Cover-Bild von Infinitas – Fluch aus Glut und Asche (Gods of Ashes 1)

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© Piper Verlag GmbH, München 2021

Sprachredaktion: Uwe Raum-Deinzer

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Giessel Design

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

 

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Flüche sind für die Lebenden, nicht für die Toten.

Und ich lebe. Für immer. Für meinen Fluch.

 

Ich atme die Ewigkeit, in tiefen Zügen wie ein Ertrinkender. Tief in meine Lungen, wo sie den Rest meines Körpers befällt. Ich drohe daran zu ersticken, an der Unsterblichkeit, die meine Adern füllt. Die ein Herz durch mich pumpt, das schon lange zu Staub zerfallen sein sollte. Vermischt mit der Asche derer, die vor mir gingen und vor mir gehen werden. Erlöst, auch wenn sie den Tod fürchten.

Ich kenne eine Wahrheit, die grausamer ist als das Sterben.

Sie fließt durch mich mit jedem Atemzug.

Und hier bin ich. Ewig hier, ewig ich. Ewiglich.

Kapitel Eins

Aliqua

Unmittelbar über mir tapsen Schritte hinweg.

Ich versuche die Augen zu öffnen, doch die undurchdringliche Hülle aus erkalteter Lava, die mich wie eine zweite Haut einhüllt, verhindert es. Ein stummes Seufzen formt sich in meinen Gedanken.

Seit einer Ewigkeit ist mein Körper inzwischen hier gefangen, und noch immer kommt es vor, dass ich diese Tatsache vergesse. Total bescheuert, ich weiß, aber in so langer Zeit entfällt einem so einiges. Vor allem, wenn ich mal wieder für eine Weile (Jahrzehnte? Jahrhunderte? Wer weiß das schon!) im Dämmerschlaf versinke und nichts mehr wahrnehme.

Aber da … schon wieder Schritte! Ich spüre deutlich die Erschütterungen, die wie Schockwellen durch das Vulkangestein dringen, unter dem ich begraben bin.

Das ist wirklich seltsam.

Es ist schon sehr lange her, seit das letzte Mal jemand dort oben herumgelaufen ist, direkt über mir. An der Oberfläche.

Mein Herz zieht sich zusammen, wenn ich an die Welt außerhalb meines steinernen Gefängnisses denke. Auch wenn ich das Gefühl habe, inzwischen schon alles darüber vergessen zu haben, ist da immer noch diese Sehnsucht in mir. Nach Sonnenschein und Wind auf meiner Haut. Nein, niemals könnte ich die Sonne vergessen.

Angestrengt lausche ich auf weitere Vibrationen, doch eine Zeit lang herrscht Ruhe.

Bei Jupiter, ich wünschte wirklich, dass ich mehr hören könnte. Aber genauso hartnäckig, wie sie meine Augenlider daran hindert, sich zu öffnen, verschließt die erstarrte Lava meine Ohren. Mehr als Vibrationen kann ich nicht wahrnehmen.

Fast habe ich mich damit arrangiert, dass meine Besucher wieder verschwunden sind und ich für ein paar weitere Jahrzehnte im Dämmerschlaf versinken kann, als es plötzlich passiert.

Eine gewaltige Erschütterung lässt das Gestein um mich herum erbeben, und wenn ich könnte, würde ich schreien. Die Schockwelle ist so heftig, dass jeder Knochen in meinem Körper erzittert. Ich möchte die Hände in den Untergrund krallen oder irgendetwas tun, um mich dagegen zu wappnen, aber ich kann mich nicht bewegen.

Tatsächlich kenne ich solche Erdstöße – immerhin ist diese Gegend ein notorisches Erdbebengebiet, und auch wenn es früher heftiger war, kommt es immer wieder zu kleinen Schüben, die mich aufschrecken.

Aber so heftig wie jetzt war es noch nie.

Außerdem kommen die Stöße normalerweise aus dem Untergrund, tief aus der Erde selbst und dringen nicht von oben auf mich ein. Äußerst merkwürdig.

Was hier gerade passiert, ist definitiv anders und macht mich ziemlich nervös.

Die nächste Erschütterung schlägt ein, dann noch eine. Der Rhythmus steigert sich zu einem rasenden Stakkato, in dem die Einschläge zu einem einzigen markerschütternden Dröhnen verschmelzen.

Ich beiße die Zähne so fest zusammen, dass mein Kiefer knackt, während um mich herum die Erde bebt.

Alles in mir schreit danach, sich zu bewegen, die Arme schützend über den Kopf zu heben und mich zu einer Kugel zusammenzurollen, bis es vorbei ist. Aber noch immer umgibt mich die Lava-Zwangsjacke von Kopf bis Fuß und zwingt mich dazu, reglos liegen zu bleiben.

Wenn das so weitergeht, werde ich in meine Einzelteile zerspringen, und das war’s dann mit der Freiheit, nach der ich mich schon so lange sehne.

Ganz allmählich zwingt das unermüdliche Donnern von oben den Tuff dazu nachzugeben: Risse fahren wie Blitzeinschläge ins Gestein, das sich kreischend aufspaltet und zerbirst. Und je näher mir diese rohe, hämmernde Kraft kommt, desto deutlicher spüre ich, wie auch mein Panzer Risse bekommt. Schlag um Schlag lockert sich das Gestein um mich herum, bricht weiter auf und befreit mich das erste Mal seit einer Ewigkeit aus diesem starren Korsett.

Die erkaltete Lava, die mir Ohren, Nase, Mund und Augen versiegelt hat, platzt als Erstes von mir ab, und ich breche beinahe in Tränen aus angesichts des bestialischen Lärms, der um mich herum herrscht. Ich werde wahrscheinlich taub, noch bevor ich meine wiedergewonnene Sinneskraft auskosten kann. Einige unerträgliche Minuten hält das Donnern noch an, das meine winzig kleine Welt in Schutt und Asche legt, dann verstummt es endlich. Das Beben hat aufgehört, und ich spüre der neuen Umgebung nach, in der ich mich jetzt wiederfinde.

Der undurchdringliche Kokon aus Vulkangestein ist zerbröselt und gewährt mir ein ganz neues Gefühl von Freiheit. Da ist plötzlich Luft, die durch die Ritzen dringen kann, um mein freigelegtes Gesicht zu umschmeicheln. Ich möchte den Mund öffnen und tief Luft holen, aber ich habe zu viel Angst, dass ich nichts als Schutt einatmen könnte. Lieber noch ein wenig abwarten und dieses neue Gefühl erproben.

Probehalber wackle ich mit den Zehen, und ich kann spüren, wie der steinerne Mantel um meine Füße aufbricht.

Über mir sind schabende Geräusche zu hören, die ich nach einer Weile als Schaufeln einordnen kann, die in das Geröll gestoßen werden, um das lose Material über mir zu entfernen.

Ich bin ganz verblüfft über diese Erkenntnis. Ist da vielleicht jemand zu Gange, nur um mich zu befreien? Nach all der Zeit war ich eigentlich davon überzeugt, dass sich keine Menschenseele mehr an mich erinnern würde.

Stück um Stück wird das Erdreich über mir abgetragen. Das Gewicht von Jahrhunderten beginnt von mir zu weichen, und mein Herz dehnt sich vor Hoffnung aus, bis es meinen Brustkorb zu sprengen droht.

Es wird wirklich wahr: Ich werde befreit!

Doch als nur noch wenige Schippen fehlen, um mich vollkommen freizulegen, hört es mit einem Mal auf.

will ich brüllen,

Aber die Grabung kommt tatsächlich zum Erliegen, und stattdessen höre ich herumtänzelnde Schritte und wilde Laute, die an kämpfende Tiere erinnern. Was ist dort oben nur los? Warum haben sie aufgehört?

Wut macht sich in mir breit, und mit ihr kommt der Gedanke, dass ich selbst versuchen könnte, mich aus den letzten Zentimetern zu graben. Meine Arme zu heben, wie viel Zeit auch vergangen sein mag, und die letzten Brocken wegzuschieben.

Und dann tue ich es.

Als wäre es das Natürlichste der Welt, schiebe ich mich nach oben, wie ein Taucher, der aus großer Tiefe aufsteigt, um durch die Wasseroberfläche zu dringen. Und obwohl das Meer, aus dem ich mich emporkämpfe, aus fester erkalteter Magma besteht, schaffe ich es, bis nach oben zu gelangen.

Meine Muskeln brennen wie Feuer, jede steife Sehne in meinem Körper protestiert und meine Gelenke ächzen. Aber ich bewege mich, spüre sandigen Staub und Schutt über meine Haut rieseln, von der die harte Ascheschicht abplatzt.

Reine Willenskraft bringt mich dazu, die letzten Brocken aus dem Weg zu schieben, und dann bin ich frei. Zum ersten Mal seit Menschengedenken frei.

Keine erkaltete Lava mehr weder an noch unter oder über mir.

Diese Tatsache überwältigt mich so sehr, dass ich weinen möchte, doch für den Moment bin ich zu beschäftigt damit, zu atmen und meinen wiedererwachenden Körper zu bestaunen. Jeder Quadratmillimeter schmerzt, aber so fühlt sich die Freiheit an. Es kann bis in alle Ewigkeit wehtun, wenn es bedeutet, dass ich nicht mehr gefangen bin.

Santo

Ich bin unruhig diese Nacht.

Alleine und fast unsichtbar bahne ich mir meinen Weg durch die Straßen von Rom. Ganz in Schwarz gekleidet, verschmelze ich nahezu mit den Schatten und bewege mich so leise, dass kein Passant mich bemerkt, während ich wachsam meine Runden ziehe.

Eine Nacht wie jede andere, sollte man meinen, aber meine Sinne sind in Aufruhr. Ich spüre es, seit die Sonne untergegangen ist, noch bevor mein Verstand kapiert hat, was es ist.

Unsterblichkeit liegt in der Luft, und das kann nur eines bedeuten: Ärger.

Eigentlich bin ich es müde. Ich bin schon so viele Jahre müde, dass ich mich nicht daran erinnern kann, wann ich mich das letzte Mal wirklich wach und lebendig gefühlt habe.

Die Nächte auf Patrouille sind nur ein weiteres lähmendes Übel eines Daseins, in dem Tage längst an Bedeutung verloren haben. Das war nicht immer so, aber in letzter Zeit wird es immer schlimmer.

Vor fünfhundert Jahren konnte mich eine Verfolgungsjagd noch richtig begeistern, aber selbst dieser Nervenkitzel ist inzwischen verblasst. Auch die unheilvolle Vorahnung, die heute Nacht wie ein Mantel über der Stadt liegt, beunruhigt mich nicht annähernd so sehr, wie es sollte.

Im Endeffekt ist jede Unruhe, die diese Ewigkeitsjünger verursachen, nichts weiter als ein weiteres ermüdendes Ärgernis – nur dass sie im Gegensatz zu mir nie die Lust daran verlieren. Was mich zu der Erkenntnis bringt, dass Dummheit Bestand hat, egal wie lange man lebt.

San Lorenzo, das Viertel, das ich gerade durchstreife, kommt auch nachts nie ganz zur Ruhe. Hier wohnen viele Studierende, deren lärmende Partys aus angelehnten Fenstern hinunter auf die Straße geweht werden. Auch die Bars und Kneipen sind um diese Zeit noch gut besucht, und es wird noch belebter, je näher ich dem Hauptbahnhof komme.

Seit Jahren liege ich meinem Onkel Nerone in den Ohren, dass ich eine andere, weniger belebte Patrouillenroute haben möchte, doch mit dieser Bitte stoße ich bei ihm auf taube Ohren.

»Keiner ist so geschickt darin sich unsichtbar zu machen, wie du, Santo. Wenn ich einen von den anderen in die Gassen schicke, hört man sie schon aus einem Kilometer Entfernung herantrampeln, und diese Bastarde sind längst über alle Berge, bis einer auftaucht.«

Das Lob meines Onkels sollte mir schmeicheln, doch es befeuert eher meinen Trotz. Wenn sie wollten, könnten die anderen genauso leise sein wie ich. Aber sie bevorzugen die ruhigen, weitläufigen Außenbezirke der Stadt, wo man weniger auf der Hut sein muss. Die Innenstadt erfordert dagegen permanente Aufmerksamkeit, Konzentration und Intuition. Im Gewühl der Menschen sind Ewigliche so viel schwieriger aufzuspüren.

Doch obwohl die Luft vor Anspannung bebt, bemerke ich in der Stadt nichts Ungewöhnliches. Was uns Ewigliche angeht, ist alles ruhig. Aber trotzdem …

Das Handy in meiner Hosentasche vibriert und unterbricht meine Sondierungen. Ich ziehe es hervor, und das Gesicht meines Cousins Scuro erscheint auf dem Bildschirm.

Soweit ich weiß, hat er diese Nacht keinen Dienst, und eigentlich sollte er wissen, dass er mich in Ruhe lassen sollte. Trotzdem gehe ich ran.

»Was gibt’s?«, knurre ich. Während ich das Handy ans Ohr halte, wandert mein Blick weiter aufmerksam über die Piazza Indipendenza, die jetzt vor mir liegt. Doch außer einigen Autos, die den begrünten Mittelstreifen umrunden, gibt es nichts Spannendes zu sehen.

»Santo!«, dringt die Stimme meines Cousins aus dem Hörer. Ich verstehe ihn kaum, denn im Hintergrund wummert Musik und quillt Stimmengewirr dazwischen. Scuro ist auf einer Party? Kaum zu glauben. »Bist du noch unterwegs?«

Ich rolle mit den Augen. »Es ist kurz nach Mitternacht, meine Tour hat quasi erst begonnen.«

»Dann mach dich sofort auf den Weg hierher! Wir brauchen Unterstützung.«

Ich seufze. Adone muss ihn abgefüllt haben.

»Ich kann jetzt auf keine Party kommen, Scu. Wo steckst du überhaupt?«

Mein Cousin scheint sich von den Feiernden etwas wegzubewegen, denn im Hintergrund wird es deutlich ruhiger.

»Adone und ich sind in Positano, und hier liegt was in der Luft, ganz in der Nähe. Ernsthaft, es wundert mich, dass du es nicht bis nach Rom spüren kannst.«

Ich versteife mich und weiche unwillkürlich einen Schritt zurück in den Schatten der Gasse, an deren Ende ich stehe. Denn ich kann durchaus etwas spüren – auch wenn ich nicht gedacht hätte, dass es von außerhalb der Stadt kommt. Das ist ungewöhnlich und beunruhigend.

»Positano? Was zum Teufel macht ihr an der Amalfiküste?«

Scuro seufzt, und ich kann fast vor mir sehen, wie er mit den Augen rollt. »Adone musste mich unbedingt auf diese Party schleppen. Aber das ist doch jetzt völlig egal. Sieh zu, dass du so schnell wie möglich herkommst. Was auch immer da los ist, wir brauchen dich zur Unterstützung.«

Der eindringliche Ton in seiner Stimme ist es, der mich schließlich dazu bewegt, meinen Patrouilleposten zu verlassen. Ich kenne Scuro fast besser als mich selbst, und wenn er so alarmiert ist, dass er mich von Rom ins über zwei Stunden entfernte Positano ruft, dann ist die Sache wirklich ernst.

»Okay, ich komme. Ruf mich unterwegs an, wenn was ist.«

Ich lege auf und eile den Weg zurück, den ich gekommen bin. Leute weichen erschrocken vor mir zurück, als ich wie ein nachtschwarzer Blitz an ihnen vorbeizische. Doch ich bin schon weg, ehe sie sich zu mir umdrehen können. Mein Herzschlag hebt sich ein wenig, und ein Gefühl, das ich beinahe vergessen habe, macht sich in mir breit: eine leise Ahnung von Aufregung.

 

Mein Motorrad steht in einer Seitenstraße in der Nähe der Sapienza-Universität.

Fünfzehn Minuten später habe ich die Stadt hinter mir gelassen und fahre auf die Autostrada A1, die mich auf direktem Weg runter nach Neapel bringt.

Der Motor meiner schwarzen Moto Guzzi V12 grollt wie eine zufriedene Raubkatze, als ich über die kaum befahrene Autobahn rase und alle Tempolimits ignoriere.

Was auch immer mich an der Amalfiküste erwartet, diese Spritztour ist die Sache jetzt schon wert. Es ist schon viel zu lange her, dass ich mich dem Rausch der Geschwindigkeit hingegeben habe und einfach nur gefahren bin.

Keine Ahnung, was ich Nerone später sagen werde, um zu erklären, warum ich meinen Patrouilleposten verlassen habe, aber um Erklärungen können sich genauso gut Scuro und Adone kümmern. Immerhin bin ich nur wegen der beiden unterwegs in Richtung Süden.

Kurz vor Neapel halte ich an einem verlassenen Rastplatz und ziehe mein Handy aus der Innentasche meiner schwarzen Lederjacke. Ich habe es während der Fahrt mehrere Male an meiner Brust vibrieren gespürt, checke aber erst jetzt die eingegangenen Nachrichten, weil ich nicht alle paar Kilometer anhalten wollte. Andernfalls hätte ich es nie in der rekordverdächtigen Zeit von unter zwei Stunden hierher geschafft.

Ich habe mehrere Kurznachrichten von meinen beiden Cousins erhalten, die Positano inzwischen verlassen haben und sich im Küstenort Portici mit mir treffen wollen. Als ich den Namen dieses Ortes lese und mir klar wird, er liegt, senkt sich so was wie eine dunkle Vorahnung über mich. Das ist für meinen Geschmack entschieden zu nahe an jenem Flecken Erde, den ich am liebsten nie wieder betreten würde.

Bilder, die ich in den hintersten Winkel meines Gedächtnisses vergraben habe, drängen an die Oberfläche. Es sind Erinnerungen, älter als alles um mich herum, auf denen der Staub von Jahrhunderten liegt und die ich doch noch immer nicht anzutasten wage.

sage ich mir und klappe das Visier meines Helms wieder herunter.

Lauter als nötig lasse ich den Motor aufheulen und mache mich auf den Weg.

Keine zehn Minuten später stelle ich meine Maschine auf einem öffentlichen Parkplatz, direkt am kleinen Bahnhof von Portici, ab. Schon als ich den Helm vom Kopf nehme und mir durch die platt gedrückten Haare fahre, sehe ich zwei Schatten auf mich zukommen.

Trotz der Anspannung, die mich gefangen hält, seit ich weiß, wo wir uns treffen wollen, muss ich beim Anblick meiner beiden Cousins grinsen.

»Hey, Sackgesicht«, begrüßt mich Adone launig und verpasst mir einen Klaps, der einen schwächeren Mann in die Knie gezwungen hätte. Ich aber stemme die Beine in den Boden und erwidere seinen Gruß mit einem knappen Nicken.

Adone ist Nerones Sohn und ganz der Adonis, nach dem er benannt wurde. Er scheint aus nichts als Muskeln zu bestehen, und die Frauen schmelzen bei seinem Anblick reihenweise dahin. Neben ihn tritt Scuro, über einen Kopf kleiner und neben dem massigen Adone fast schmächtig. Aber der Eindruck täuscht. Scuro ist flink, clever und todbringend. Niemand, mit dem ich mich anlegen würde – aber das gilt für beide.

Wir drei sind Cousins, aber im Grunde stehen wir uns näher als Brüder. Schon immer, für immer.

Jetzt schaue ich die beiden mit fragend gehobenen Augenbrauen an. »Also, weswegen habt ihr mich nun den ganzen Weg hierher gejagt?«

»Als wäre das eine Zumutung für dich gewesen«, spottet Adone mit einem wissenden Blick auf meine Moto Guzzi.

Scuro geht dazwischen. »Spür mal.«

In dem Moment, in dem ich meine Aufmerksamkeit bewusst auf die Anwesenheit anderer Ewiglicher richte, bricht ein regelrechtes Feuerwerk an Aktivität über mich herein. Es explodiert in meinem Kopf, und ich brauche einen Moment, um mich zu sortieren.

Die Überreste der Göttergabe, die es mir möglich macht, meinesgleichen aufzuspüren, schlägt aus wie die Nadel eines Seismografen. So stelle ich mir meine Fähigkeit zumindest gerne vor – ein empfindliches Instrument, das die Schwingungen von Unsterblichkeit in der Luft wahrnehmen kann. Und hier pulsiert die Nacht geradezu.

ist hier ganz in der Nähe. Und es riecht nach Ärger.

Wortlos setzen wir uns in Bewegung.

Portici ist ein dicht bebautes Örtchen, doch es zieht uns stetig nach Südosten, bis wir das überschaubare Stadtwäldchen erreichen und die eng gedrängten Häuser hinter uns lassen. Allumfassende Ruhe empfängt uns zwischen den Bäumen, unsere Schritte sind die einzigen Geräusche weit und breit. Die Härchen auf meinen Armen richten sich auf, aber nicht aus Angst – nein, Angst habe ich nicht mehr gespürt, seit Napoleon in Italien einmarschiert ist –, sondern aus einem Anflug von Vorfreude. Götter, heute Nacht bin ich regelrecht emotional.

Die gute Laune verpufft allerdings so schnell, wie sie gekommen ist, als wir den Wald durchquert haben und vor uns der Ort auftaucht, der direkt an Portici grenzt: Ercolano. Auf den ersten Blick ist es ein Städtchen wie alle anderen in Italien: enge, schlecht geteerte Straßen, Häuser, die schon bessere Zeiten gesehen haben, und Autos, die sich an jede Ecke quetschen. Aber Ercolano verbirgt noch mehr, den Grund, warum ich diesen Ort am liebsten für immer aus meinen Erinnerungen streichen würde: die antike Ruinenstadt Herculaneum. Sie wurde zusammen mit Pompeji, Stabiae und Oplontis beim Ausbruch des Vesuv im Jahr Neunundsiebzig zerstört und in der Neuzeit wieder ausgegraben. Es ärgert mich bis heute, dass wir nichts dagegen unternehmen konnten. Wenn es nach mir ginge, würde besonders Herculaneum für alle Ewigkeit unter dem Tuffstein begraben liegen. So aber wurden Teile der untergegangenen Stadt wieder freigelegt und befinden sich als lukrativer Touristenmagnet inmitten der modernen Nachfolgesiedlung Ercolano.

Adone scheint meinen Unwillen zu teilen. »Die treiben sich nicht wirklich in Herculaneum rum, oder? Ich hab noch nie gewusst, was damals alle an diesem Kaff gefunden haben.«

Meine Mundwinkel krümmen sich leicht. Ja, Adone fand diesen Ort schon immer zum Sterben langweilig. Das antike Herculaneum war ein klassisches Ziel für Sommerfrischler; reiche Säcke, die sich hier Villen gebaut haben, um den grandiosen Blick über den Golf von Neapel zu genießen und sich die frische Luft um die Nase wehen zu lassen. Nichts für jemanden wie meinen Cousin, der früher zum Vergnügen an Gladiatorenwettkämpfen teilgenommen hat.

Scuro enthält sich wie so oft, und sein Schweigen verrät nichts darüber, was er wirklich denkt. Aber ich weiß, dass es ihm genauso wenig wie uns behagt, hier zu sein. Dieser Ort weckt Erinnerungen in jedem von uns, die wir am liebsten für immer vergessen würden.

 

In Ercolano ist es ruhig, als wir durch die Straßen laufen, in Richtung der unsterblichen Aktivität, die uns magnetisch anzieht. In meinem Kopf sieht es aus wie auf einem Radarmonitor, der voller hell leuchtender Flecken ist, die sich auf einen Ort konzentrieren.

Das Ausgrabungsgelände von Herculaneum befindet sich inmitten der modernen Siedlung, aber nur ein Bruchteil der untergegangenen Stadt wurde überhaupt ausgegraben. Vieles, was der Vesuv damals verschluckt hat, liegt noch immer unter meterdicken Lavamassen begraben.

Je näher wir den Ruinen von Herculaneum kommen, desto klarer wird, dass sie dort zu Gange sein müssen. Mir steigt die Galle hoch, wenn ich daran denke, dass ich das Gelände wirklich betreten muss. Meine Finger zucken; diese fehlgeleiteten Bastarde können sich auf eine Abreibung gefasst machen.

Die Aggression wächst mit jedem Schritt in mir, aber nach den Jahren der Abgestumpftheit heiße ich diese Regung willkommen. Sie erfüllt mich mit einer Lebendigkeit, von der ich dachte, dass ich sie längst verloren habe. Ich bin weiß Gott nicht der Einzige von uns, dem es so geht, und das ist ja auch der Grund, warum die meisten so dringend nach einem Ausweg suchen.

Auf die archäologische Stätte zu kommen, ist nicht besonders schwer. Am Rand des Geländes klettern wir über eine bröckelige Außenmauer, die man kaum als Herausforderung betrachten kann. Zwar sind wir nicht mit übermenschlicher Stärke oder Ausdauer gesegnet (solche Vorteile hat der Fluch natürlich nicht für uns vorgesehen), aber wenn man so lange lebt wie wir, bleibt viel Zeit, den eigenen Körper zu trainieren.

Lautlos kommen meine Cousins und ich auf der anderen Seite auf und ducken uns in den Schatten der Mauer, um zunächst die Lage zu sondieren. Die wieder ausgegrabenen Straßen und Gebäude wirken auf den ersten Blick ruhig und verlassen. Aber aus einiger Entfernung dringen Geräusche zu mir, die meine Aufmerksamkeit fesseln. Ein dumpfes Hämmern und Kratzen, das ich zunächst nicht einordnen kann.

»Hört ihr das?«, raune ich, meine Stimme so leise, dass sie fast mit dem Wind verschmilzt.

Scuro und Adone nicken.

»Graben … die da etwas um?«

Als Scuro es ausspricht, sind wir augenblicklich alarmiert.

Ewigliche, die im Schutz der Nacht Grabungen in Herculaneum vornehmen … jede Faser meines Körpers spannt sich an, und das, was ich gerade für Aggression gehalten habe, verpufft angesichts einer dunkleren, tödlicheren Regung, die sich jetzt in mir breitmacht. Eiskalte Raserei, die mich bis in den hintersten Winkel meines Seins erfüllt und nur ein Ziel kennt: sie aufzuhalten.

Nur über meine verfluchte Seele werde ich zulassen, dass irgendjemand hier herumwühlt und Geheimnisse aus dem Boden holt, die für immer hier begraben bleiben sollten.

Ohne weiter darüber nachzudenken, setze ich mich in Bewegung. Hinter mir stößt Adone einen leisen Fluch aus, doch er und Scuro folgen mir auf dem Fuß.

Geschmeidig wie Panther, fast gänzlich mit der Dunkelheit verwoben, bewegen wir uns durch die Siedlung. Vorbei an ehemaligen Schenken, Ladengeschäften und Wohnhäusern, die wie Gerippe in den Nachthimmel ragen.

Trotz der unbezähmbaren Rage, die in mir tobt, bewege ich mich lautlos wie ein Schatten vorwärts.

Und da ist es schon. Ein Gebäude, nur zur Hälfte ausgegraben und der Öffentlichkeit nicht zugänglich. Ich muss nicht hinsehen, ich spüre mit unfehlbarer Sicherheit, dass die Grabungsarbeiten in diesem Haus vor sich gehen. Ohne eine Sekunde darauf zu verschwenden, mich mit Scuro und Adone abzusprechen, stürme ich durch das Atrium ins Innere. Ich überlasse meinen Instinkten die Führung, ergebe mich vollständig der Raserei, die mich auch blind an mein Ziel führt.

Vier vermummte Personen befinden sich in dem halb verfallenen Raum und sind gerade dabei, einen Teil des Bodens mit Hacken und Schaufeln zu bearbeiten. Neben ihnen liegt ein Presslufthammer, den sie wohl zunächst benutzt haben, um das Gestein aufzubrechen. Jetzt scharren sie durch den aufgeworfenen Schutt, als würden sie nach etwas suchen.

Sie sind so in ihre Tätigkeit vertieft, dass sie zu spät bemerken, dass meine Cousins und ich hereinkommen. Ich verschwende keine Zeit für Warnungen, sondern knöpfe sie mir gleich vor. Mit dem Fuß trete ich einem von ihnen das Werkzeug aus der Hand, was ihn überrascht aufschreien lässt. Seine Gefährten halten in ihrem Tun inne und wenden sich in dem Moment um, als Adone und Scuro auf sie losgehen.

Im ersten Moment sind sie von unserem Angriff überrumpelt, doch sie fangen sich schnell und setzen sich zur Wehr. Gut so. Ich will sie nicht von hinten k. o. schlagen, sie sollen kämpfen.

Der Kerl, dem ich die Hacke aus der Hand getreten habe, fährt zu mir herum. Er richtet sich in der Drehung auf und entgeht so einem Tritt gegen die Brust. Ein Knurren entweicht mir, als er auf mich losgeht, mit einer Geschicklichkeit und Schnelligkeit, die meiner in nichts nachsteht.

Unermüdlich weiche ich Schlägen und Tritten aus und versuche ihn aus der Reserve zu locken. Ich habe nicht vor, den Dreckskerl auszuschalten – er ist genauso unsterblich wie ich, es ist also eh ein Ding der Unmöglichkeit –, aber wenn ich ihn ärgere, wird er irgendwann sauer, und dann bekomme ich die Chance zuzuschlagen. Mein Gegner kriegt gar nicht mit, wie ich ihn immer weiter in die Ecke treibe. Ich erhöhe die Intensität meiner Schläge, weiche ihm nicht länger aus, sondern lasse den Zorn in mir angreifen. Die Kapuze verhüllt noch immer sein Gesicht, aber ich muss es nicht sehen, um zu spüren, dass er nervös wird. Er kapiert, dass er mit dem Rücken zur Wand steht, und ich besiegle es mit einem bösen Grinsen.

Hinter mir nehme ich ein Geräusch wahr, das mich für den Bruchteil einer Sekunde ablenkt. Ein Knacken, gefolgt von einem dumpfen Stöhnen. Was zum …?

Mein Gegner nutzt den Moment der Unachtsamkeit und tritt die Flucht an. Blitzschnell ist er unter meinem Arm hindurchgehuscht, und ich komme nicht mehr dazu, nach ihm zu greifen.

Auch Adone und Scuro haben sich ablenken lassen, und als ich mich umdrehe, sehe ich gerade noch, wie die vier Bastarde hinaushuschen.

Ich stoße einen Fluch aus.

»Was war denn das?«, grunzt Adone, noch immer geladen von dem so abrupt unterbrochenen Kampf. Sein wilder Blick wandert durch den halb verfallenen Raum.

Ich zucke mit den Schultern und nähere mich vorsichtig der Grube, die sie mit dem Presslufthammer in den Boden getrieben haben. Es ist ein einziger Schutthaufen, aber viel tiefer, als ich angenommen habe.

Diese Frage habe ich mir noch gar nicht gestellt, mein ganzes Denken war davon beherrscht, sie aufzuhalten und ihnen dann eine Abreibung zu verpassen, weil sie an diesem Ort herumgewühlt haben. Aber jetzt interessiert es mich brennend, was sich in der Grube verbirgt. Denn ist dort unten. Und es bewegt sich.

Adone und Scuro treten neben mich, und gemeinsam lugen wir hinunter in das finstere Loch.

Wieder ist dieses Knacken zu hören, als würde eine dicke Eierschale aufgebrochen werden. Gestein rieselt zu Boden, und Staub wird aufgewirbelt. Ich muss die Augen zusammenkneifen, um überhaupt noch etwas erkennen zu können.

Undeutlich nehme ich eine Bewegung wahr und beobachte mit angehaltenem Atem, wie sich ein Schemen aus der Dunkelheit schält.

Ist das … kann das ein Mensch sein? Da ist nichts außer Staub, Asche und Gestein.

Ich versuche noch zu begreifen, was ich da sehe, als inmitten des Schutts etwas aufblitzt.

Ein Paar Augen.

Sie finden meinen Blick, und im selben Atemzug stolpere ich zurück, als wäre eine Kugel auf mich abgefeuert worden.

Das kann nicht sein!

Das ist unmöglich!