Eine Seegeschichte von Friedrich Meister
Neufassung und Digitalisierung von Peter M. Frey
In der Neufassung nimmt Peter M. Frey leichte Veränderungen am Originaltext vor, die der Lesbarkeit und der Übertragung in die heutige Zeit geschuldet sind. Ziel ist es, den Charakter des Originals so weit wie möglich zu erhalten. Im alphabetisch geordneten Glossar finden sich Erläuterungen zu Fachbegriffen aus der Seefahrt. Peter M. Frey arbeitet als Publizist und Autor in Süddeutschland.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
Der Seeteufel
Eine Seegeschichte von Friedrich Meister
Neufassung und Digitalisierung von Peter M. Frey
Copyright © 2017 Peter M. Frey
Herstellung und Verlag
BoD - Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 9783743199040
Friedrich Meister wurde 1848 in Baruth in Brandenburg geboren und starb 1918 in Berlin. Er war ursprünglich ein Seefahrer der alten Schule. Zu seiner Zeit wurde der überseeische Handelsverkehr zum größten Teil noch durch Segelschiffe besorgt. Auf solchen Segelschiffen fuhr Friedrich Meister zehn Jahre lang durch alle Meere - die Polarmeere ausgenommen - und bei Sonnenschein und Sturm erlebte er manches Abenteuer. Dabei lernte er fremde Länder und Völker kennen. Er bereiste China, Siam, Japan und den Südsee-Archipel bis zur Küste von Neu-Guinea und nördlich davon, die Philippinen. Er war in Westindien, Nord- und Südamerika, England, Italien und Griechenland. Er sah die „Sultansstadt am Goldenen Horn“, das heutige Istanbul, und die Westküsten des Schwarzen Meeres. In Japan erkrankte er an einem Augenleiden, das ihn schließlich dazu zwang, den Seemannsberuf aufzugeben. An Land wusste er zunächst nicht, wovon er leben sollte. Er versuchte dies und das und gelangte schließlich zur Schriftstellerei. Friedrich Meister ist Autor zahlreicher Jugendbücher.
Aus dem Vorwort von ‚Burenblut’
Der Leser macht die Bekanntschaft von zwei Kapitänen, einem alten Matrosen und dem Helden dieser Geschichte.
„Erziehen Sie ihn hart, Ketelsen.“
Es war um halb sechs Uhr an einem nassen und stürmischen Novembernachtmittag. Ein Mann in schwarzem Düffelrock und großer Schirmmütze kam die Straße herauf, blieb vor einem der kleinen einstöckigen Häuser stehen, zog seine dicke silberne Uhr hervor und blickte beim Schein der flackernden Straßenlaterne auf das Zifferblatt.
„Drei Glasen“, murmelte er, steckte die Uhr wieder ein, fasste mit der Rechten den messingenen Klopfer der Haustür und tat damit drei Schläge, und zwar zwei hintereinander und den dritten nach einer Pause von einigen Sekunden.
„Drei Glasen in der ersten Hundewache“, murmelte er. Poch, poch - poch.
Drinnen wurden schlurfende Schritte vernehmbar, die Tür öffnete sich und ein etwas gebeugter, grauhaariger, gebräunter und verwitterter Seemann erschien auf der Schwelle. Seine Kleidung bestand aus einem blau und rot gestreiften Sweater und einer dunklen, schon recht bejahrten Hose, die durch einen Riemen emporgehalten wurde, an dem sich hinten ein Scheidenmesser befand.
„Guten Abend, Hannes Geitau“, sagte der Ankömmling, „ist der Kaptein da?“
„Jawoll, Steuermann - oder Keppen Ketelsen, wenn ich Sie nun so nennen soll, denn die Zeiten ändern sich“, antwortete der alte Seemann.
„Lass den Kaptein mal sein, Hannes“, entgegnete der Besucher, schob den Alten auf die Seite und trat in das Haus. „Ich bin ein bisschen spät dran.“
„Das merk’ ich, und der heiße Labskaus merkt das auch. Der brutzelt im Bratofen wie in der Mittagssonne wenn man gerade den Äquator passiert.“
„Ist schon gut, Hannes, ist wohl nicht so viel zu verderben“, lachte Ketelsen. „Aber ich höre den Alten husten; wenn ich mich nicht ganz täusche, dann gibt es noch eine Bö.“
„Da haben Sie recht, Kaptein, mit Reedern ist nicht zu spaßen“, sagte Hannes und machte die Stubentür auf.
Ketelsen trat in das Zimmer, dessen Wände allenthalben mit Schiffsbildern und einer Menge von überseeischen Merkwürdigkeiten geschmückt waren. Am Kaminfeuer saß in einem Lehnstuhl ein ältlicher Mann, dem man auf den ersten Blick den Seefahrer ansah.
„Sie kommen spät, Ketelsen“, sagte er.
Seine Stimme war kräftig und tief, trotzdem aber verriet sie, dass der Sprecher stark erkältet oder sonstwie leidend war.
„Das tut mir leid, Keppen Brand“, lautete die Antwort, „aber da war noch etwas von der Ladung an Land, und da musste ich gehen und Dampf achter machen.“
„Ist das Schiff denn jetzt seeklar?“
„Ja, Kaptein, seeklar. Heute Nacht gegen zwölf haben wir Hochwasser.“
„Und ich muss hier sitzen und meine Käthe ohne mich in See gehen lassen! Sie können sich nicht denken, Ketelsen, wie schwer mir das Herz ist! Bis Sie wieder binnen kommen, habe ich niemand als den Jungen.“
„Und Hannes Geitau“, sagte Ketelsen. „Der bleibt bei Ihnen, so lange seine Spanten und Planken zusammenhalten, und er ist noch einer von den alten, kernigen Leuten.“
„Das ist richtig, und zuverlässig und treu ist er auch“, nickte Kapitän Brand. „Aber Sie haben niemals eine liebe Frau verloren, sind niemals krank gewesen und brauchen nicht aufzuliegen wie ich alter abgetakelter Kerl.“
Hannes steckte den Kopf zur Tür herein: „Soll ich den Tisch decken?“
„Ja. Ich habe mit Keppen Ketelsen wichtige Sachen zu besprechen, und nach dem Abendbrot sind die Gedanken klarer als vorher.“
Während Hannes den Tisch deckt, soll der Leser näheres über die beiden Kapitäne erfahren. Kapitän Brand war ein Mann von etwa fünfzig Jahren. Er hatte früh angefangen zur See zu fahren, ohne dabei zu etwas Rechtem gekommen zu sein. Endlich aber war das Glück ihm hold. Er fand ein verlassenes Wrack auf See und schleppte es in den Hafen. Die Ladung war so wertvoll, dass das Bergegeld ihn zu einem verhältnismäßig reichen Mann machte. Nun kaufte er sich unter günstigen Bedingungen eine schöne neue Bark und taufte sie Käthe, nach seiner über alles geliebten jungen Frau, die ihn künftig auf seinen Reisen begleiten sollte, was ihm vorher von seinen Reedern nicht gestattet worden war. Allein Gott hatte es anders bestimmt. Vierzehn Tage vor Beginn dieser Reise wurde Frau Käthe von einer Krankheit befallen, die sie schnell dahinraffte. Der Schmerz des unglücklichen Kapitäns war nicht zu beschreiben, aber er trug ihn wie ein echter Mann.
Als einzigen Trost nahm er nun seinen fünfjährigen Sohn Gert mit sich an Bord, aber schon nach der zweiten Reise ließ er sich von seinem Obersteuermann und erprobten Freund Ketelsen überreden, den Kleinen daheim zu lassen, damit er zur Schule geschickt werden könne. Der Matrose Hannes Geitau, der lange Jahre unter Kapitän Brand gefahren war, und dessen Alter ihm das Leben an Bord bereits beschwerlich zu machen anfing, wurde zum Hüter und Erzieher des Jungen ausersehen und zog mit diesem in das kleine Haus, in dem der Kapitän ein so glückliches Familienleben geführt hatte.
„Hannes kann dem Jungen während einer einzigen Hundewache mehr beibringen, als ein Schulmeister in einem ganzen Jahr“, sagte der Schiffer. „Gert soll ein Seemann werden und Hannes ist ganz der Mann, einen tüchtigen Janmaaten aus ihm zu machen“.
Und so war er ohne seinen Sohn wieder auf die Fahrt gegangen, und das einzige, was ihn nun noch an seine geliebte Verstorbene erinnerte war seine Bark Käthe. Solange er sich an Bord befand, fühlte er sich von ihrem Geist umschwebt“.
„Das Essen ist fertig“, sagte Hannes, den Deckel von der Labskaus-Schüssel abnehmend.
Kapitän Brand erhob sich von seinem Lehnstuhl und nahm mit seinem Gast am Tisch Platz. Der alte Matrose stand in einiger Entfernung. Der Schiffer stieß mit dem Griff des Tranchiermessers kräftig auf den Tisch, das Zeichen zum Gebet. Alle drei Männer neigten die Köpfe und der Hausherr sprach das „Aller Augen“.
Das Mahl währte nicht lange und wurde schweigend eingenommen. Danach setzten beide Kapitäne sich an den Kamin und zündeten ihre Pfeifen an.
„Also heute Nacht gehen Sie mit der Käthe in See, Keppen Ketelsen“, begann Brand nach einer gedankenvollen Pause, „und ich ...“
„Sie führen Sie die nächste Reise, und dann bin ich wieder Ihr Steuermann“, sagte Ketelsen.
„Nicht doch, mit mir ist’s aus. Mischen Sie Ihren Grog!“ ... Hannes hatte heißes Wasser, Rum, Zucker und zwei Gläser vor sie auf den Tisch gestellt ... „Und stoßen Sie mit mir an. Sie kennen unseren alten Toast.“
Er hob das Glas und Ketelsen tat das gleiche.
„Meine Käthe!“, sagte er.
Sie tranken mit tiefem Ernst.
„Vielleicht sieht sie uns“, fuhr er fort. „Bald werde ich bei ihr sein. Doch nun zur Sache.“
„Halt an ein bisschen“, fiel Ketelsen ein. „Wir fahren jetzt schon zwanzig Jahre miteinander, und noch niemals haben Sie ans Sterben gedacht, obwohl wir manchmal in verdammt böser Klemme steckten. Wenn Sie einmal tot vor mir liegen, dann will ich’s glauben, vorher nicht. Wüsste ich, dass es bald mit Ihnen zu Ende ginge, dann schleppte ich Sie noch heute Nacht mit mir an Bord, damit Sie wenigstens auf eine anständige Art sterben und ein Seemannsbegräbnis haben könnten. Sie, Kaptein, Sie haben noch manche schöne Reise vor sich. So, was wollten Sie mir sagen?“
„Wegen des Jungen wollte ich mit Ihnen reden. Ich habe ihn zu Bekannten geschickt, um ihn hier aus dem Weg zu haben. Sie meinen, ich könnte noch länger leben, der Doktor aber denkt anders. „Brand“, sagte er zu mir, „Ihr Leben zu retten, gibt es nur eines, und das ist Ruhe! Sie dürfen nicht mehr an Bord gehen. Wenn Sie an Land bleiben, dann ist noch Hoffnung. Vorausgesetzt, dass Sie nicht wieder so einen Anfall bekommen. Kommt wieder einer, und Sie haben nicht sofort ärztliche Hilfe, dann sind Sie verloren. Also an Land bleiben, unbedingt!“
Ich ließ mir das Ding durch den Kopf gehen und dachte an den Jungen. Um seinetwillen bin ich denn auch zu Anker gegangen, und Hannes und ich erziehen nun Gert gemeinsam. Aber, Ketelsen, Hannes wird alt. Er ist fest wie Granit, das wird ihn jedoch nicht hindern, eines Tages zu sterben, und wenn ich hinüber bin, und auch er nicht mehr ist, was wird dann aus dem Jungen? Das macht mir das Herz schwer. Wenn Sie von dieser Reise wieder binnen kommen, und ich inzwischen gestorben bin, dann sollen Sie ihn zu sich an Bord nehmen und einen tüchtigen und gottesfürchtigen Seemann aus ihm machen. Wollen Sie mir das versprechen, Keppen Ketelsen?“
„Das will ich, Keppen Brand, das verspreche ich Ihnen.“
„Er soll vorn im Logis als Decksjunge anfangen, wie sein Vater angefangen hat. Ohne Vorzug vor den anderen. Hernach wird er ein richtiger Seemann sein, vom Kiel bis zum Flaggenkopf. Erziehen Sie ihn hart, Ketelsen, lassen Sie ihm nichts durchgehen, um meinetwillen, Ketelsen. Behandeln Sie ihn wie jeden anderen, nur sonntags mag er ein Extrastück Kuchen kriegen, das heißt, wenn er die ganze Woche seine Pflicht getan hat.“
„Keppen Brand“, versetzte Ketelsen, „ich weiß, wie Sie selber ihn erzogen haben würden, und ich werde danach handeln. Ich hoffe aber, das wird nicht geschehen.“
„Fassen Sie ihn hart an, Ketelsen, hart!“, wiederholte der Schiffer.
In diesem Augenblick ging die Haustür und der Gegenstand dieser Unterredung kam ins Zimmer herein.
„Hallo Gert!“, rief Kapitän Brand und nahm den, ihn liebevoll umhalsenden Jungen auf sein Knie. „Unser Freund hier, Keppen Ketelsen, ist gekommen, dich mit an Bord der Käthe und auf See zu nehmen. Willst du mit ihm gehen?“
„Gern, Vater, wenn Du es erlaubst!“, antwortete der Junge mit aufleuchtenden Augen.
„Was? Und Deinen Vater ganz allein zurücklassen?“
„Du hast mich sooft mit Hannes allein gelassen, daher weiß ich, wie gut er auch für dich sorgen würde. Er kann feine Geschichten erzählen, das sag’ ich dir! Gerne gehe ich, Vater!“
„Wollen Sie ihn haben, Ketelsen?“
„Meine Mannschaft ist vollzählig, aber ich könnte ihn vielleicht als Überzähligen, als Spielvogel mitnehmen, als Jimmy Ducks, wie die Engländer sagen.“
„Möchtest du als Jimmy Ducks mitgehen, Gert?“
„Die Bezeichnung klingt läppisch, aber meinetwegen. Von Hannes habe ich schon viel gelernt, ich kann spleißen und allerlei Steken machen, auch feuern und reefen könnte ich schon, glaube ich. Darf ich, Vater?“
„Nein, mein Sohn, diesmal noch nicht. Ich freue mich aber, dass du keine Lust hast, eine Landratte zu werden. Sage mir jetzt, gute Nacht und wünsche Keppen Ketelsen glückliche Reise, und dann geh zu Bett. Wir haben noch mancherlei zu besprechen, und nächste Reise nimmt er dich vielleicht mit.“
„Er lernt sehr gut in der Schule“, sagte Keppen Brand, als der Junge hinaus war. „Neulich schrieb mir sein Klassenlehrer, er bedaure, dass Gert zur See gehen wolle, er habe so gute Anlagen, dass ich ihn lieber einem Beruf zuwenden sollte, in dem sein scharfer Verstand zur vollen Geltung gelangen könnte. Als ob scharfer Verstand zum Seemannsberuf nicht nötig wäre!“
„Sie haben dem Schulmeister hoffentlich die richtige Antwort gegeben“, sagte Ketelsen, „und den Jungen aus der Schule genommen.“
„Geantwortet habe ich dem Lehrer, den Jungen aber in der Schule gelassen, denn der Mann meinte es in seiner Weise recht gut.“
Sie tranken ihren Grog und redeten noch hin und her, bis die Uhr elf schlug.
„Jetzt muss ich gehen“, sagte Ketelsen, „ich will zur rechten Zeit an Bord sein.“
„Na, denn adjüs, Maat“, versetzte Brand. „Ich werde den Kurs der Käthe täglich auf meiner karte abstecken, und wenn Sie wieder da sind, wollen wir unsere Karten vergleichen. Sie wissen Ihre Instruktionen, was?“
„Bis auf den Punkt.“
„Also adjüs, alter Freund. Möge der Herrgott mit Ihnen und meiner guten Käthe sein.“
Hannes wurde hereingerufen, und alle drei tranken auf eine erfolgreiche Reise.
Keppen Brand und der alte Matrose geleiteten den Schiffer der Käthe aus dem Haus und kehrten dann in das trauliche Gemach zurück, während jener durch Wind und Regen zum Hafen hinabschritt.
„Was ist mit Ihnen, Kaptein?“
Warum Gert vor der Zeit an Bord kommt.
Was er als Decksjunge zu tun hat.
„Bleib noch ein bisschen bei mir, Hannes“, sagte Keppen Brand, als er wieder am Kamin saß, „ich komme mir vor, wie ein Barometer vor dem Sturm; meine Seele ist tief niedergedrückt, um viele Zoll gesunken. Denk doch, alter Junge, zum ersten Mal seit ich sie habe, geht die Käthe ohne mich in See!“
„Das Gefühl kenne ich, Kaptein“, entgegnete Hannes Geitau; „das ist mir ganz genauso gegangen, als Sie mich nicht mehr anmustern wollten, von wegen meiner Jahre. ich weiß wie einem zumute ist, wenn man abgetakelt ist.“
„Abgetakelt“, fuhr der Schiffer jetzt auf. „Wer ist abgetakelt? Ich kann heute noch den Reueltopp hochklettern! Nein, abgetakelt bin ich noch lange nicht, ich liege nur im Trockendock zu Reparatur. Weißt du übrigens, dass morgen Gerts Geburtstag ist? Dreizehn wird er.“
„Weiß ich, und ein großer, schöner Junge ist er für sein Alter. Mag der liebe Gott ... Was ist mit Ihnen, Kaptein?“
Der Schiffer war plötzlich totenbleich in den Lehnstuhl zurückgesunken und rang mühsam nach Luft.
„Der Anfall ...“, ächzte er, „es ist aus mit mir! Hol den Doktor ... und dann ... dann bring den Jungen an Bord! Eile ... ich ... ihr erreicht das Schiff noch. Sage Ketelsen, er solle sich meines Sohnes annehmen, mit mir sei es nun zu Ende. Er hat mir’s versprochen. Macht, dass ihr fortkommt!“
„Jawoll, Kaptein“, antworte Hannes gewohnheitsmäßig, jetzt aber ebenfalls bleich vor Schreck, und ohne an Mütze und Jacke zu denken, rannte er davon, zu dem in der Nähe wohnenden Arzt, und als er dort seine Hiobsbotschaft ausgerichtete hatte, kehrte er in größter Eile ins Haus zurück.
Kapitän Brand lag ausgestreckt auf dem Fußboden, schwer röchelnd, aber bei voller Besinnung. Hannes legte ihm ein Kissen unter den Kopf.
„Bring den Jungen an Bord!“, stieß der Leidende hervor.
„Jawoll, Kaptein“, antwortete der alte Matrose mit versagender Stimme.
Er sprang die Treppe zu dem Obergeschoss hinauf und stürzte in das Schlafzimmer, wo Gert in friedlichem Schlummer lag.
„Reiß’ aus Quartier!“, rief er und schüttelte den Schläfer heftig an der Schulter. „Raus mit dir, Junge, es ist deine Wache an Deck! Keppen Brand hat Order gegeben, dass du an Bord gehen sollst. Es ist keine Zeit mehr zu verlieren, hörst du? Zieh dich an und komm mit!“
Gert fuhr verwirrt und schlaftrunken empor, gehorchte aber sogleich und war in wenigen Minuten angekleidet.
Hannes hatte inzwischen hastig sein Bündel gepackt und nun gingen beide hinunter.
„Ich muss doch erst Vater adieu sagen!“, wehrte sich der Junge, als Hannes ihn ohne weiteres zur Haustür hinausschieben wollte, da er nicht wollte, dass er den Schiffer sehen und sich vor dessen Zustand entsetzen sollte.
„Bleib hier, ich will ihn erst fragen“, entgegnete er. Dann steckte er den Kopf in die Stubentür.
„Wollen Sie Ihren Gert noch einmal sehen, Kaptein?“, fragte er.
„Ja, bring ihn her ... aber erst hilf mir in den Stuhl ... ich werde mich zusammennehmen.“
Dies geschah, dann kam Gert herein.
„Komm her und küsse mich, mein lieber Sohn“, sagte der Vater heiser und tonlos. „Du gehst jetzt an Bord; das soll mein Geburtstagsgeschenk für dich sein.“
„Ich danke dir, lieber Vater“, antwortete der Junge, „damit machst du mir die größte Freude“, und gerührt hing er an des Schiffers Halse.
„Bleibe gut und werde ein tüchtiger Fahrensmann“, sagte dieser und drückte ihn an sich. „Nun geht mit Gott, mein Segen ist mir dir. Lebewohl!“
Gerts Augen füllten sich mit Tränen, um sie vor seinem Vater zu verbergen, ging er schnell hinaus.
Jetzt wandte der Schiffer sich an Hannes Geitau.
„Du weißt, was du zu tun hast“, sagte er.
„Jawoll, Kaptein.“
„Ketelsen soll einen Mann aus ihm machen, er soll ihn gut behandeln, aber auch hart und unnachgiebig sein, wenn’s not tut. Sag’ ihm das.“
„Jawoll, Kaptein.“
Als der alte Matrose mit Gert auf die regennasse Straße hinaustrat, kam ihnen der Doktor entgegen. Hannes ging mit ihm einige Schritte zurück.
„Höchste Zeit!“, raunte er ihm zu. „Ich fürchte, diesmal sieht es schlimm aus mit ihm. Aber wenn unser Herrgott das will, dann bringen Sie ihn noch mal durch.“
„Ich werde tun, was ich kann“, antwortete der Arzt. „Wohin wollen Sie zu dieser Nachtzeit mit dem Jungen?“
„Der soll an Bord und auf See. Er ist noch ein bisschen jung, aber der Alte meint, dass man keinen Waisen an Land brauchen kann.“
Damit ließ er den Doktor stehen und lief schnellen Schrittes mit Gert dem Hafen zu. Diesem war es noch immer ganz wirr zu Sinne. Er wäre seelenfroh gewesen, hätte er des Vaters Entschluss rechtzeitig erfahren, aber so urplötzlich aus dem Bett geholt zu werden und kaum Zeit zum Abschiednehmen zu haben, das kam ihm doch gar zu seltsam vor.
Und was mochte nur mit dem Vater gewesen sein? Wie hatte er so bleich in seinem Stuhl gelehnt, wie hohläugig und traurig hatte er ihn angeschaut! Ein unbestimmtes Bangen überkam ihn.
Eine Zeitlang wanderten sie schweigend miteinander dahin, jeder hing seinen Gedanken nach. Der alte Matrose hielt des Jungen Hand gefasst.
„Hannes“, begann dieser endlich, „warum hat Vater mir nicht früher gesagt, dass ich mit Keppen Ketelsen zur See soll?“
„Das weiß ich nicht, Sohn, ich bin nicht der Kapitän; aber was er will, das muss ausgeführt werden“, war die Antwort.
„Ich weiß“, sagte Gert. „Aber ich glaube, mit dem Vater ist etwas nicht in Ordnung, er war so ganz anders als sonst. Warum kam der Doktor noch so spät?“
„Weiß ich nicht, Sohn. Vielleicht wollte er sich mit dem Vater noch ein bisschen unterhalten. Als Geburtstagsüberraschung um Mitternacht an Bord geschickt zu werden, das ist doch ein dolles Stück, was, Gert? Aber das war doch immer dein Wunsch, oder?“
„Ja, und ich freue mich, dass er jetzt erfüllt wird. Aber mit dem Vater war’s nicht richtig. Meinst du nicht auch, Hannes?“
„Mach erst mal eine Reise mit unserem Keppen Ketelsen, dann wirst du nicht mehr unnütz fragen. Dein Vater will, dass du auf die Käthe gehst und das machst du jetzt, ich habe dich schließlich gut erzogen.“
„Ich will nichts mehr fragen“, entgegnete Gert kleinlaut, „aber der Vater ...“
„Dein Vater hat gesagt, du sollst an Bord deine Schuldigkeit tun, hast du mich verstanden?“
„Ja, Hannes.“
Ziemlich außer Atem kamen sie auf der Werft an, an der die Käthe lag, die soeben von einem kleineren Dampfer ins Schlepptau genommen wurde.
„Schnell, Junge“, rief Hannes, und es gelang ihnen noch mit genauer Not, in die Achterrüst zu springen, da zwischen Schiff und Werft bereits vier Fuß breiter Abgrund klaffte.
An Deck der Bark war alles in voller Beschäftigung. Hannes führte den Jungen in die Kajüte und gebot ihm, bis auf weiteres hier zu bleiben. Darauf begab er sich auf das Kampanjedeck, wo er den Kapitän bemerkt hatte. Derselbe stand neben dem Lotsen.
„Hallo, Hannes!“, rief er erstaunt. „Was ist los? Was bringst du? Doch nichts Schlimmes?“
„Ich bringe dir den Jungen“, antwortete der alte Matrose.
„Um Gott!“, rief Ketelsen, der sogleich an seinen Freund und dessen tückische Anfälle dachte. „Ist er tot?“
„Nee, wenigstens lebte er noch, als ich weg ging. Er denkt aber, dass es bald mit ihm zu Ende gehen wird“, sagte Hannes und berichtete dann, was sich in dem Häuschen am Lande zugetragen hatte.
„Ketelsen soll einen fixen Fahrensmann aus ihm machen, er soll ihn gut behandeln, aber ihn auch einmal hart anfassen, wenn das nötig sein sollte. Das war das letzte, was er mir sagte“, so schloss er.
„Glaubst du, dass seine letzte Stunde gekommen ist?“, fragte Keppen Ketelsen.
„Er sagte das so zu mir, Kaptein“, entgegnete Hannes, „und solang ich ihn kenne, und das sind viele Jahre, hat er immer recht behalten, wenn er etwas gesagt hatte.
Ketelsen schüttelte traurig den Kopf und schritt mit dem alten Matrosen der Kajütsklappe zu.
„Weiß der Junge, wie es mit seinem Vater steht?“, fragte er.
Hannes zuckte die Achseln.
„Er ist ein schlauer Junge und hat verdammt scharfe Ohren am Kopf“, antwortete er. „Er denkt, diese Reise soll ein Geburtstagsgeschenk für ihn sein. Aber man kann nicht wissen, ob er nicht doch etwas gemerkt hat.“
In der Kajüte angelangt, sahen sie Gert auf dem Tisch sitzen, mit dem Beinen baumeln und ein Stück Hartbrot kauen.
„Haha!“, lachte Hannes. „Warte einmal vierzehn Tage, mein Junge, dann wird dir das Schiffsbrot wohl nicht mehr so gut schmecken!“
Ketelsen begrüßte ihn mit väterlicher Freundlichkeit und schickte ihn sogleich zu Bett, damit er den unterbrochenen Schlaf fortsetzen könne.