„meiner Mutter, meinem Vater,
Pari- Sophie, Marc-Lauren,
Peter und all denjenigen,
die nie aufgeben in ihrem

Leben nach Freiheit und

Selbstbestimmung zu streben.“

Die Freiheit des

Menschen liegt

nicht darin, dass

er tun kann, was

er will, sondern,

dass er nicht tun

muss, was er nicht

will.

„Jean-Jacques-Rousseau“

Buch

In der Autobiographie „Fremdbestimmt“ schildert die iranstämmige Deutsche, Rita Schäfer ihre durch die islamische Revolution und den ersten Golfkrieg fremdbestimmte Kindheit und Jugend im Iran, welche die gebürtige Iranerin dazu veranlassen nach Deutschland zu flüchten.

In ihrem Buch fokussiert die Autorin, die Fluchtursachen und die Doppelmoral einer Migrationsgeneration durch ihr eigenes Erlebtes im Iran und den Neuanfang in Deutschland, der im Denken und Fühlen immer noch nicht abgeschlossen ist.

Das kleine Mädchen Dana wächst wohlbehütet in einer sechsköpfigen Familie im Iran auf. Unbekümmert kommt sie seit ihrer Geburt in den Genuss von Privilegien und lebt in einer weitgehend von der Außenwelt abgeschnitten Welt auf einer Militärbasis westlich von Teheran. Ihr Vater arbeitet für die Luftwaffe und hat eine führende Position. Doch als das Schah-Regime im Zuge der islamischen Revolution fällt und ihre bis dahin heile Welt zusammenbricht, durchlebt sie Gefühle tiefer Verunsicherung. Die liberale Kultur weicht einer zunehmenden Unterdrückung, die sich in allen Lebensbereichen zeigt.

Dieser Kulturschock erreicht mit dem im Jahr 1980 beginnenden Golf-Krieg einen traurigen Höhepunkt. Ihr gerade neunjähriges Leben besteht von nun an nur noch aus Todesangst und Ungewissheit. Die täglichen Luftangriffe der irakischen Armee hinterlassen tiefe Spuren und lassen das Mädchen bis zur Depression am Leben verzweifeln.

Sie entschließt sich zu einem Aufbruch in ein neues Leben nach Deutschland.

Dana versucht mit den Erfahrungen beider Welten ein Lebensgefühl zu erschaffen, das man glücklich nennen könnte.

Doch das erweist sich als sehr schwierig. Ein Prozess, der nie endet.

Es handelt sich um eine wahre Biographie. Einige Namen der Figuren wurden jedoch aus persönlichen Gründen im Buch geändert.

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

Es ist wieder mal einer von den Abenden, die ich so sehr liebe. Die kleine Familie alle beisammen in der Küche. Meine Tochter, die schon längst überfällig ist, spielt mit ihrer kleinen rosa Küche aus Holz und serviert uns ab und an einen ihrer leckeren Kuchen, die sie gerade gebacken hat. Um sie nicht zu enttäuschen, machen mein Mann und ich abwechselnd mit und beteuern, wie lecker ihr imaginärer Kuchen schmeckt.

Ihr kleiner Bruder klammert sich fest an ihre Küche und wartet auf eine winzige Gelegenheit, um an das Gemüse heran zu kommen. Alle fünf Sekunden zankend drehen sie sich zu uns um und beschweren sich darüber, dass der andere ihn nicht das machen lässt, was er möchte. Ständig raufend, aber doch unzertrennlich. Diese kleinen schönen Momente sind es, die meinem ruhigen Leben Sinn und Freude verleihen. Etwas in meinem Leben muss ich richtig gemacht haben, dass mein Leben so erfüllt zu sein scheint. Meinen beiden Zwergen zuzugucken macht mich unendlich glücklich.

„Nein du bist auch nicht integriert. Du bist anders in der Denke.“ Die gute Stimmung des bis dahin harmonischen Abends fängt an, langsam zu verblassen. Sollte es wieder so ein Abend mit klischeehaften Gesprächen werden. „Hier Mama für dich. Und wie schmeckt’s?“ Wie so unzählige Male versuche ich zu verstehen, was mein Mann mir eigentlich sagen will. Zuvor behauptete er, dass das Scheitern der Integration an dem schlechten Deutsch vieler Migranten liege, die die deutschen Werte aus Mangel an sprachlichem Verständnis gar nicht verinnerlicht haben könnten, was mich- der Aussage nach – wohl auch betrifft. „Das heißt, ich kann kein Deutsch und wir verständigen uns in einer anderen Sprache?“ frage ich. - „Eins für dich, eins für Papa“- „Nein, Du kannst sehr gut Deutsch“ antwortet er, während er anstatt mir in die Augen zu schauen, in eine völlig andere Richtung schaut. „Aha, du meintest aber vor ein paar Minuten, dass die gescheiterte Integration eine Folge des sprachlichen Mangels an Deutsch sei und nicht an der Individualität der Menschen liege. Wenn ich keine integrierte Mitbürgerin bin, dann müsste ich sprachliche Probleme haben, und die habe ich weiß Gott nicht.“

„Süße, sollen wir jetzt ins Bett gehen?“ sagt mein Mann zu unserer Tochter. Es ist schon nach acht Uhr“. „Nein ich möchte nicht ins Bett“ antwortet diese trotzig. „Weißt du? Integration heißt, einen Beitrag leisten, etwas hinzufügen. Du bist halt Hausfrau, du hast keinen Beruf, den du derzeit ausübst“ antwortet er, indem er mir bewusst in die Augen schaut und gleichzeitig seinen Kopf hebt. „Ach so, mein Beruf als zweifache Mutter und Hausfrau, der nicht einmal bezahlt wird, zählt nicht. Nur wer arbeitet und Steuern zahlt ist integriert. Sehr interessant, deine Ausführungen am heutigen Abend“

Und ich füge hinzu: „Dann verstehe ich nicht, dass der Türke, der über vier Jahrzehnte bei Ford am Fließband gearbeitet hat, eine Familie gegründet, vier Kinder gezeugt, großgezogen und es zu etwas gebracht, nebenbei ein Haus abbezahlt hat, und noch keinen richtigen Satz Deutsch sprechen kann, aber einen großen Freundeskreis von ein paar hundert Menschen hat und in seinem sozialen Umfeld mehr Kompetenz und Macht ausstrahlt als unser Ex-Bundespräsident Wulf, der wegen 320 € nicht nur seinen Posten, sondern auch seine Familie verloren hatte, immer noch nicht in diesem Land integriert ist“.

Mein Mann verdreht die Augen, steht mitten im Gespräch auf und verlässt die Küche mit unserer Tochter im Schlepptau. Beim Herausgehen murmelt er noch „die Kleine muss jetzt wirklich ins Bett, kannst Du unseren Sohn übernehmen?“. Ich bleibe mit unserem Filius in der Küche zurück und versinke in meinen Gedanken. Warum ständig diese Diskussionen? Wir sind verheiratet, da ist es doch egal, welche Sprache man spricht. Warum endet neuerdings fast jede Diskussion mit der Integrationsfrage?

Der Auslöser unseres Meinungsaustausches waren die jüngsten Berichterstattungen rund um die Flüchtlingspolitik. Eine Flüchtlingspolitik die das Land, zu spalten droht, für die keine Lösungen in Aussicht sind und die ein einziges Land, sei es auch noch so leistungsstark, überfordert.

Seit dem massiven Anschwellen des Zustroms der Flüchtlinge über das Mittelmeer und die Balkanroute im Sommer des Jahres 2015, diskutierten mein Mann und ich fast täglich über die neuen Entwicklungen im Lande. Die humanitäre Hilfe Frau Merkels schienen uns beiden eine richtige Entscheidung gewesen zu sein, doch wir waren sehr skeptisch, ob das alles gut gehen würde. Kurz nach dem die Griechenlandkrise überstanden schien, hatte Europa mit einer noch größeren Herausforderung zu kämpfen. Der Flüchtlingskrise.

Die Bilder der müden Menschen in den Flüchtlingstrecks, insbesondere von Frauen und Kindern, gingen uns unter die Haut. Der Syrienkrieg und die daraus resultierenden Konsequenzen spalteten Europa und verunsicherten die Menschen.

Kein anderes Thema wurde plötzlich in den sozialen Netzwerken so heiß diskutiert wie das Thema Flüchtlinge. Dabei ging es seit Jahren so. Auffällig wurde es nicht als die Anzahl der im Mittelmeer ums Leben gekommenen Flüchtlinge rasant anstieg, sondern als die Flüchtlinge in Scharen aus Griechenland und Italien nach Deutschland aufbrachen. Was vorher weit weg schien, stand plötzlich vor der Haustür.

Obwohl mein Mann und ich ursprünglich hinter der Flüchtlingspolitik von Frau Merkel gestanden haben, mussten wir feststellen, dass wir mit dem weiteren Verlauf der Krise in vielerlei Hinsicht geteilter Meinung waren. Meinen Mann bewegte die Frage, ob Deutschland alleine die Krise stemmen konnte, nachdem das Land mit seiner liberalen Asylpolitik zwischenzeitlich in Europa isoliert war. Und ob das grenzenlose Europa sich die Massenzuwanderung der Flüchtlinge in Zeiten von Terror und islamistischem Extremismus, leisten könne. „Deutschland kann die Probleme der Welt nicht im Alleingang lösen“, pflegte er zu sagen.

Mir persönlich ging es um das Humane, das sich an dem individuellen Schutzbedürfnis des einzelnen orientierte, und nicht um das Objektive in der großen, politischen Sache. Im gemütlichen, sicheren Deutschland sitzend, ist es schwer, sich vorzustellen, wie es ist, Todesangst zu haben und sein Zuhause, sein Hab und Gut, seine Heimat verlassen zu müssen.

Dabei verfüge ich auf diesem Gebiet schließlich über gewisse Erfahrungen, denke ich mir still, um mich dann unserem Sohn zu widmen.

AUFBRUCH INS UNGEWISSE

Obwohl es erst einmal als ein kurzer Besuch in Europa geplant war, war Maman an dem Tag vor Aufregung außer sich. Von einer Minute auf die andere änderte ihr Gesicht die Farbe. Sie war merkwürdig ruhig und hatte die letzten Tage vor dem Abreisedatum nicht viele Worte gesprochen. Mit Sorgfalt versuchte sie in den letzte Stunden vor der Abfahrt, mein Gepäck fertig zu machen. In meinem Koffer war alles, was ich zum Anziehen brauchte, und in meinem Handgepäck das, was am zeitaufwendigsten war, Sachen die mein Bruder Dariush bestellt hatte: Persische Spezialitäten, die in Europa eine Seltenheit waren. Leckereien, von denen Jeder, der ins Ausland reiste, reichlich mitnahm. Beim Einpacken war sie so genau und akribisch, dass alles haargenau passte. Sie packte den Koffer mit Liebe und Aufmerksamkeit. Ihr zu zuschauen machte mich einerseits sehr stolz, anderseits sehr melancholisch. Es hatte den eigenartigen Beigeschmack, es gäbe nur das eine Mal, dass ich reiste.

Maman war sehr gut vorbereitet. Ab und an hob sie kurz den Kopf und erklärte mir in welcher Dose, was war. Erstaunlich war ihre Konzentration bei der Arbeit. Als mein Vater mit dem Vorschlag kam, war sie sich nicht schlüssig, aber jetzt schien es mir, dass sie voller Entschlossenheit war. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich allein verreiste.

Auf Empfehlung eines Freundes und Ex-Kollegen hatte Baba erfahren, dass Jugendliche unter sechzehn Jahren ohne Visum vom Teheraner Flughafen abreisen und in Deutschland einreisen dürfen. So hatte er mir, in Windeseile eine Woche vor meinem Geburtstag, ein Hin- und Rückflug-Ticket gekauft. Es war auch nicht ganz ohne Risiko, denn die Informationen könnten falsch sein oder Sonderregelungen, die sich schlagartig ändern konnten, so dass man mich abschieben und mich direkt mit dem nächsten Flugzeug nach Teheran zurückschicken könnte. Eine Abschiebung konnte sehr fatale Folgen bis zur Verhaftung hin haben. Dies alles zu wissen und trotzdem den Schritt zu wagen, passte nicht so ganz zu ihrem sonst überlegten und fürsorglichen Wesen als Maman.

Voller Bewunderung über ihre mutige Entscheidung akzeptierte ich jeden Wunsch und nahm jeden Rat von ihr an. Die Tatsache, dass ich ohne eine offizielle Aufenthaltsgenehmigung nach Deutschland reiste, neben anderen Sorgen, machte sie sehr unruhig. Aber so diszipliniert sie war, bewahrte sie auch die Ruhe und versuchte ihre Ängste zu vertuschen.

Als es fünf Uhr schlug, weckte sie meinen Vater, Dalir und Darja, um sich langsam auf die Fahrt zum Flughafen vorzubereiten. So richtig freuen konnte ich mich nicht. Alles war so ungewiss. Mein Abschied fast unspektakulär. Keiner wusste, ob ich heute wieder nach Hause kommen oder in Frankfurt landen würde! Quasi ein Versuch, der zu probieren es wert war, aber zum ernst nehmen, doch etwas verdächtig erschien.

Als wir ins Auto stiegen, schaute ich kurz noch einmal auf die Fassade des Hauses. Stein für Stein speicherte ich die Bilder in meinem Gedächtnis ab. Wer weiß, ob sie noch so in der Form da stehen würden, wenn ich zurück käme! Als mein Vater das Auto startete, setzte ich mich als Letzte in das Fahrzeug, dicht ans Fenster. Die Straßen waren noch frei. Teheran war im tiefen Schlaf, als die Dämmerung einsetzte und das Strahlen der Sterne langsam verblasste. Mit Augen voller Tränen schaute ich mir alles an. Trotz vieler Angriffe, und hässlicher Plakate, strahlte Teheran an jenem Morgen. Ich kurbelte die Scheibe herunter, um etwas Benzin und Gazoil einzuatmen. Diesen Geruch liebte ich so. Da drin steckte mein ganzes Leben. Die guten Erinnerungen, die bereits jetzt so fern zu sein schienen. Tief einatmend, zog ich so viel Luft in meine Lungen ein, wie ich konnte. Und genoss die Stille um mich herum. Seit langem hatte ich Teheran nicht so harmonisch erlebt. Die ganze Fahrt war im Auto so leise, dass ich beinahe vergessen hatte, dass sich noch andere Insassen im Auto befanden. Es sah aus, als würde Teheran trauern. Ein Trauerzug mit einem lebendigen Toten. Ein Toter, der zu Grabe getragen wurde. Die Ruhe und die Dunkelheit, der sanfte Wind, der die Bäume zum Verneigen brachte. Es war der perfekte Abschied.

So oft habe ich mir gewünscht, meine Heimat, die Stadt, die ich am meisten in meinem Leben liebte, so harmonisch zu erleben. Wie oft habe ich mir gewünscht, durch die noch für mich schönen Straßen von Teheran ungestört und nicht beängstigt zu spazieren. Der letzte Wunsch sollte dem Toten doch noch erfüllt werden. Freud und Leid kämpften wie zwei wilde Raubtiere miteinander in meiner Brust. Einen Moment dachte ich, warum bin ich nicht tot? Gott, wo bist du? Kannst du mich hören? Warum ich? Warum wir Perser?

Die warmen Tränen über meinen Wangen, waren die einzigen Trostspender und wahrscheinlich die letzten Gefährten, die mir Verständnis entgegenbrachten. Ich wusste dass alle anderen im Auto ruhig vor sich hin weinten, denn niemand versuchte mit dem Anderen zu sprechen, wie gesagt, genau wie ein Trauerzug. In wenigen Stunden gäbe es mich nicht mehr. Ich gehe in eine andere Welt. Eine Welt, die vielversprechender klang, aber um das heraus zu finden, musste man aufgeben. Teheran samt meiner Familie aufzugeben, war ein großer Preis. Aber der einzige Weg, um von den Toten aufzuwachen.

Nach einer guten Stunde Fahrt waren wir am Flughafen. Der Ausstieg aus dem Auto fiel mir besonders schwer. Schwermütig nahm ich mein Handgepäck aus dem Kofferraum. In meinem Kopf spielte sich so vieles ab. Maman ging neben mir Richtung Eingang Abflughalle und versuchte mich aufzumuntern. „Schatz, freue dich doch auf das Wiedersehen mit Dariush. In weniger als ein paar Stunden bist du bei ihm. Sehr beneidenswert.“ Lächelnd versuchte ich Ihren netten Worten etwas Positives abzugewinnen.

Angekommen im Flughafengebäude hatten uns der für Teheran typische Lärm und das Gedränge wieder fest im Griff. Schnell suchten wir meinen Abflugschalter. Das Gelände wurde von vielen Polizisten überwacht. Schon bei der Gepäckabgabe durfte keiner mehr mit. Eine riesengroße Glasscheibe trennte die Begleiter von ihren Abreisenden. Und wie immer alles voller Leben. Große Menschenmengen überall. Maman bestand darauf, mich bis zum Schalter zu begleiten und bat Baba ein paar Worte mit den Wächtern hinter der Glasscheibe zu sprechen und für sie um Erlaubnis zu bitten.

Mit ein paar leise gewechselten Worten gelang es ihm mühelos, sie mit mir durchzuschleusen. Baba war an dem Tag sehr taff und war von der Entscheidung sehr überzeugt. Er sagte nur „Pass auf dich auf und ruf uns an, sobald du in Frankfurt angekommen bist. Mach dir bitte wegen uns keine Sorgen, wir warten hier noch eine Stunde bis zum Take off, sollten mit der Ausreise Probleme auftauchen, bin ich für dich erreichbar“. Er drückte mich sehr fest an sich und versteckte sehr geschickt seine Tränen.

Meine Schwester Darja, mit der ich mich bis dahin in einem kleinen Geschwisterstreit befand, weinte die ganze Zeit. Der Abschied von ihr war sehr verhalten und kurz, von vielen Schluchzen getrübt. Vielleicht war sie ja doch erleichtert, mich endlich loszuwerden, oder aber auch vom schlechten Gewissen gequält. Aber ihre Tränen verrieten mir, wie sehr sie sich einsam fühlte. Irgendwo hatte ich Mitgefühl. Ich ließ sie mitten im Krieg im Stich. Ich ließ meine ganze Familie zurück. Wie egoistisch und selbstgefällig, dachte ich mir, als die Abreise immer näher rückte. Das einzig Wertvolle in meinem Leben blieb im Iran. Selbst wenn es eine Entscheidung meiner Eltern war, glücklich war ich nicht. Mein Bruder Dalir war sehr bedrückt und hat sich bereits vor der Gepäckabgabe von mir verabschiedet. Alles sehr kurz und knapp, beklemmend und traurig.

Kaum standen wir am Schalter, begrüßte uns ein sehr kleiner, sympathischer älterer Herr. An unseren traurigen Gesichtern war ihm schnell klar, dass ich alleine reiste. Ein gesprächiger, offener Mensch, der schnell seine Hilfe anbot. Er war auf Mamans unruhige Ausstrahlung aufmerksam geworden und sprach sie an. Zu Hause wurde mir beigebracht, dass ich keinem Fremden vertrauen sollte, aber diesmal war es Maman die ihre eigenen Regeln brach und eine Ausnahme machte. Herr Mazaheri übernahm für die Dauer des Fluges meine Patenschaft und versprach meiner Mutter ihr Vertrauen nicht zu missbrauchen und bis hin zur Übergabe an meinen Bruder, auf mich Acht zu geben wie auf seine eigene Tochter. Ich war froh, einen persönlichen Flugbetreuer zu haben, der mir bei Schwierigkeiten helfen konnte.

Auch nach 28 Jahren bin ich diesem Mann immer noch sehr dankbar, denn er war nicht nur ein sehr lieber und verantwortungsbewusster Mensch, sondern auch eine sehr wertvolle Informationsquelle. Die Reise mit dem „Tod“ dachte ich, hat sehr gut angefangen. Begleitet von einem durchaus nicht nur sehr netten, sondern auch einem intelligenten Ersatz-Papa. Wir hatten Glück und bekamen auch nebeneinanderliegende Sitzplatz - Nummern. Herr Mazaheri gab mir ein Gefühl der Sicherheit.

Obwohl er sogar kleiner war als ich, wirkte er auf mich sehr souverän. Da, wo ich kaum ein Wort rauskriegte, sprang er für mich ein. Auf das Flughafenpersonal machte er einen sehr seriösen, und was Reisen anging, routinierten Eindruck. Später stellte sich heraus, dass er die Route mehrmals im Jahr zurücklegte. Auffallend war sein Lächeln, in dem Verständnis und Mitgefühl verschmolzen. Er sah sehr gepflegt aus. Pech schwarze Haare umrahmten sein freundliches, von vielen Falten gezeichnetes Gesicht. Sein Alter schätzte ich auf Anfang 60. Obwohl er während des Fluges erwähnte, dass er einen zwei- bis dreimonatigen Aufenthalt bei seinem Sohn plante, hatte er merkwürdig kleines Gepäck bei sich. Sprachlich wählte er sehr positive und gepflegte Ausdrücke. So gelang es ihm manchmal, mich von meinem schmerzvollen Abschied, der trotz der vielen schockierenden Erlebnissen, mit das bedrückendste Ereignis in meinem bisherigen Leben war, abzulenken.

Nachdem ich meinen Koffer am Schalter zum Laden aufgegeben hatte, sah mich Maman wie versteinert an. Ihr Blick verriet mir, dass sie sich von mir trennen wollte. Sie konnte weder lachen noch weinen. Ihr Gesicht war kreidebleich und eingefroren, die Müdigkeit der letzten Tage war ihr ins Gesicht geschrieben.

Ihre Selbstlosigkeit und kämpferische Art bewunderte ich in den letzten Stunden meines Aufenthaltes in Teheran, sie beeindruckte mich unbeschreiblich. Beim Abschied schaute sie wie durch eine Milchglasscheibe und bekam kein Wort mehr raus. Als sie dann anfing zu weinen, wusste ich, wie viel ihr das Ganze, diese rasante Entscheidung, Kraft gekostet hatte. Ihre Tränen brachten mich endgültig um, obwohl ihre wunderschönen Augen mich anlächelten. Die Fassung zu behalten, war für mich so unerträglich, dass ich auch meinen Tränen freien Lauf ließ. In meinem Kopf spielten sich die schlimmsten Szenarien ab. Verlustängste, Verzweiflung, Unklarheit und die unbestimmte Zukunft beschäftigten mich.

Der Spruch „Freud und Leid liegen dicht beieinander“ sollte mich für den Rest meines Lebens begleiten. Trotz vieler Versprechungen, bei Problemen in Aachen, sofort nach Hause zurückzukehren, ahnte ich, dass diese Reise kein Zurück hatte. Und wie Maman mich anschaute, verriet sie mir, dass sie froh wäre, wenn ich es bei Dariush schaffen würde und nicht mehr nach Hause zurück käme. Als ich noch in ihrem Arm war und sie mir ins Ohr Mut und Ausdauer zuflüsterte, füllte ich meine Lungen mit ihrem Duft, den ich seit meiner Geburt kannte, und der nach Geborgenheit und Zuhause roch. Nach Vorne gehend, schaute ich solange wie möglich Richtung Maman, die noch am Schalter stand, und mir mit einer Hand zuwinkte, während sie mit der anderen ihre Tränen weg wischte. Sind das die letzten Bilder von meiner Maman, die ich mit mir mitnahm? Haben wir jemals wieder die Chance zusammen zu kommen? Werde ich sie jemals wieder in meine Arme schließen können?

Herr Mazaheri wartete geduldig auf mich. Sein Blick verriet mir, dass er das sehr gut verstehen konnte. Den ganzen Weg zu der Passkontrolle redete er, aber ich hörte kein Wort. Versteinert und geistig abwesend folgte ich ihm. Angekommen am Ende einer langen Schlange, schaute ich nervös, von rechts nach links pendelnd nach vorne, und insgeheim wünschte ich, dass ich nicht dran kam. Ein Blick auf die lange Schlange verriet mir, dass ich mit Abstand der jüngste Reisende an Bord war. Je kürzer die Schlange wurde, desto nervöser wurde ich. Plötzlich spürte ich einen großen Druck in meiner Brust. Von Angst geflutet, hatte ich das Gefühl, dass ich bald ohnmächtig wurde.

Die letzten Sekunden vor der Visumkontrolle waren für mich eine einzige Hölle. Als ich endlich an die Reihe kam, schaute sich der Kontrolleur meine Papiere von vorne bis hinten an und fragte nach einer halben Ewigkeit, „ Schwester, wo ist ihr Visum aufgestempelt?“, „Ist nicht erforderlich, da ich noch zwei Tage bis zu meinem sechzehnten Geburtstag habe“, erwiderte ich mit einer extrem leisen Stimme. Mit seinen dunkelbraunen Augen warf er mir einen kurzen, aber sehr scharfen Blick zu. Er erhob sich von seinem Stuhl und fügte hinzu „Schwester, bitte bleiben Sie hier, in ein paar Minuten bin ich wieder da“. Mir stieg das Blut in den Kopf. Mit dieser Reaktion hatte ich gerechnet. Das konnte ja nicht gut gehen. Herr Mazaheri textete mich von der Seite zu, aber hören tat ich nichts. Viel zu tief war ich in meinen eigenen Gedanken und wollte selbst von Herrn Mazaheri nicht abgelenkt werden. Ich glaube, ich bereitete mich für ein persönliches Verhör vor. Während mein Adrenalinspiegel weiter anstieg, ich hin und her ging und die Mosaiken auf dem Boden zählte, malte ich mir aus, wie zwei Polizisten auftauchen und mich mitnehmen würden.

Die Minuten vergingen. Mit einer so langen Wartezeit hatte ich nicht gerechnet. Es kam mir wie ein ganzes Leben vor. Anderseits wurden das Gemurmel und die Beschwerden der Passagiere lauter und lauter. Die Situation war für mich unerträglich peinlich. Selbst als Toter machte ich anderen Ärger. Ich war längst auf das Schlimmste vorbereitet. Innerlich hatte ich mich schon auf das Ende der Reise eingestellt. Wie peinlich, jetzt musste ich den ganzen Weg zurück. Naja, so schlimm war es auch nicht, dachte ich mir. Zumindest die Familie ist wieder vereint. Das Gehirn abgeschaltet, sank mein Kopf immer tiefer.

Meine Augen blickten auf den Boden, und ich fragte mich, wie viele Menschen wohl seit der Revolution hier gestanden haben mochten? Wo überall sind die Perser verstreut? Welches Schicksal haben sie gehabt und welche Bestimmung haben sie jetzt?

Aus meinen wirren Gedanken weckte mich plötzlich eine sehr laute Stimme. Ohne den Kopf zu heben, schweifte mein Blick auf eine Hand, die meinen dunkel braunen Pass hielt. Der ausgestreckte Arm des Zöllners richtete sich auf mich „Schwester bitte, die Leute warten hier - Gute Reise“. Hypnotisiert schaute ich in die Augen des Zöllners, die mich immer noch sehr ernst anschauten. Herr Mazaheri zog mich schon an meinem Mantel. „Dana Khanoom, bitte lassen Sie uns jetzt gehen, worauf warten Sie denn noch?“ Ungläubig schaute ich Herrn Mazaheri in die Augen. Fast bewusstlos folgte ich ihm. Er war sehr froh. „Meine Tochter, es hat geklappt, heute wirst du deinen Bruder sehen“. Dann sprach er mir mit einem sehr netten breiten Lächeln weiteren Mut zu: „Wenn es hier geklappt hat, dann wird es auch in Frankfurt keine Probleme geben, sei sicher, meine Tochter!“

Unfassbar, ich konnte es fast nicht glauben, dass es wirklich so etwas gab. Also doch, ich sehe zwar meine Familie für eine lange Zeit nicht, aber heute noch meinen Bruder. Tränen stiegen mir wieder in die Augen. Seit dem Krieg wusste ich nicht mehr, was Glück bedeutete. Sollte ich es als eine Chance für einen Neubeginn sehen, oder als ein Fluch? Nein, ich war ja praktisch tot. Ich ließ alles hinter mir. Mein fast sechzehnjähriges Leben im Iran war nur noch eine Geschichte. Die schlaflosen Nächte, die Trauer um die verlorenen Freunde, die begleitende Angst, und die Schule, die ich fast in einem knappen Jahr beendet hätte.

War es richtig, Iran zu verlassen? Ein Neubeginn, neue Umgebung, neue Menschen, neue Freunde, neue Sprache. Seltsam, dass alle sich über den Flug freuten außer mir. All die Jahre der Depressionen und Unterdrückung waren vorbei? Was wäre, wenn sehr schwere Herausforderungen auf mich zukämen, denen ich nicht gewachsen war! Inzwischen redete Herr Mazaheri nicht mehr. Selbst er war von meiner Situation etwas mitgenommen. „Du wärst lieber zu Hause geblieben, habe ich Recht?“ Ich nickte mit dem Kopf. „Gott verfluche diese Kriminellen, die dieses Unheil über unser Land gebracht haben, dass unsere Jugend dem Vaterland den Rücken kehren muss.“ Herr Mazaheri klang sehr patriotisch. Vaterland? fragte ich mich sehr leise. „Ich glaube nicht, dass dies mittlerweile noch das Land meines Vaters ist“ antwortete ich.

Eingestiegen in den kleinen Transferbus, schaute ich immer noch schüchtern zu Boden. Der Airbus, der mit der iranischen Flagge bemalt war, sollte mich in die neue Heimat bringen. Mein Leiden hat mit den Flugzeugen angefangen, und soll auch durch ein Flugzeug aufhören. Schwermütig und mit zitternden Knien stieg ich über die Treppe ins Flugzeug. Meine Müdigkeit war kaum noch zu übersehen. Ich war mit den Nerven am Ende. So benebelt, dass ich die nette Begrüßung der Flugbegleiterinnen nicht registriert hatte. Versteinert konnte ich kein Wort hören. Wie in einem dunklen, langen Tunnel.

Direkt hinter der Eingangstür links am Fenster, waren unsere Sitzplätze. Angespannt warf ich mich in meinen Sitz. Während alle Passagiere, einer nach dem anderen Platz nahmen, schaute ich unruhig Richtung Ausgang, und malte mir aus, wie jederzeit zwei uniformierte Männer herein kommen und mich mitnehmen würden. Obwohl es keinen Grund mehr zur Sorge gab, konnte ich meine Augen nicht von der Tür abwenden. Einige schauten mich sehr verärgert an, und erinnerten sich an mich, vor der Passkontrolle. Als die Einstiegstür sich endlich schloss, wusste ich, dass ich mitfliegen und mich in ein paar Minuten schon in der Luft Richtung Frankfurt befinden würde. Und so geschah es auch.

Inzwischen strahlte die Sonne über Teheran. Beim Start genoss ich noch einmal den Anblick der Stadt, und kämpfte mit meinen Gefühlen, die mich fest im Griff hatten. Als das Flugzeug abhob, wurde mein Körper schwerelos. Meine Gedanken waren die eines nach Norden fliegenden Vogels, der nichts weiter hörte und sah. Ich hatte nur den Augenblick vor Augen, in dem ich meinen Bruder in die Arme schließen konnte. Herr Mazaheri ahnte, was sich in meinem Kopf abspielte und er nutzte die Gelegenheit, mir ein paar wertvolle Informationen über Deutschland und die deutsche Kultur zu geben. Sein Sohn studierte in Karlsruhe und er besuchte ihn mehrmals im Jahr. Daher kannte er sich sehr gut in Deutschland aus und prophezeite mir, dass ich bald nicht mehr nach Teheran zurück wolle. Deutschland sei das schönste und grünste Land in Europa, das im Bereich Bildung viel anbieten könne.

Da er wusste, wie ich besonders wegen des untypischen Problems mit meinem nicht vorhandenen Visum aufgeregt war, versuchte er, mich fast den ganzen Flug über zu beruhigen.

Nach dem Mittagessen im Flugzeug fiel er dann aber doch in einen tiefen Schlaf. Auch ich schloss die Augen zum ersten Mal nach über 24 Stunden. Dabei spulte sich vor meinen Augen wie im Film mein bisheriges Leben ab.

KINDHEIT

Als Nesthäkchen hatte ich es immer sehr leicht gehabt. Und obwohl ich noch nicht zur Vorschule gehen durfte, stand ich pünktlich um fünf Uhr morgens auf, um wie viele andere Tage zuvor meiner Mutter wieder die berühmte Frage zu stellen: „Darf ich heute in die Schule?“ Und wie an allen anderen Tagen bereitete sie das Mittagessen für meine Geschwister in der Küche vor und antwortete dann ernst und gestresst mit einem deutlichen „Nein“, um dann wiederum mitfühlende Worte als Trost folgen zu lassen: „Morgen darfst du zur Schule gehen“.

Mit hängendem Kopf, meinem roten Koffer in der Hand und in meinem Lieblingspyjama mit rosa Blümchen darauf, hatte ich mich wieder Richtung Bett begeben, um erneut auf Morgen zu warten. Bevor ich wieder ins Bett ging, hatte ich einen Blick in mein rotes Köfferchen geworfen, um mich zu vergewissern, dass noch alles da war: ein pinkfarbener Plastikbecher, ein rotes Handtuch, eine pinke Zahnbürste, bunte Stifte und ein Heft. Alles ließ ich direkt neben meinem Bett stehen. Dabei konnte ich die Augen nicht schließen, da bei uns um diese Zeit das totale Chaos ausgebrochen war: Meine drei älteren Geschwister bereiteten sich auf die Schule vor. Und wie gewohnt verließen meine Brüder zuerst die Wohnung.

Wir wohnten in Payegah Yekom Shekari, einem riesigen abgeschirmten Bereich am Militärflughafen. Das bedeutete wörtlich übersetzt „die erste Station der Jäger“. Er war speziell für das gesamte Personal der Luftwaffe, sprich Piloten, Ausbilder, Stabsoffiziere, Oberste errichtet worden. Der Kontakt nach außen war zwar vorhanden, aber sehr kontrolliert. Ein riesiges Wohngebiet mit allen erdenklichen Annehmlichkeiten, die wie selbstverständlich dazu gehörten. Alles vom Feinsten. Es war tatsächlich wie im Paradies, es fehlte uns an nichts, überall schöne grüne Blumeninseln und schöne gepflegte Straßen. Vor den Wohnkomplexen war für uns Kinder genug Platz zum Spielen und kein Verkehrsteilnehmer durfte über 30 Kilometer pro Stunde fahren.

Für die Jugendlichen gab es Fußballplätze und Volleyballhallen, dazu mehrere gebührenfreie Tennisplätze und für die Wasserfreunde Schwimmhallen. Uns standen sogar eigene Konzert- und Partyhallen zur Verfügung, die wir auch umsonst nutzen konnten. Abends waren alle Straßen beleuchtet und jeder kannte den Anderen - ein Ort, wie kein anderer in Teheran. Am Ein- und Ausgang wurden die Leute kontrolliert und sorgfältig untersucht.

Wir wohnten in einem riesigen Wohnkomplex mit vielen jungen Familien mit Kindern, aber kaum Alleinstehenden. Daher kannten wir uns alle, waren unter uns und wuchsen abgeschirmt von der Außenwelt auf. Unsere Väter waren ebenfalls alle miteinander bekannt, waren Kameraden und Kollegen. Unsere Mütter waren oft die besten Freundinnen. Wer in Payegah Yekom wohnte, gehörte zur Elite. Alles war umsonst, selbst fürs Wohnen bezahlten wir keine Miete. Es waren die goldenen Zeiten der Armee im Iran. In der Armee zu arbeiten und die Privilegien zu nutzen, war für Viele ein Segen. Um dieses Glück, dass nicht jeder haben konnte, wurden wir alle beneidet. Sportliche Aktivitäten jeglicher Art wurden Dank der vielen Tennis- und Fußballplätze sowie der Schwimmbäder bei den Jugendlichen gefördert.

Meine beiden ältere Brüder Dariush und Dalir bereiteten sich auf die Mittlere Reife vor und mussten außerhalb von Payegah Yekom zur Schule gehen. Dariush war acht und Dalir gerade sieben Jahre früher als ich zur Welt gekommen. Maman kochte ihnen jeden Morgen eine Mahlzeit vor, damit sie über Mittag gutes warmes Essen von zu Hause hatten. Meine Schwester Darja besuchte noch die Grundschule. Vier Jahre trennten uns von einander.

Wie gewöhnlich bereitete Maman erst die Jungs für die Schule vor, dann war meine Schwester an der Reihe. Jeden Morgen kämmte Maman ihre schönen pechschwarzen Haare, teilte sie in der Mitte und flocht an jeder Seite einen Zopf. Gott weiß, wie sehr ich sie darum beneidete, dass sie zur Schule gehen durfte und dabei so süß aussah. Sie ging zur Iraj-Mokhaberi-Grundschule, der einzigen in Payegah Yekom, die ich später auch besuchte. Alle Schüler dieser Schule hatten eine Schuluniform zu tragen. Für die Mädchen waren eine rote Bluse, ein blauer Trägerrock aus Jeansstoff vorne mit einem mit rotem Faden gesticktem Flugzeug und darunter eine weiße Strumpfhose mit schwarzen Lackschuhen, Pflicht. Im ganzen Iran gab es Schuluniformen, jede Schule war an der eigenen Uniform zu erkennen. Mit einem Schulrucksack verließ meine Schwester jeden Morgen die Wohnung. Zu diesem Zeitpunkt war mein Vater schon längst aus dem Haus.

Er war Ausbilder in der Luftwaffe und als Verantwortlicher und Vorbild musste er als einer der Ersten vor Ort sein. Auch er trug eine Uniform, die ich besonders mochte: Ein grüner Militäroverall und eine Schirmmütze, die vorne mit einem metallenen Adler in Form einer Krone geschmückt war. Es hatte etwas von Autorität, Ordnung und Disziplin. Da er sich so früh von uns verabschieden musste, blieb keine Zeit, um mit uns gemeinsam zu frühstücken. Was ich allerdings sehr traurig fand.

Gegen halb acht am Morgen waren Maman und ich alleine. So war ich die einzige aus der sechsköpfigen Familie, die Maman beim Frühstücken, Gesellschaft leisten konnte. Maman gab sich sehr viel Mühe und war eine gewissenhafte Hausfrau, von fünf Uhr morgens bis halb Acht hatte sie in einem unglaublichen Tempo meine Geschwister für die Schule fertig gemacht. Das machte sie gerne, jeden Morgen, neun Monate lang fast ohne Unterbrechung, ganz ohne Hilfe. Direkt nach dem Frühstück hatte sie Zeit für andere Dinge.

Meistens kaufte sie im kleinen Einkaufzentrum frisches Gemüse, Fleisch und andere Lebensmittel des täglichen Bedarfs ein. Vorbildlich, konzentriert und sehr genau erledigte Maman ihre Aufgaben als Mutter und Hausfrau in einer Stille, in der wir kaum ein Wort miteinander reden mussten. Alles was sie anpackte, tat sie mit viel Leidenschaft und Liebe und einer bemerkenswerten Akribie. Sie hatte einen Hang zum Perfektionismus. Sie war auch eine der schönsten Frauen, die ich je in meinem Leben gesehen habe. Wie sie es neben einem Sechs-Personen Haushalt trotzdem schaffte, so gut und gepflegt auszusehen, war für mich und viele Leute, insbesondere aus der Nachbarschaft, ein Rätsel. Auffallend war ihre Figur, die nie verriet, dass Maman bereits vierfache Mutter war. Und dies mit einem Alter von 25 Jahren.

Ich bewunderte ihre grenzenlose Liebe zur Familie, und ihre vorbildliche Disziplin. Alles was sie machte, geschah mit besonderer Sorgfalt und Liebe zum Detail. Ihre Sauberkeit und ihr Ordnungssinn waren unglaublich. Am Anfang des Frühlings, vier Wochen vor dem iranischen Jahreswechsel, gab es jedes Jahr den großen Neujahresputz. Sie schaffte ihn ganz ohne Hilfe von außen, nur bei der Reinigung sämtlicher Perserteppiche halfen ihr Nachbarinnen und Freundinnen.

Immer kochte sie Marmelade, je nachdem, welche Früchte gerade angeboten wurden. Sie war eine hervorragende Köchin, die unabhängig von der Gästeanzahl und ohne sich irritieren zu lassen, nicht ein, sondern gleich mehrere Gerichte auf den Tisch zauberte. Und alles sah dabei makellos sauber aus. Sie war nie einem Beruf nachgegangen, aber die Hausarbeit nahm sie manchmal sogar bis tief in die Nacht hinein in Anspruch. Und immer hatte Sie alles fest im Griff. Das war für mich weniger Talent und Gabe, sondern Ausdauer und Disziplin.

Mit fünf Jahren verstand ich noch nicht so viel vom Leben und unserer hervorgehobenen Stellung. Heute weiß ich, wie viel Geld in uns investiert wurde, und dass man dafür besondere Loyalität von uns verlangte. An diesem paradiesischen Ort sollte ich die schönste Zeit in meinem Geburtsland Iran erleben. Ein Ort voller Glück und Harmonie.

Während Maman mit der Hausarbeit beschäftigt war, spielte ich tagsüber zu Hause mit meinen Puppen und Spielzeugen, die Baba jedes Jahr von seinen Auslandsreisen mitbrachte. Die Puppen hatte ich besonders gern. Mit ihren goldenen Haaren und den blauen Augen gewannen sie schon beim ersten Anblick mein Herz. Meine Lieblingspuppe war eine schöne, kleine kurzhaarige Skifahrerin, die einen Skioverall, genau in derselben Farbe wie ihre blauen Augen, trug. Während ich mich den gesamten Vormittag mit meinen Puppen beschäftigte, freute ich mich mittags über die Ankunft meiner Schwester und meines Vaters, um gemeinsam mit Maman und mir pünktlich zum Mittag zwischen zwölf und ein Uhr zu essen.

Mein Vater konnte sich aufgrund der kurzen Wege den Luxus leisten und mittags nach Hause fahren. Nach dem Essen vervollständigte er seine Mittagspause mit einem kleinen Mittagschläfchen. Nachmittags, nach dem die Jungen auch zurück nach Hause gekommen waren, konnte ich mit meinen Geschwistern etwas unternehmen.

Die meiste Zeit war ich mit Darja unterwegs. Sie traf sich nach der Schule mit ihren Freundinnen und erledigte Schulaufgaben. Oft schaute ich Ihnen danach beim Spielen zu und manchmal durfte ich sogar mitspielen. Ich hatte auch gelegentlich das Glück, meinen ältesten Bruder Dariush zu begleiten, der zum Tennis-, Fußball- oder Volleyballspielen mit seinen Freunden verabredet war. Das machte besonderen Spaß, denn häufig kaufte er mir unterwegs Leckereien, die ich sehr gerne verputzte. Es waren in der Tat wunderschöne und sorglose Zeiten, in denen wir von den Unannehmlichkeiten der Außenwelt fast nichts mitbekommen hatten und in jeder Hinsicht bevorzugt behandelt wurden.

Im September 1976 kam endlich der langersehnte Tag, an dem Maman mich zur Vorschule anmeldete. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, dass ich vor Freude außer mir war. Der kleine rote Koffer kam endlich zum Einsatz! Auch den Moment des Abschieds von meiner Maman werde ich nie in meinem Leben vergessen. Sie gab mich bei einer sehr netten Dame ab. Sie hatte ein breites Lächeln, nahm mich an die Hand und ging mit mir in einen von der Sonne beschienen, sehr bunten Raum, wo all die Kinder rundum auf den Bänken saßen. Das Vorschuljahr hatte schon angefangen, als meine Eltern mich dort angemeldet hatten. Angeblich war ich jünger als die Anderen, und da ich zehn Tage zu jung war, hätte ich eigentlich ein Jahr warten müssen. Meine Eltern wollten das nicht. Insbesondere Maman kämpfte wie eine Löwin, um mich doch noch anzumelden. Sie hatte keine Lust mehr jeden Morgen meine wiederholte Frage beantworten zu müssen. Sie stellte mich vor: „Das ist Dana und heute ist ihr erster Tag“. – „Guten Morgen, Dana,“ riefen die Kinder. Ich wollte die schön warme Hand der Dame nicht los lassen, aber es war schon spät und man hatte mir bereits meinen Platz zugewiesen. Ich durfte mich neben ein Mädchen namens Mahtab setzen.

ZWISCHEN KINDHEIT UND REVOLUTION

Noch zählte ich nicht zu den Klassenbesten, aber ich war eine gute Schülerin mit guten Noten. Wissbegierig war ich und ich lernte sehr selbstständig, ohne Druck zu benötigen. Dariush half mir so oft er Zeit hatte. Sechs Tage in der Woche gingen wir zur Schule. Der Freitag war Feiertag und der einzige freie Tag in der Woche. Freitags waren wir entweder bei Freunden oder Verwandten zum Essen eingeladen oder wir luden selbst Gäste ein zum gemeinsamen Mittagessen.

Offiziere mit sehr hohem Rang hatten sogar Haushälterinnen und Kindermädchen. Offensichtlich pflegte der Schah seine Armee so sorgfältig, dass kein Wunsch offen blieb. Selbst im zarten Alter von fünf Jahren hatte ich schon bemerkt, in welch einem schönen Land wir lebten. Im Frühling duftete es überall nach Amaryllis und Veilchen, überall sprossen Inseln aus duftenden Rosen in allen Farben. Die Straßen waren sauber und gepflegt. Hohe, wunderschöne Bäume in allen Arten und Farben.

Der Schah war sehr darauf bedacht, sein Land den westlichen Ländern anzupassen und es stolz präsentieren zu können. Er hatte die Hauptstadt Teheran zu einer der schönsten Städte Asiens gemacht. Insbesondere Staatsbesuchern aus den westlichen Ländern wollte der Schah sein Land von der schönsten Seite zeigen. Er war europäisch orientiert und versuchte sehr demokratisch und liberal zu handeln, obwohl er die Macht nicht aus der Hand geben wollte. Er hatte sozusagen einen Hang zum europäischen Lebensstil. In seiner Politik war er sehr amerikafreundlich, obwohl er kein bedingungsloser Befehlsempfänger war.

Ich wäre vielleicht heute einer der glücklichsten Menschen der Welt, wie viele andere Exil-Iraner, wenn der Schah damals mehr auf sein Volk eingegangen wäre. Vieles hätte er besser machen können. Mit großer Wahrscheinlichkeit wäre es ihm gelungen, die langersehnte Demokratie im Iran zu behalten. Aber er war trotz vieler Kritik an seinem Führungsstil nicht bereit, die weltliche, persönliche Macht abzugeben und fortan nur noch symbolisch als persischer Schah im Iran zu leben. Doch solche Gedanken waren mir damals noch fremd. Ich sah nur, wie schön und leicht das Leben im Iran war, zumindest für mich.

Immer wenn wir mit Maman außerhalb von Payegah Yekom Einkaufen gingen, sah ich wie schön Teheran war: bunte Geschäfte, freundliche Menschen, ausgesprochen modisch gekleidete junge Frauen und Männer. Teheran erschien mir harmonisch, trotz seiner unbeschreiblich energischen und hektischen Ausstrahlung. Mächtig, dynamisch, frei und vor allem Chic. Frauen waren mit Männern gleichberechtigt. Viele Frauen hatten es bis in Führungspositionen geschafft. Mein Vater erzählte so oft, dass die besten Piloten in der Luftwaffe Frauen seien. Und auch viele Ausbilder waren Frauen. In Politik, Justiz, Kunst, Pädagogik und Medizin hatten wir gleichermaßen weibliche Führungskräfte. Das alles machte mich sehr stolz auf mein Land und gab mir gleichzeitig die Hoffnung, dass ich auch eines Tages zu den Frauen gehören würde, die eine große Karriere in der Medizin oder in der Luftwaffe machen würden.

Der islamischen Religion angehörig, wurden dem iranischen Volk von der Regierung sehr viele Freiheiten eingeräumt. Neben vielen Palästen ließ Schah Reza Pahlavi auch viele Moscheen errichten. Dennoch war es Frauen nicht erlaubt, in der Öffentlichkeit im Hijab zu arbeiten. Sie hatten an den öffentlichen Arbeitsplätzen ohne Kopftuch und Tschador zu erscheinen, aber privat konnte jeder seine Religion so leben wie er wollte.

Gerade solche Verbote ließen die Damen und Herren schicker aussehen. Es war immer angenehm, die Leute auf der Straße zu beobachten: Lauter gut angezogene Damen und Herren in schönen Kostümen und Anzügen auf dem Weg zur Arbeit, bunte Kleidung, die gleich gute Stimmung machten und die schönen Straßen von Teheran noch farbenfroher und sehenswürdiger. Die Herren hielten meistens eine Aktentasche in der Hand, die Damen modische Handtaschen.

Die lackierten Fingernägel und die frisierten Köpfe ließen darauf schließen, wie sehr die meisten Teheraner auf ihr Erscheinungsbild Wert legten. Teheran war damals ein Freiheits- und Schönheitssymbol für viele Perser, das den jungen Leuten neben seinen Attraktionen auch beruflich viel anbot. So kamen aus vielen Städten Irans junge, meist verheiratete Paare, um in Teheran beruflich Fuß zu fassen. Die Dynamik und Vielfältigkeit Teherans machte das Leben dort so interessant. Obwohl es überall dichtgedrängt von Menschen war, machte das Einkaufen in den Einkaufspassagen besonders viel Spaß.

Des Öfteren beobachtete ich einfach nur Passanten und kleine Mädchen wie mich, die auch mit den Eltern einkaufen gingen. Ich liebte den Einkaufbummel in Teheran, nicht nur, weil ich wusste, dass ich neue Kleider oder Schuhe bekam, sondern wegen der vielen Eindrücke, die mich sehr beglückten. Alles war anders als in Payegah Yekom, alles war realer und echter, obwohl Maman immer darauf bestand, dass sie mich immer an der Hand fest hielt. Sie hatte wohl Angst, dass ich in den Geschäften oder auf den Straßen in der großen Menschenmenge verloren gehen könnte. Da ich immer sehr selbstständig sein wollte, habe ich dieses Händchenhalten immer sehr gehasst. Protestieren half aber nichts, gegen Maman kam ich nicht an. Selbst als Kind schätzte ich das einzigartige Freiheitsgefühl in einer Großstadt.

Was Teheran weiterhin sehr anziehend und eigenartig machte, war die Vielfalt der verschiedenen Kulturen, Nationen und Religionen. Im Iran waren fast alle Nationalitäten und Religionen vertreten. Für jede Glaubensrichtung gab es Einrichtungen, wo die Menschen beten konnten, Gleichgesinnte trafen und sich austauschen konnten. Gerade solche Freiheiten machten den Iran und insbesondere Teheran zu einem sehr lebenswerten Ort.

Viele internationale Schulen befanden sich in Teheran. Es gab englisch-, deutsch- und französischsprachige Schulen, aber auch mehrere Spezialschulen mit anderen fremdländischen Sprachen. Es war keine Seltenheit, dass Eltern ihre Kinder auf solche Schulen schickten, damit sie zwei- oder mehrsprachig aufwuchsen. Sie wurden auch von Persern benutzt, die eine Partnerin oder einen Partner aus dem Westen geheiratet hatten, und wollten, dass ihre Kinder in beiden Sprachen aufwuchsen. Mich hatte schon immer Englisch fasziniert, da ich später sehr gerne wie viele Iraner in den USA oder in England studieren wollte.

Wenn wir im Winter fast jeden Freitag nach Dizin im Elburs-Gebirge zum Skilaufen fuhren, begegneten wir auch sehr vielen Touristen aus Europa, meistens Deutschen. Sie waren von unseren Skipisten begeistert. Einige von ihnen behaupteten sogar, dass sie fast jeden Winter in den Iran reisten, nur um Skiurlaub zu machen. Sie waren von der großen Schönheit und Vielfalt fasziniert, denn im Iran findet man alle vier Jahreszeiten im ganzen Jahr. Im Sommer liegt im Hochgebirge noch Schnee und im Winter konnte man im Süden des Landes noch Badeurlaub machen, wenn man es denn wollte. Iran war der Inbegriff von landschaftlicher Schönheit und Vergnügen für viele Iraner und Europäer. Sie brachten gerne ihr Geld in den Iran, um im Winter Skiurlaub und im Sommer Badeurlaub am Kaspischen Meer zu machen.

In den Sommerferien, die drei Monate von Juli bis Ende September andauerten, flüchteten wir vor dem heißen, überfüllten Teheran Richtung Norden nach Bandar Anzali, einer Hafenstadt direkt am Kaspischen Meer und dem Geburtsort Mamans. Meine Großmutter hatte dort ein Anwesen, auf dem wir jedes Jahr fast die gesamten Ferien verbrachten. Dieser Aufenthalt war immer wieder etwas Besonders. Neben dem Luxus, jeden Tag an den Strand fahren zu können und bis abends spielen zu dürfen, ergab sich die Gelegenheit, den Rest der Verwandtschaft zu treffen, darunter viele Kinder in meinem Alter.

Insbesondere freute ich mich auf Hojjat, der in meinem Alter war. Er war der süßeste Junge, den ich kannte. Ich war noch zu klein, um verliebt zu sein, aber ich wusste, dass ich ihn sehr mochte. Er war der älteste Sohn der Großcousine meines Vaters und ein sehr beliebter Junge. Alle in der Familie liebten ihn. Ich mochte seine Anmut und seinen Anstand. Er war viel zu lieb, und wenn er mit mir spielte, ließ er mich immer gewinnen. Wir bauten fast den ganzen Tag am Strand Sandschlösser. Streit gab es zwischen uns kaum. Zur Pause nahm uns mein Vater mit, um uns eine Runde in Essig eingelegte dicke Bohnen, ein persischer Snack, zu spendieren. Neben seinem guten Wesen, schaute er auch verdammt gut aus. Mit seinen großen rehbraunen Augen und seinen vollen schönen Lippen, war er einer der begehrtesten Jungen in der Verwandtschaft.

Er ließ sich auch sehr oft von mir einschüchtern, denn vermutlich wusste er nicht, wie er sich gegenüber einem Mädchen aus der Großstadt verhalten soll. Und es gefiel mir, dass er sich mir gegenüber sehr schüchtern und zurückhaltend gab. Aber ich wusste auch, dass ich ihn mehr mochte, als er mich. Seine Gesellschaft genoss ich sehr, und ließ ihn wissen, dass ich sehr gerne mit ihm unterwegs war. Er war in seiner Klasse der Klassensprecher und dies imponierte mir besonders. Denn das bedeutete, dass er nicht nur ein guter Schüler, sondern auch viel besser als der Rest der Klasse war.

Baba wusste, dass ich für Hojjat schwärmte. Er gefiel ihm auch sehr, er erwähnte immer wieder, dass Hojjat ein außergewöhnlich gutaussehender und sehr intelligenter Junge sei. Und unterwegs zum Strand bestand er darauf, ihn von zu Hause abzuholen, damit wir mehr Zeit miteinander verbringen konnten. Jeder Tag in Bandar Pahlavi war ein Fest für uns: Tagsüber am Strand und im Meer, abends ein Spaziergang am Hafen oder auf Essenseinladung bei Verwandten.

Zu seinen Lebzeiten war mein Großvater ein wohlhabender und mächtiger Mann. Sein Einfluss reichte bis