stattdessen wurde ein Treffen mit dem iranischen Repräsentant vereinbart, der gerade in Deutschland weilte. Herr Rahmati, der schon mehrmals mit Peter telefoniert hatte, wollte nun den neuen Anwärter für die Vertretung in Teheran persönlich kennenlernen.
Und mich auch! Ich sollte bei diesem Treffen dabei sein, denn Herr Rahmati wollte mich unbedingt in die Gespräche einbeziehen, wollte herausfinden, ob eine berufstätige Frau, wie ich es war, es meistern würde, plötzlich ohne Arbeit zu sein.
Das wusste ich selbst nicht. Wie auch? Ich arbeitete schon lange in meinem Beruf als Kosmetikerin und das machte mir Spaß. Vor Jahren hatte ich ein Kosmetikstudio übernommen und das lief gut. Wenn ich das nicht aufgeben würde, wäre das Projekt Iran für uns gestorben. Peter ging doch nicht allein nach Teheran und ließ mich in Deutschland zurück. Ins Ausland wollte ich ja auch, aber in den Iran? Ich hing in einem Zwiespalt.
Da muss sich der Herr aus Teheran heute aber mächtig ins Zeug legen, um uns zu überzeugen! Er hatte sich mit uns zum Essen verabredet.
Kaum betraten wir das Restaurant, kam Herr Rahmati auf uns zu. Er war um die vierzig Jahre alt, ca. ein Meter siebzig groß, schlank, schwarzhaarig und auf den ersten Blick sympathisch. Lächelnd begrüßte er uns in seiner Landessprache: „Salam!“
Das ist der Friedensgruß, lernten wir.
Nach der Vorstellung nahmen wir an unserem Tisch Platz und eine lebhafte Unterhaltung entstand. Herr Rahmati sprach kein Deutsch, aber gut Englisch. Ich verstand sogar das meiste. Scheinbar hatte ich in meiner Schulzeit doch fleißiger gelernt, als ich dachte.
Unsere Fragen nach Land und Leuten beantwortete er geduldig und erzählte auch, wie sich das Leben in Teheran abspielt. Natürlich aus seiner Sicht - in den schillerndsten Farben.
„Teheran ist eine zehn Millionen Stadt. Der Alltag ist wie hier“, wollte er uns weismachen, „der Mann geht seinen Geschäften nach und verdient das Geld. Die Ehefrau kümmert sich um die Familie, sorgt für die Erziehung der Kinder, bewältigt den Haushalt und trifft sich mit Freundinnen. Am Wochenende machen die Familien Ausflüge zum Meer oder Wanderungen in die nahegelegenen Berge.“
Nun wollte ich über Einkaufsmöglichkeiten und Lebensmittel etwas wissen.
„Was zum Leben nötig ist, erhalten Sie in den vielen Geschäften, Lebensmittelläden, Märkten und dem Großen Basar. Die Qualität von Obst und Gemüse, Fleisch, Geflügel und Fisch ist hervorragend. Nur Schweinefleisch gibt es nicht, laut Koran ist es für uns unrein. Alkohol ist natürlich verboten. Aber dafür gibt es Kaviar, das ist der kostbare Fischrogen des Störs vom Kaspischen Meer.“
Der interessierte mich momentan weniger, mehr interessierte mich, ob die Frauen ohne Begleitung aus dem Haus gehen dürfen.
„Bei uns können sich die Frauen frei bewegen, Iran ist nicht Saudi-Arabien. Sie dürfen auch Auto fahren“, erklärte er stolz, „allerdings müssen Frauen Kopftuch und Mantel tragen, so schreibt es das islamische Gesetz vor. Verhüllt sein ist auch ein Schutz für die Frauen und sie sind dann garantiert sicher vor Belästigungen! Aber machen Sie sich keine Sorgen“, versicherte er mir, „die iranischen Männer sind Kavaliere und behandeln Frauen höflich und zuvorkommend.“
„Wie sieht die medizinische Versorgung aus?“, warf Peter ein. Herr Rahmati beruhigte uns, in Iran gebe es auch Ärzte, Zahnärzte und Krankenhäuser.
Gut, dachte ich, aber krank werden möchte ich dort nicht und schon gar nicht in ein Krankenhaus müssen. Ob die Frauen dort verschleiert im Bett liegen? Zu fragen traute ich mich das nicht und darüber nachdenken konnte ich nicht weiter, denn Herr Rahmati schmunzelte mich plötzlich ganz schelmisch an: „Was halten Sie davon, dass Männer laut Koran bis zu vier Frauen heiraten dürfen?“
Ihr Männer, dachte ich, Frauen unter den Schleier stecken und vier von denen heiraten!
Meine Gegenfrage, ob Frauen auch vier Männer heiraten dürften, was ich gerecht fände, verneinte er und begründete es prompt: „Früher war es üblich, dass ein Mann zwanzig, dreißig oder mehr Ehefrauen hatte, und die unwiderruflich an den Ehemann gebunden waren bis zum Lebensende. Doch wer kann sich schon um so viele Frauen kümmern? Viele von ihnen fristeten oft ein leidvolles Dasein. Dazu kam, dass zu dieser Zeit viele Kriege geführt wurden, die enorme Verluste unter der männlichen Bevölkerung forderten. Plötzlich standen die Frauen alleine da, ohne Schutz, ohne Einkommen, oft ohne Familie.
Vor solch einem Schicksal bewahrte sie der Islam! Der Koran erlaubt dem Mann nur noch bis zu vier Ehefrauen. Doch er muss fähig sein, für alle den Lebensunterhalt zu verdienen. Diese Art des Zusammenlebens ist streng geregelt, die vier Frauen müssen gleich behandelt werden! Denn nicht nur Schmuck und Kleidung müssen wohlausgewogen verteilt werden, …“, an dieser Stelle grinste er: „…sondern auch der Sex!“
„Der Sex?“, wiederholte ich. Fast verschluckte ich mich und merkte, wie ich rot wurde. Da kannten wir uns kaum und dieser fremde Mann redete freizügig über Sex. So ein Schlawiner.
Er bemerkte meine Verlegenheit und lenkte das Gespräch mit Charme auf seine Familie. „Deshalb habe ich auch nur eine Frau. Aber fünf Kinder.“, berichtete er stolz, „Einen Jungen und vier Mädchen. Doch vier Mädchen sind auch eine große Herausforderung!“
Zum Abschluss sprach Herr Rahmati mit Peter noch über berufliche Angelegenheiten und machte es ihm schmackhaft: „Herr Brandner, wenn Sie nach Teheran kommen, was ich hoffe, helfe ich Ihnen selbstverständlich beim Aufbau. Meine Büroräume befinden sich mitten in der Stadt und für Sie miete ich ein Büro im gleichen Gebäude an! Die Details dafür besprechen wir besser morgen mit allen Beteiligten in der Firma.“
Beim Abschied überreichte uns Herr Rahmati noch eine Tüte Pistazien mit den Worten: „Iranische Pistazien! Das sind die besten!“ Er sollte Recht behalten.
So informativ der Abend mit Herrn Rahmati war, genügte er uns noch nicht, um eine Entscheidung zu treffen. Bald darauf ergab sich für Peter die Gelegenheit, einen Geschäftsmann zu treffen, der mit seiner Frau seit einigen Monaten in Teheran lebte. Paul Decker! Er gab Peter wertvolle Hinweise, beruflich wie privat. Er gab zu, dass es nicht immer leicht sei, doch wer flexibel und offen wäre, könne es meistern. Für die Karriere sei das auf jeden Fall ein Sprungbrett und wenn die Frau mitzöge, umso besser. Oft scheiterten solche Vorhaben an den Frauen, die ihren Beruf nicht aufgeben wollen. Viele seien nicht bereit, den Wohnort zu wechseln oder gar in eine andere Stadt zu ziehen, geschweige denn auszuwandern. Diese Erfahrungen habe er oft gemacht. Wer ins Ausland wolle, dem schwebten meist begehrenswerte Länder wie Amerika oder Australien vor. Doch gerade Gebiete, in denen das Leben nicht so attraktiv erscheine, ließe es sich oft gut leben, allen Unkenrufen zum Trotz!
Natürlich wies Herr Decker auf Einschränkungen hin, die nicht nur die Frau, sondern auch den Mann betrafen. Aber er bestärkte Peter darin, das Projekt Iran zu wagen, und versprach ihm, falls wir uns dafür entscheiden, dass er und seine Frau uns vor Ort natürlich helfen werden.
Diese Informationen aus erster Hand waren Gold wert! Vorsichtig freundeten wir uns mit dem Gedanken ‚Iran‘ an.
Mittlerweile hatten sich unsere Eltern und unsere Freunde beruhigt und gewöhnten sich an unser Vorhaben. Die Argumente pro und contra waren erschöpft und auf einmal zeigten alle Interesse an diesem Land.
Und ich? …, ich bekam plötzlich kalte Füße. Wie aus dem Nichts packte mich der Schreck und Bedenken flackerten schlagartig auf. Wo war meine Abenteuerlust geblieben? Mein Drang in die Ferne? Erst die große Lippe riskieren und dann? Eva, jetzt mal ganz ruhig, redete ich auf mich ein. Stell dir vor, du seist jetzt in Teheran. Ohne Bekannte, ohne Freunde! Wie würde ich meinen Tag gestalten? Ich könnte die Umgebung erkunden oder Einkaufen gehen. Doch wohin? Die Stadt ist riesig und die Sprache fremd. Und wenn ich daheim bin, putze ich oder starre ich die Möbel an, die bald meine besten Freunde werden? Ob die Hilfestellung von Deckers ausreicht? Wie würde es mir ergehen? Wie lange würde es dauern, bis ich Freunde fände? Ein paar Tage? Oder dauerte das Wochen oder gar Monate?
Für einen Mann stellte ich mir den Beginn im Ausland viel einfacher vor. Der geht jeden Morgen zur Arbeit, lernt im Nu seine Arbeitskollegen kennen, kann sich austauschen und ist damit beschäftigt, in seinem Beruf erfolgreich zu sein. Am Abend kommt er nach Hause, erwartet von der Frau, die den ganzen Tag alleine war.
Das Alleinsein bekomme ich bestimmt für einige Zeit hin, besänftigte ich mich. Ich kann mich mit sinnvollen Dingen beschäftigen. Endlich könnte ich viele Bücher lesen, Kochrezepte ausprobieren, die iranische Sprache mit der Schnörkelschrift studieren oder ... etwas ganz Neues lernen, … wie Klavier spielen. Das wäre toll, das würde ich sofort machen. Ob es im Iran Klaviere gibt? Bestimmt. Aber ob ich dort eine Klavierlehrerin finde?
Als junges Mädchen hatte ich auf dem Akkordeon gespielt. Für ein Klavier war in meinem Elternhaus kein Platz. Plötzlich dachte ich an all die Übungsstunden, die ich im Wohnzimmer vor den Noten verbracht hatte. Wenn ich spielte, hat meine Mutter dazu gesungen, es waren Lieder aus ‚ihrer‘ Zeit. Bei einem ‘falschen‘ Ton rief sie jedes Mal: ‚Das war aber nicht richtig‘. Dann habe ich das Stück wieder und wieder gespielt, bis es saß. Ich durfte sogar in dem Orchester meines Musiklehrers mitspielen. Geübt wurde dann für Schulfeste, Stadtgeburtstage und für Adventsfeiern im Altenheim. Wenn wir dort auftraten, bekamen wir kräftigen Applaus für unsere Mühen. Aber mit der Zeit hatte ich keine Lust mehr und schließlich gab ich es auf. Ich war in die Pubertät gekommen und hatte andere Dinge im Kopf.
Aber was wäre, wenn ich mit dem Leben im Iran nicht zurechtkäme? Würde ich unglücklich meine Zeit absitzen bis Peter abends nach Hause kommt? Den ganzen Tag einsam und traurig sein? Auf Dauer könnte ich das nicht. Ich würde zurück nach Deutschland gehen. Was dann? Mein Geschäft wäre weg. Meine Sicherheit auch. Ich müsste mich neu orientieren.
Ich war hin und her gerissen, konnte es durchspielen, wenden und drehen, es half nichts. Mir wurde klar, wenn ich alles aufgebe und mitgehe, dann nur mit einer finanziellen Absicherung! Mit einem Vertrag beim Notar, ganz offiziell. Meine Garantie fürs ‚Scheitern’ mit einem Retourticket ins alte Leben! Hoffentlich würde Peter das verstehen.
Abends erzählte ich ihm von meinen Bedenken, von meiner Angst, ins kalte Wasser zu springen. Und davon, was ich mir überlegt hatte. Er hörte sich alles ruhig an und sagte: „Es stimmt, ich habe einen Job in Teheran und verdiene Geld, im
Gegensatz zu dir, die alles aufgibt. Natürlich machen wir ein notarielles Sicherheitspaket für dich!“
Dann wurde er still, war ganz in Gedanken versunken. Auf einmal kam es trocken: „Hm, lassen wir den Notar, den brauchen wir nicht. Wir können ja auch heiraten!“
Heiraten? Ich war baff …! Er wollte doch nie heiraten!?! Erst konnte ich gar nichts sagen. Glücksgefühle kribbelten in meinem Bauch, die dann frohgelaunt ein Ja auf meine Lippen zauberten. Als seine Frau würde ich mich abgesichert fühlen.
Ein paar Wochen nach Peters Heiratsantrag erfuhren wir, dass der Ehering überhaupt die Voraussetzung ist, um im Iran unter einem Dach zu wohnen. Davon abgesehen, ich hätte gar keine Einreiseerlaubnis bekommen. Da hatten wir doch tatsächlich geglaubt, in wilder Ehe unter Allahs Augen leben zu können. Wie naiv wir doch waren!
Das Jahr 1991 hatte begonnen. Wir verfolgten mit Sorge weiterhin die Entwicklungen am Persischen Golf. Im letzten Jahr, am 2. August 1990, waren irakische Truppen in Kuwait einmarschiert und hielten das kleine Emirat immer noch besetzt. Alle bisherigen Bemühungen und Forderungen des UN-Sicherheitsrates zum Rückzug der irakischen Soldaten aus Kuwait wurden trotz Wirtschaftssanktionen von Bagdad ignoriert.
Das Ultimatum der UN für den 16. Januar verstrich. Am nächsten Tag begannen massive Luftangriffe durch alliierte Truppen, die Ende Februar in Kuwait und in den Süden Iraks einmarschierten. Der Landkrieg begann. Die irakischen Soldaten gaben schnell die Stellungen auf und Saddam Hussein erkannte seine militärische Niederlage an. Doch bevor er ganz abzog, setzte er in Kuwait Hunderte von Erdölquellen in Brand und hinterließ einen Herd der Verwüstung. Eine Umweltkatastrophe von ungeahntem Ausmaß war die Folge.
Im März 1991 ruhten die Waffen und am 12. April wurde offiziell das Kriegsende verkündet. Die letzten Brände wurden erst Ende des Jahres gelöscht.
Endlich bekam Peter von seinem Chef und auch von Herrn Rahmati grünes Licht für die Reise in den Iran. Damit ging auch der Behördenkram los. Ohne Visum keine Einreise, und ohne Einladung kein Visum. Ein Visum konnte erst beantragt werden, wenn eine offizielle Einladung eines Iraners vorlag. Das erledigte umgehend Herr Rahmati.
Vorab wollten die iranischen Behörden die Gründe wissen, weshalb ein Geschäftsmann in den Iran einreisen möchte. Erst dann konnte der Antrag, mit der beigefügten Einladung, gestellt werden.
Wir atmeten auf, als das Geschäfts- und Einreisevisum für vierzehn Tage genehmigt wurde und Peter sich auf den Weg begab.
Während dieser Zeit versuchte er oft, mich telefonisch zu erreichen. Er wählte sich die Finger wund, doch nur selten kam er durch. Die ‚Dame vom Amt‘ existierte noch in Teheran und nur sie leitete die Telefonate weiter. Mal kam die Verbindung zustande, oft nicht, oder sie war so schlecht, dass wir auflegen mussten. Wurde Peter erfolgreich durchgestellt, hörten wir oft ein Knacken in der Leitung. Da sind sie wieder, dachte ich, denn man hatte uns gesagt: ‚Wenn’s knackt, hören sie mit! Seid vorsichtig, worüber ihr sprecht.‘
Deswegen war unsere Unterhaltung nur kurz oder beschränkte sich auf unverfängliche Dinge. Fragen, die mir auf der Seele brannten, musste ich mir verkneifen.
Als die zwei Wochen vorüber waren, holte ich Peter vom Flughafen ab. Es hatte ihm bestens gefallen, das bestätigte sein Redeschwall: „Du wirst es nicht glauben, es war wirklich toll! Ein ganz anderes Leben als hier, aber machbar. Teheran ist eine riesige Stadt und von Bergen umgeben. Der Verkehr in Stoßzeiten ist jedoch katastrophal, aber ein Erlebnis. In dem Bürogebäude, wo zwei Etagen Herrn Rahmati gehören, befindet sich auch mein Büro. Dort gibt es eine Küche mit einem fest angestellten Koch, der jeden Mittag für alle ein warmes Essen zubereitet. Gute persische Hausmannskost. Die war richtig lecker.“
Das hörte sich ja schon mal gut an, dachte ich.
„Herr Rahmati rechnet wirklich damit, dass wir kommen!“, versicherte er mir und erzählte weiter: „Wir haben in Teheran Kunden besucht, wo er mich schon als neuen Repräsentant vorgestellt hat. Jedes Mal gab‘s Tee und nochmals Tee. Schwarz, in kleinen Gläschen. Und diese Zuckerstücke! Das erste Mal gab ich eins in mein Glas und wollte umrühren, doch es gab keinen Löffel. Ich schwenkte den Tee im Glas, damit sich das Zuckerstückchen auflöst. Aber das tat es nicht. Als Herr Rahmati das sah, erklärte er mir, dass man den Tee auf persische Weise trinken muss.“
„Wie trinkt man denn Tee auf Persisch?“, fragte ich interessiert.
„Man legt ein Stückchen Zucker auf die Zunge und schlürft den Tee hindurch, solange, bis er geschmolzen ist.“
Meinen verwunderten Blick deutete Peter richtig.
„Wirklich, die machen das so! Der Zucker wird mit Stärke behandelt und gepresst, damit er nicht zerbröselt. Dadurch entstehen Zuckerblöcke, von denen man dann man mit einem Hammer kleine Stückchen abschlägt. Die Stärke verhindert das schnelle Auflösen des Zuckers im Mund, so kann der Tee mit mehr Genuss und Geduld getrunken werden. Diese kleine Teezeremonie soll zum Verweilen einladen, so hat Herr Rahmati
mir das erklärt.“
Das soll etwas Besonderes sein? Tee trinke ich, wenn ich krank bin. Ich bin eher eine Kaffeetante.
Mittlerweile waren wir zu Hause angekommen und ließen das Gepäck im Flur stehen. Das Auspacken konnte warten, Peters Erlebnisse nicht. Wir kuschelten uns aufs Sofa und Peter erzählte weiter.
„Am Wochenende hatten mich Deckers eingeladen. Was sie so erzählten, klang gar nicht schlecht. Deutsche Familien treffen sich oft und helfen sich auch gegenseitig. Sie alle wohnen in großen Häusern, mit einem Swimmingpool im Garten.“
„Gehen die Frauen etwa mit Kopftuch und Mantel schwimmen?“
„Davon war keine Rede. Man kann nicht in die Gärten einsehen, die sind durch Mauern abgeschirmt. Das war bei Deckers auch so. Und weißt du, die Deckers haben Hausangestellte, die in der Einliegerwohnung des Hauses wohnen. Sie machen alles, kochen, putzen, pflegen den Garten und was sonst noch anfällt. Und während des Abendessens wurden wir von ihnen bedient. Deckers haben ihren Angestellten sogar Betten gekauft, obwohl sie normalerweise auf dem Boden schlafen, weil sie es so gewohnt sind. Wie stolz sie über ihren Aufstieg waren, aber nur für eine Nacht. Am anderen Morgen hatten sie solche Rückenschmerzen, dass sie sich freiwillig wieder zum Schlafen auf den Boden legten. Angestellte sind bei dem Riesenhaus von Deckers auch notwendig. Doch immer jemanden im Haus haben, das wollte ich nicht.“
Darüber hatte ich noch nie nachgedacht. Angestellte? Das wäre ja …
Aber Peter schwärmte schon weiter: „Am Wochenende hat mich Herr Rahmati in die Berge mitgenommen. Dort war Halli Galli! Familien, nein, Großfamilien waren zum Wandern unterwegs und viele machten Picknick. Was auf der ausgebreiteten Decke lag, sah richtig lecker aus. Manche wollten uns sogar einladen. Aber wir lehnten höflich ab und machten in einem Teehaus Rast. Halb liegend auf einer Pritsche haben wir schwarzen Tee getrunken und frische Datteln dazu gegessen. Das war wirklich gut.“
Datteln! Mir lief das Wasser im Mund zusammen und Peter sagte schon: „Datteln sind in meinem Koffer. Ich weiß doch, wie gerne du sie magst.“
Kurz darauf hielt er mir eine Tüte mit den braunen Früchten vor die Nase. Schnell waren ein paar von ihnen in meinem Mund verschwunden. Herrlich!
„Weißt du, wie sehr ich mich auf mein Bett freue?“, meinte Peter, „Das Hotelbett war wirklich gewöhnungsbedürftig. Und das Hotel auch. Als ich in die Lobby kam, stand auf einer Wand in riesigen Buchstaben: ‚DOWN WITH U.S.A.‘ (Nieder mit U.S.A) Das wurde wahrscheinlich während der Revolution 1979 dorthin geschrieben und niemand hat es bis jetzt weggewischt! Daneben hängt ein riesiges Foto von Ayatollah Khomeini, der mit seinem mahnenden Blick auf alle herunterschaut. Runterschauen konnte ich auch von meinem Zimmer, jedoch direkt auf das berüchtigte Gefängnis Evin. Es ist ein dicker Betonklotz und was sich hinter den Mauern abspielt, möchte ich nicht wissen. Niemand spricht öffentlich darüber, nur hinter vorgehaltener Hand. Es werden unmenschliche Haftbedingungen und Folterungen vermutet.“
Mir grauste. Mehr wollte ich davon nicht wissen, deshalb fragte ich schnell: „War das Hotelzimmer war in Ordnung?“
„Ja, groß, sauber und ungemütlich, aber mit Minibar! Nach all dem Tee hatte ich Durst. Ein Bier, das wär‘s jetzt, dachte ich kurz, aber als ich die Minibar öffnete, staunte ich. Weißt du, was drin stand? Nix! Nicht mal eine Flasche Wasser!“
„Aber in unserem Kühlschrank steht etwas drin!“, sagte ich und holte eine Flasche Bier, die ich zischend öffnete. Der Abend wurde lang … mit einer deutschen Brotzeit und einem kühlen Bier gegen den Durst.
Ich hatte das Gefühl, dass der Besuch erfolgreich war. Peters Erfahrung und das, was wir schon vorher zusammengetragen hatten, war eine gute Mischung. Und damit fiel die Entscheidung für den Iran!
Am nächsten Tag teilte Peter der Firma unseren Entschluss mit. Danach liefen die Vorbereitungen auf Hochtouren, im Herbst 1991 sollte es losgehen.
Wir heirateten im wonnigen Mai und meine Angestellte kaufte mein Kosmetikgeschäft, was mich freute. Die Gesundheitstests im Tropeninstitut mit den erforderlichen Impfungen ließen wir auch über uns ergehen. Laut Bericht des Arztes waren wir gesund und tauglich!
Über die Sommermonate flog Peter mehrmals in den Iran, gründete das Vertretungsbüro in Teheran und arbeitete sich ein. Sogar ein Haus fand er für uns und sobald wir die Aufenthaltsgenehmigung in den Händen hielten, so war es mit dem Eigentümer ausgemacht, würden wir es mieten.
Mittlerweile hatten die iranischen Behörden die notwendigen Papiere mit den gewünschten Passbildern von uns bekommen. Für diese Passbilder, so lautete die Vorschrift, musste ich ein Kopftuch tragen. Das islamische Gesetz schreibt vor, dass Frauen, die mit männlichen Familienmitgliedern blutsverwandt sind, sich ihnen ohne Kopftuch zeigen dürfen! Und natürlich darf der Ehemann die Haare sehen. Ansonsten bleibt das Kopftuch auf. Das gilt auch für Fotos.
Das war vielleicht eine Aktion beim Fotografen. Meine kurzen Büschel verschwanden unter dem dunklen Kopftuch, das ich tief in meine Stirn zog. An den Schläfen knickte ich den Stoff nach innen und verknotete die Zipfel fest unter meinem Kinn, damit auch nicht eine Haarsträhne hervorlinste. Ich nahm ein großes Kopftuch, damit der Hals gut bedeckt war. Denn ich hatte gehört, dass die Halspartie Begehrlichkeiten erwecken könnte. Auf Make-up verzichtete ich gänzlich. Als ich mein Spiegelbild betrachtete, sah es ziemlich bescheuert aus. Mein Kopf kugelrund, mein Gesicht zu einem kleinen weißen Dreieck geschrumpft, meine Lippen ganz blass. Und so kam ich aufs Foto, in schwarz-weiß, mit ernster Miene und starrem Blick. Aber vorschriftsmäßig!
Mittlerweile war es September und der Umzugstermin rückte näher. Die Packer standen in den Startlöchern und warteten auf unser Kommando.
Doch eine Hiobsbotschaft erreichte uns, die mit Paukenschlag durch die Tür flog. Damit hatte niemand gerechnet. Die Chefs erstarrten, Bestürzung überall, Herr Rahmati war sprachlos und wir versteinert.
Abgelehnt! Die iranischen Behörden lehnten Peters Antrag auf Arbeitserlaubnis ab! Und damit auch die Aufenthaltsgenehmigung! Alles umsonst! Aller Aufwand für die Katz‘!
Immer wieder lasen wir die Nachricht. Aber es half nichts, sie hatten den Antrag, ohne einen Grund zu nennen, abgewiesen.
„Nicht, wie oft man hinfällt, sondern, wie schnell man wieder aufsteht, ist wichtig!“, hörte ich die Worte meines ehemaligen Lehrers in meinem Kopf. Tja, Aufstehen und das Wichtigste zuerst anpacken. Und das war, das Umzugsunternehmen abzubestellen. Nächster Termin: Unbestimmt. Zu dem Zeitpunkt wussten wir nicht, ob Peter die Genehmigung je bekäme.
Um die Angelegenheit zu regeln, schaltete sich der Mutterkonzern von Peters Firma ein und führte Gespräche mit dem iranischen Arbeitsministerium. Man fand schließlich den Grund der Ablehnung heraus. Wenn die Lage nicht so ernst gewesen wäre, hätten wir darüber gelacht.
Als die iranischen Beamten den Lebenslauf von Peter lasen, wurden sie hellhörig. Dort stand, dass sich Peter bei der Bundeswehr für zwölf Jahre verpflichtet und die Offizierslaufbahn eingeschlagen hatte, und während dieser Zeit zwei Studiengänge absolvierte.
Jemand mit solch einer militärischen Laufbahn wechselte plötzlich in die freie Wirtschaft? Und dann noch im Iran leben und arbeiten wollen? Das schien mehr als verdächtig und dieser Antrag fiel damit aus dem Rahmen. Man ging auf Nummer sicher und lehnte den Antrag ab!
Den Behörden war nicht bekannt, dass bei der Bundeswehr auch zivile Laufbahnen eingeschlagen werden können. Deshalb glaubten sie, dass ein Agent über eine Firma eingeschleust wird.
‚Ein 007, der im Iran spionieren will!‘
Viele Gespräche folgten, die Drähte liefen heiß, der Briefwechsel ging hin und her. Doch die Behörden ließen sich einfach nicht überzeugen. Und wir saßen in Deutschland fest. Früher als geplant war ich Hausfrau, obendrein auch noch ‚arbeitslos‘.
Doch das Üben für den Ernstfall war gar nicht so übel. Ich gab mich dem Haushalt hin, putzte, kochte, machte Einkäufe und genoss mein neues Leben. Peter ging zur Arbeit und im November flog er wieder in den Iran. Komischerweise hatten die Behörden damit kein Problem.
Obwohl ich nicht sicher war, wie die Geschichte ausgeht, lernte ich Farsi, die persische Sprache. Peter hatte bereits im Sommer einen Kurs belegt, aber wenig Zeit zum Lernen gehabt. Sein Buch ‚Farsi für Anfänger‘ kam mir gerade recht und ich lernte Vokabeln und übte die 32 schnörkeligen Buchstaben.
Ursprünglich kommen die Schriftzeichen aus dem Arabischen, woraus die persische Sprache entstand. Daneben gibt es noch vierzehn Dialekte. Ungewöhnlich für mich war, dass Persisch von rechts nach links geschrieben wird. Gar nicht so einfach, an der ‚anderen’ Seite zu beginnen, stellte ich fest.
Leichter dagegen war die Aussprache, z. B. von Salz - Namak oder Pfeffer - Felfel. Diese zwei Wörter gefielen mir. Vielleicht könnte diese Würze den iranischen Behörden helfen! Sie brüteten immer noch über unserem Antrag.
Darüber wurde es Winter. Erst Ende März 1992 kam die frohe Botschaft. Die Arbeitserlaubnis wurde bewilligt und mit dem heißersehnten Stempel versehen.
Kurz danach standen vier Packer vor der Tür und mit ihnen jede Menge Kartons. Die brauchten wir, trotz Teilumzug. Die Firma hatte uns nahegelegt, unsere Wohnung zu behalten, falls etwas Unvorhergesehenes im Iran passieren würde oder Irak wieder verrücktspielte. Außerdem war das Haus in Teheran möbliert.
Was mit auf die Reise ging, stand gekennzeichnet bereit. Geschirr, Bettzeug, Kleidung und ein paar persönliche Dinge verstauten die Packer schnell in die Kartons. Ganz wichtig waren Bücher und die zahlreichen Video-Kassetten mit den Filmen, die wir in der Winterzeit aufgenommen hatten. Konkurrenz fürs iranische Fernsehprogramm.
Stereoanlage und Schallplatten wurden verpackt, genau wie die zwei klobigen Lautsprecherboxen von Peter. Ein Studienfreund hatte sie für ihn gebaut, seitdem waren sie sein ganzer Stolz.
Diese hohen schwarzen Dinger, die kiloweise Sand enthielten für den optimalen Klang, mochte ich nicht. Für mich waren sie ein Makel in der Wohnung.
„Deutschland werden die nicht mehr wiedersehen“, entschied ich, als sie an mir vorbeigetragen wurden. Die Packer ächzten unter dem 25 Kilogramm Gewicht. Im Treppenhaus hörte ich sie fluchen.
Keinesfalls durfte ich eine Bibel mitnehmen. Andersgläubige hätten wir damit kompromittieren können. Deshalb wagte ich auch nicht, sie in irgendeinem Karton zu verstecken. Tennisschläger, Skier und Winterausrüstung kamen jedoch mit ins Gepäck. Kaum zu glauben, im Iran gibt es Skigebiete! Ob wir dort wirklich Skifahren werden?
Außerdem wanderte noch all das in die Kartons, was wir meinten, dort nicht zu bekommen, wie Gummibärchen, Balsamicoessig und Blasentee. Hoffentlich packen die nicht unsere Spirituosen ein, dachte ich mit einem wehmütigen Blick auf unsere guten Sachen. Die durften leider nicht mit. Alkoholeinfuhr ist im Iran verboten und ich machte die Packer darauf aufmerksam. Beleidigt kam es zurück: „Das wissen wir! Wir sind ein internationales Umzugsunternehmen!“
Der Tag ging zu Ende. Ich stand am Fenster und sah, wie die letzten Kartons im Transporter verschwanden. Leise wünschte ich ihnen: „Gute Reise und Auf Wiedersehen!“
Das wünschten uns auch unsere Familien und enge Freunde, als wir ein paar Tage später zum Flugplatz fuhren, um die große Reise anzutreten.
Mittlerweile hatten wir unsere Reiseflughöhe erreicht. Es klirrte und klapperte, die Getränke und das Abendessen wurden serviert. Noch saß ich ruhig in meinem Sitz, aber mit jeder zurückgelegten Meile wurde ich aufgeregter. Nicht, weil ich unserem alten Leben für einige Zeit den Rücken kehrte, nein, weil ich bald die unbekannte Welt kennenlernen würde. Bis zu unserem Abflug hatte ich eine ganze Menge darüber erfahren und gelesen. Doch es hautnah zu erleben und einzutauchen, ist wie Brausepulver im Glas, perlend und prickelnd.
So perlend wie unser Sekt, der vor uns stand. Es war unser zweites Glas. Glück und gutes Gelingen wünschten wir uns beim Zuprosten und tranken ihn genüsslich. Dieser Sekt würde wohl auf unbestimmte Zeit unser letzter Alkohol sein.
In diesem Moment war ich besonders froh, dass wir mit einer deutschen Fluggesellschaft flogen. Nicht nur wegen des Sekts, sondern wegen der westlichen Gepflogenheit. In einer iranischen Maschine hätte ich mich, wie alle anderen Frauen auch, den gesamten Flug über verhüllen müssen. Alkohol hätte es ohnehin nicht gegeben. So genoss ich den Sekt und den Flug ‚oben ohne‘ ganz uneingeschränkt!
Neugierig schaute ich mich in der Kabine um. An Bord waren nur wenige Europäer. Die meisten waren Iraner und Iranerinnen und zu meiner Verwunderung hatten sich viele der iranischen Frauen nicht verhüllt. Den iranischen Männern schien das gleichgültig zu sein. Drei Reihen vor mir trug eine Frau den schwarzen Tschador. Dieses große Tuch, das den gesamten Körper von Kopf bis Fuß umhüllt und nur das Gesicht freilässt. Ich hatte gelesen, dass besonders strenggläubige Frauen diesen Tschador tragen. Ihre zwei Kinder, sie waren im Teenageralter, trugen nur das Kopftuch. Sie kümmerte sich rührend um sie, dabei hielt sie dieses schwarze Laken mit einer Hand fest, damit es nicht vom Kopf rutschte. Trotzdem sah ich, dass sie darunter noch ein Kopftuch trug.
Manche der iranischen Frauen trugen Make-up und bedeckten ihr Haar nur locker mit einem Kopftuch, sodass es weit hinten auf den hochtoupierten Haaren lag. War es Absicht oder nur verrutscht? Auf jeden Fall sah es gut aus.
Das Kopftuchtragen wird eine neue Erfahrung für mich. Ob ich es ertragen kann? Aber was bleibt mir übrig? Wenn alle es tun, wird es leichter. Kopftuch verbindet! Ich werde ein Teil der Masse. Außerdem haben die Frauen keine andere Wahl. Und die Männer? Die machen die Gesetze und die dürfen ohne Kopfbedeckung durchs Leben gehen. Auf einmal unterbrach eine Durchsage meine Gedanken.
„Meine Damen und Herren, wir haben noch eine wichtige Information für unsere weiblichen Fluggäste. Eine Verordnung der iranischen Regierung schreibt vor, dass alle Frauen und Mädchen eine Kopfbedeckung tragen müssen. In Ihrem eigenen Interesse bitten wir Sie daher, das Flugzeug in Teheran nicht ohne Kopftuch zu verlassen. Vielen Dank.“
Danach beobachtete ich ein quirliges Treiben. Die iranischen Frauen verschwanden in den Toiletten oder warteten geduldig davor, bis sie hinein konnten. Als die ersten wieder zu ihrem Platz zurückgingen, wusste ich, was Sache war. Diese Frauen sahen total anders aus und ich fragte mich, ob es dieselben waren!?
„Das gibt‘s nicht. Sie haben sich abgeschminkt.“, flüsterte ich Peter zu. „Wie du gesagt hast, Make-up, Wimperntusche, Lippenstift, alles ist verschwunden!“
Jetzt war das Kopftuch vorschriftsmäßig umgebunden, wie auf meinem Passbild. Was mich aber am meisten erstaunte, war, dass sich nicht nur ihr Äußeres verwandelt hatte, sondern die ganze Person. Körperhaltung, Gesichtsausdruck und der Blick waren wie ausgewechselt. Was vorher stolz, aufrecht und selbstbewusst erschien, war zusammengeschmolzen. Übrig geblieben war eine Unterwürfigkeit, die ich bemerkte. Wie konnte das sein? Lag es am Abschminken? Oder war es wirklich das Kopftuch, das die Frauen dermaßen veränderte? Interessiert schaute ich den Verwandlungen weiter zu. Es war immer dasselbe, wer bunt in der Toilette verschwand, kam farblos wieder heraus.
Den Gang zur Toilette habe ich mir versagt. Mein leichtes Make-up war kaum zu sehen und den Lippenstift wischte ich mir ab. Für diesen Flug hatte ich mich für eine lange Hose entschieden und für blickdichte Strümpfe. Fußknöchel werden als sexy angesehen. Nun musste ich mich nur noch verhüllen. Aus meinem Handgepäck holte ich ‚Mein Iran‘ heraus: das dunkle Kopftuch und den knielangen Mantel in Schwarz. Beides war aus Seide und ein besonderes Hochzeitsgeschenk von Peters Familie. Sie hatten alles extra von einem Iraner aus Teheran besorgen lassen. Meine Außenhaut war also echt. Ob ich das mit dem Blick hinbekommen würde?
Die Maschine landete und als sich die Kabinentür öffnete, strömten alle schleunigst aus dem Flieger. Gleich war es also soweit. Gleich würde ich persischen Boden betreten. Peter kannte das alles schon, doch ich war furchtbar nervös. Noch einmal wischte ich mir über die Lippen.
Einen Schritt vor …, ich war angekommen in dem neuen Land, wollte kurz verweilen, innehalten, doch ich wurde weitergeschoben. Alles drängte zum Einreisebereich. Auf einmal wurde ich von Peter getrennt. Passkontrolle! An diesem Punkt begann die Geschlechtertrennung. Ein Schild mit einem Pfeil und einer
verhüllten Frau als Abbildung wiesen den Weg zur ‚Frauenreihe‘. Zur Sicherheit stand eine Beamtin im Tschador daneben, die mit ernstem Gesicht die Frauen aufforderte, nach links zu gehen. Mich auch.