Bettina Brömme

Keep calm & travel –

jetzt fängt das Leben erst richtig an

Ebenfalls von Bettina Brömme im Arena Verlag erschienen:
»18, pleite und planlos. Aber immerhin sehen wir gut dabei aus«

KEEP CALM & TRAVEL —
jetzt fängt das Leben erst richtig an

Bettina Brömme

Lektion 1: Beobachte genau.
Beobachte immer. Beobachte alles!

KEEP CALM, ALWA, AND TRAVEL!
Mein Neuseeland-Reiseblog

Donnerstag, 11. 10.

Goodbye, ihr Lieben! Ich habe die ganze Nacht kein Auge zugetan! Wieso hat man Angst vor etwas, auf das man sich gleichzeitig furchtbar freut? Es hilft nichts: Jetzt gibt’s kein Zurück mehr. Ich kann’s kaum glauben. Die letzten Tage waren ein einziges Chaos aus Zusammensuchen, Packen, Abschiedstränenweinen, vorfreudig Herumtanzen, letzten Treffen mit allen meinen Lieben, Ratschlägeabwimmeln, Zweifelfortschieben … und nun muss ich los! Drückt mir die Daumen, dass alles gut geht. Ich melde mich!

Big Hug von eurer Alwa

Okay, das war es dann also. Dann würde ihr Leben eben jetzt und hier, irgendwo über dem Indischen Ozean, enden. Die Boeing 747 würde in 11.000 Metern Höhe vom Gewitter getroffen werden und in der Mitte auseinanderbrechen. In der schwarzen Nacht würden gleich nur noch atomisierte Partikel ihres Körpers durcheinanderwirbeln und für immer in der Unendlichkeit des Alls verschwinden.

»Einen Tee?«, fragte der Flugbegleiter und beugte sich zu ihr hinüber. »Sie sind so blass.«

Alwa nickte dankbar und klammerte sich an den Becher Pfefferminztee, den der aufmerksame Mann ihr reichte. Noch mal nachdenken. Was hatte Mai vor dem Abflug zu ihr gesagt? Solange die Flugbegleiter nicht kreidebleich und fest angeschnallt auf ihren Sitzplätzen kauern, kann nichts passieren. Mai war schon mehrmals in die USA geflogen und wusste, wovon sie sprach. Und der Flugbegleiter hier lief sogar herum und verteilte mitten in der Nacht Tee. So schlimm konnte es nicht um sie stehen. Alwa zog die Abdeckung vor dem winzigen Fensterchen zu – wenn sie die Blitze dort draußen und den vibrierenden Flugzeugflügel nicht sah, dann gab es diese auch nicht. Sie atmete tief durch und pustete über das heiße Getränk. Alles würde gut werden! Und zwar wirklich alles. Der Flug. Die Ankunft in Auckland. Das Projekt. Die Arbeit mit den Kindern. Ihre Kolleginnen und Kollegen dort. Das halbe Jahr Neuseeland würde die Krönung ihres bald 19-jährigen Lebensweges sein. Sie würde unglaublich tiefgehende und bereichernde Erfahrungen machen, von denen sie ein Leben lang zehren würde. Ganz bestimmt!

Doch erst einmal musste dieses Flugzeug aufhören, so wahnsinnig heftig zu rütteln. Verdammt, fluchte Alwa innerlich und beobachtete, wie sich der Flugbegleiter nun doch hinsetzte und anschnallte. Ein paar Reihen vor ihr stöhnte jemand laut auf. Weiter hinten schrie ein Kind. Und würgte da jemand in seine Spucktüte? Sogar ihr redseliger Sitznachbar war verstummt und seine Gesichtsfarbe erinnerte an eine frische Made. Das Flugzeug schien zu schlingern wie ein Wagen in der »Wilden Maus«.

Und dann fühlte es sich an, als öffnete sich der Boden unter ihren Füßen. Adrenalin rauschte durch ihren Körper. Im freien Fall ging es hinab, tiefer und tiefer. Mindestens 400 Meter. Der heiße Tee fiel nicht so weit – er schwappte nur auf ihre Handgelenke. Sie gönnte dem brennenden Schmerz kaum Aufmerksamkeit, denn ebenso plötzlich wurde das Flugzeug zurück gen Himmel gehoben. Und ihr Magen gleich mit.

Neuseeland war eine einzige dumme Idee! Warum hatte sie sich nicht in München einen Praktikumsplatz gesucht? In einer Flüchtlingsunterkunft oder so etwas. Warum hatte sie sich in den Kopf gesetzt, in England diesen neuartigen Entwicklungshilfe-Studiengang durchzuziehen, für den man perfekte Sprachkenntnisse und ein vierteljähriges Praktikum in einer sozialen Einrichtung eines englischsprachigen Landes benötigte? Dass sie gleich mal durch den TOEFL-Test gefallen war, hätte ihr eine Warnung sein sollen. Bleib daheim! Sie könnte jetzt von Jellas neuester Tortenkreation probieren, mit Franzi und Henry ins Kino gehen oder Mais Berichten über ihr frisch angefangenes Jurastudium lauschen. Stattdessen saß sie hier – ganz allein. Na ja, nicht ganz allein, denn nun spürte sie die Hand des Nebenmannes auf ihrem Unterarm.

»Alles okay?«, fragte er und beugte sich zu ihr hinüber. Das war fast noch schlimmer als die eben überstandene Turbulenz. Schließlich hatte er während dieser ausnahmsweise geschwiegen – im Gegensatz zu den vier Stunden zuvor.

»Hm«, stieß sie aus. Je weniger sie sagte, umso weniger Anknüpfungspunkte hatte er.

»Hab keine Angst«, legte er jedoch sofort los. »Ich bin mal von Athen nach Berlin geflogen – meine Herren! Da hab ich schon die Schaumkronen der Wellen des Mittelmeers unter mir gesehen.«

Alwa nickte einfach und war froh, dass er offensichtlich keine Antwort erwartete. Seit dem Zwischenstopp in Dubai saß der Typ neben ihr und schwallte sie voll. Auf den ersten Blick hatte sie gedacht, er wäre ganz okay. Er war etwas älter als sie, trug einen Zopf, der unter einem Lederhut hervorlugte, und sah nach Weltenbummler aus. Das war er in der Tat – allerdings nicht der Typ Lonesome Cowboy, sondern eher Plaudertasche. Irgendwann hatte sie vorgetäuscht zu schlafen, damit er nicht ungefragt mit der 35. Reiseanekdote anfing. In den vielen Stunden, die sie nebeneinander ausharrten, hatte er ihr keine einzige Frage gestellt. Na ja, vermutlich sah er ihr an, dass er einfach deutlich mehr erlebt hatte als sie.

»Ich versuche mal, noch ein bisschen zu schlafen«, warf sie inmitten der Schilderung über eine beinahe kenternde Fähre in Thailand ein und drehte ihm demonstrativ den Rücken zu. Er redete ein paar Sätze weiter, verstummte aber schließlich und Alwa spürte erleichtert, dass das Flugzeug weiter so ruhig und gleichmäßig dahinschwebte, als seien Turbulenzen nur Erfindungen von Stubenhockern.

»Guten Morgen«, weckte sie der Flugzeugkapitän mit seiner vollen Bassstimme über den Lautsprecher. »Wir haben es fast geschafft. In ungefähr 20 Minuten landen wir auf dem Auckland International Airport. Es ist sonnig und Sie können sich auf frühlingshafte 18 Grad freuen.«

Frühling! Sofort war Alwa munter. Dieses Jahr würde es für sie schlichtweg keinen Winter geben – wie großartig war das denn? Den warmen, langen Münchner Sommer hatte sie kaum genießen können, denn sie war ständig beschäftigt gewesen. Von wegen, nach dem Abitur wartet die große Freiheit! Erst hatte sie im Archiv einer Versicherung gejobbt, dann den Führerschein gemacht, für den ein Großteil ihres frisch verdienten Geldes wieder draufgegangen war, und nebenbei einen neuen Praktikumsplatz gesucht, was deutlich mehr Zeit verschlungen hatte als veranschlagt. Alwa ärgerte sich noch immer, dass sie nicht von der Aktion Sühnezeichen für einen Aufenthalt in einem Behindertenheim in Israel ausgewählt worden war. Es wäre eine große Ehre für sie gewesen, dort hinzugehen. Zudem war die Absage erst sehr spät bei ihr eingetroffen. Alle Alternativen waren zu dem Zeitpunkt schon mit anderen Bewerbern besetzt und sie hatte ewig gesucht, bis sie auf die kleine Agentur gestoßen war, die in Neuseeland Praktikumsplätze vergab und tatsächlich noch einen frei hatte. Die Vermittlungsgebühr war mit 800 Euro ziemlich happig gewesen, aber was hätte sie machen sollen? Sie war froh, überhaupt etwas zu bekommen. Außerdem klang die Stelle genau nach dem, was sie gesucht hatte. Sie würde in einem Waisenhaus mithelfen, das nahe Whangarei, nördlich von Auckland, lag. 60 Kinder, viele von ihnen Maoris, lebten hier mit einem vierköpfigen Leitungsteam und jeweils sechs wechselnden Praktikanten. Und sie wäre für drei Monate eine von ihnen. Ihrer Mutter war Alwa dankbar, dass diese ihr den Großteil der Vermittlungsgebühr zugeschossen hatte. Alwa wusste, dass das ein echtes finanzielles Opfer für sie bedeutete.

Nun lagen lauter Wonnemonate vor Alwa – davon war sie überzeugt. Und wenn sie nach Deutschland zurückkehrte, dann würde dort der Frühling anfangen.

Vor sich im Dunst erkannte sie nun einen Streifen Land. Er wirkte wie eine Oase in all dem Wasser, über das sie geflogen waren. Hell- und dunkelgrüne Brachflächen wurden erkennbar, kleine Wäldchen, rechteckig angeordnete Straßenzüge und über allem spannte sich nun ein makellos blauer Himmel. Kurz schreckte sie zusammen, als die Häuser näher und näher kamen und dann doch wieder nur noch Wasser unter ihnen zu sehen war.

»Die Landebahn ragt in den Manukau Harbour Lake rein, keine Sorge, der Pilot wird sicher treffen«, prahlte der aufdringliche Typ neben ihr sofort mit seinem weltumspannenden Wissen. Alwa nickte ergeben und dann rumpelte es schon unter ihr und das Flugzeug setzte auf. Immerhin. Sie war wohlbehalten angekommen.

Bereits im Flieger hatte Alwa die »Passenger Arrival Card« ausgefüllt und sich gewundert, was sie dort alles angeben musste. Da man in Neuseeland offensichtlich Angst hatte, dass Besucher irgendwelche Keime oder Krankheiten einschleppten, die für die Umwelt schädlich sein könnten, durfte man weder Obst noch Fleisch, Nüsse, Milchprodukte und tote Tiere einführen. Na ja, für Letzteres hatte Alwa durchaus Verständnis. Das übrige Stück von dem Kuchen, den ihr Jella zum Abschied gebacken hatte – ihre neueste Kreation: eine saftige Linzer Torte mit einer zitronigen Buttercremeschicht –, hatte sie zum Frühstück im Flugzeug gegessen.

Während sie sich in die Schlange an der Passkontrolle einreihte, überlegte sie, was Jella und ihre Ma wohl gerade taten. Neuseeland war Deutschland um genau zwölf Stunden voraus. Hier war es kurz nach acht Uhr morgens und in Deutschland sah man gerade die Tagesschau. Vermutlich schaute nur ihre Mutter – ihre Schwester brach bestimmt auf, um Franzi zu treffen. Für eine Sekunde rauschte ihr die Überlegung durch den Kopf, dass sie jetzt lieber dort wäre. Dort, wo sie sich auskannte. Nur nach Ausgehen wäre ihr momentan nicht zumute. Alwa gähnte ausgiebig – sie war seit bald 30 Stunden unterwegs und sehnte sich nach nichts mehr als einem Bett. Aber dann war sie auch schon an der Reihe, schob ihren Pass, das Visum für ihren sogenannten »Arbeitsurlaub«, den Praktikumsvertrag und das Ticket für den Rückflug in einem halben Jahr über den Tresen. Eine freundliche Frau in einer hellblauen Uniformbluse sah sich alles in Ruhe an und winkte sie schließlich weiter. Nun noch ihr Gepäck holen, die Arrival Card beim Zoll vorlegen und dann wäre sie endlich so richtig in Neuseeland angekommen.

Auf dem Weg zum Gepäckband erhaschte sie durch eine große Glasscheibe einen ersten Blick in die Ankunftshalle. Hoffentlich war Tom Jenkins wirklich da – ihr Ansprechpartner, der sie abholen und zum Projekt bringen würde. Dank Tom hatte sie ein Skype-Gespräch mit Martha geführt, der Leiterin des Projektes Whangarei Child Care. Sie war Alwa sehr jung vorgekommen, sprühte aber vor Tatendrang und Energie. Sie hatte gesagt, sie freue sich sehr auf Alwa, und betont, wie willkommen ihre Mitarbeit sei. Wegen des Englisch solle sie sich keine Sorgen machen, da würde sie schon reinwachsen. Alwa bekäme ein eigenes Zimmer und natürlich würde ihr ausreichend Freizeit zur Verfügung stehen – beispielsweise um zum Tauchen nach Poor Knights Island hinauszufahren. Als Alwa später Jella davon erzählte, hatte ihre Schwester zum ersten Mal neidisch gewirkt.

Am Gepäckband herrschte ein schreckliches Getümmel. Jeder gierte danach, so schnell wie möglich seinen Koffer in die Finger zu bekommen, um endlich von hier fortzukommen. Puh, wo blieb nur Alwas riesiger dunkelgrüner Rucksack? Wie lange zog sich das noch? Tom hatte gesagt, er würde sie und einen anderen neuen Praktikanten mit dem Wagen nach Whangarei fahren, was etwa zwei Stunden dauerte. Hoffentlich war das Auto so bequem, dass sie unterwegs ein wenig schlafen konnte. Wobei … sicher war es viel spannender, die Landschaft hinter den Fensterscheiben zu betrachten.

Endlich landete ihr grünes Ungetüm mit einem Scheppern auf dem Band. Sie ging ihm entgegen und griff nach einem der Gurte. Irgendwie kam ihr der Rucksack plötzlich viel leichter vor als beim Einchecken. Das rote Bändchen, das sie ganz oben festgebunden hatte, war offensichtlich abgerissen. Egal, Hauptsache, der Rucksack war da und sie würde schnell durch die Gepäckkontrolle kommen. Sie schulterte das Teil und ging damit hinüber zu der Kontrollstelle, von wo ein Mann in Uniform ihr schon entgegensah.

Sie legte den Rucksack zwischen ihn und sich auf den Tisch, öffnete die obere Packtasche – und erblickte Boxershorts, ein paar dunkle T-Shirts, kurze Jeans und eine riesige Tafel Nussschokolade. Wem immer der Rucksack gehörte – ihr nicht! Verdammt! Das ging ja gleich mal gut los! Sie spürte, wie sich ihr Puls beschleunigte und alle Müdigkeit plötzlich verschwand.

»Oh, Miss, this is not allowed – you have to declare it.« Was war nicht erlaubt und stattdessen zu deklarieren? Natürlich, die Schokolade mit Nüssen, die er ihr mit anklagendem Blick entgegenhielt.

»This is not my backpack« – nicht meiner – waren die einzigen Worte, die ihr auf Anhieb einfielen. Der Officer zog die Augenbrauen hoch und sah sie verständnislos an. Das würde sie an seiner Stelle auch tun! Sie versuchte, ihm irgendwie zu erklären, dass dieser Rucksack hier wie ihrer aussähe, aber nicht ihrer sei. Sie verfluchte sich selbst dafür, dass sie sich in den letzten Wochen nicht mehr mit der englischen Sprache beschäftigt hatte. Immerhin schien er sie jetzt zu verstehen, was jedoch nicht hieß, dass sie ihn verstand, als er antwortete. Er sprach die E und I viel länger, als sie es aus dem Schulunterricht kannte, und an seine Geschwindigkeit musste sie sich auch erst gewöhnen. Am Ende lächelte er sie immerhin an und winkte ihr, ihm zu folgen.

Sie betraten gleich hinter der Kontrollstation ein kleines, schmuckloses Büro, wo ein weiterer Zöllner an einem Schreibtisch etwas in einen Computer eintippte. Der Officer sagte etwas Unverständliches zu seinem Kollegen, wies dann Alwa an, sich zu setzen, und verschwand.

Nachdem der Mann seine Eingaben beendet hatte, wandte er sich Alwa zu. Er wirkte ziemlich griesgrämig und leierte eine Belehrung darüber herunter, dass es verboten sei, Nussschokolade einzuführen und sie jetzt eine Strafe von 200 neuseeländischen Dollar zu zahlen hätte. Alwa wurde es gleichzeitig heiß und kalt.

»Wait!«, rief sie und versuchte erneut zu erklären, dass der Rucksack ihr nicht gehörte. Der Officer sah sie gelangweilt an — als habe er diese Geschichte schon so oft aufgetischt bekommen, dass sie ihm zu den Ohren herauskam. Alwa griff einfach nach dem Rucksack und wollte eine der Männerunterhosen herauszerren, aber ihr Gegenüber zog das Gepäckstück weg. Na toll! Warum sollte sie bestraft werden, wo sie gar nichts verbrochen hatte?

»Zahlen Sie bar oder mit Kreditkarte?«, fragte der Mann sie nun.

»Das ist nicht mein Rucksack«, wiederholte Alwa und verschränkte die Arme vor der Brust. Dann würde sie eben so lange hier sitzen bleiben, bis er einsichtig wurde. Sie betete, dass Tom Jenkins auf sie wartete. Was, wenn er einfach wegfuhr? Wenn er dachte, sie sei nicht an Bord gewesen? Ein Schauer lief ihr über den Rücken bei der Vorstellung, sich ganz allein zu dem Projekt durchzuschlagen.

»Lady?«, riss der Officer sie aus ihren Überlegungen. »Ich warte. Ich habe Zeit.«

»Ich auch«, sagte Alwa trotzig und versuchte, seinem Blick nicht auszuweichen. »Außerdem gebe ich gleich eine … eine …« Verdammt! Was hieß bloß »Vermisstenanzeige« auf Englisch? Sie stotterte und suchte nach Worten, aber der Officer zog nur die Augenbrauen hoch und sah sie verständnislos an. Himmel, wie sollte sie ihm klarmachen, dass dies nicht ihr Gepäck war, wenn er es sich gar nicht anschaute. Ihr schauderte, als sie begriff, dass vielleicht gerade irgendwer mit ihrem Rucksack aus dem Flughafengebäude rausschlenderte, weil niemand bemerkt hatte, dass es der falsche war. Was war sie aber auch so blöd gewesen, den erstbesten Rucksack zu nehmen!

»Ah, da ist er ja!«, rief in diesem Moment jemand in einem etwas merkwürdig klingenden Englisch von der Tür. Alwa sah auf und entdeckte einen jungen Typ mit roten Locken, die zu einem Zopf gebändigt waren. Im Flugzeug war er Alwa nicht aufgefallen. Neben ihm stand derselbe Zollinspekteur, der Alwa hierhergebracht hatte.

»Mein Rucksack! Das ist er!« Der Rothaarige trug auf dem Rücken das identische Gepäckstück, an dessen Griff Alwas rotes Bändchen leuchtete.

»Sehen Sie!« Alwa sprang auf. »Das ist meiner! Ich habe auf dem Gepäckdings den falschen erwischt.«

Endlich ließ sich der unfreundliche Officer dazu herab, Alwas angeblichen Rucksack doch etwas näher zu inspizieren. Er zog wie sein Kollege vorhin eine Männerunterhose hervor und sah zwischen Alwa und dem jungen Typ hin und her.

»Das sind meine«, erklärte dieser, riss dem Zöllner die Boxershorts aus der Hand und stopfte sie zurück.

»Und die hier dann also auch?«, fragte der Officer und hielt die Schokoladentafel in die Höhe.

»Ja«, brummte der Angesprochene und sah zu Boden.

»Das weiß man doch, dass man so was nicht einführen darf«, sagte Alwa, ehe sie darüber nachdenken konnte, ob dies klug war.

»Thanks!«, antwortete der junge Mann und schob auf Deutsch nach: »Klugscheißerin!«

»Gern geschehen«, sagte Alwa spitz, ebenfalls auf Deutsch. Der Typ sah sie erschrocken an.

»Sorry, ich dachte, du bist aus … keine Ahnung … mir auch egal. Hauptsache, ich bekomme meinen Anschlussflug nach Christchurch.«

»An mir soll’s nicht liegen«, sagte Alwa und hob abwehrend die Hände.

»Dann hättest du vielleicht nicht meinen Rucksack mitnehmen sollen, oder?«

Ob er aus der Schweiz kam? Dem Dialekt nach würde das passen.

»Es tut mir leid, es war eine Verwechslung«, lenkte Alwa ein. »Aber für die Schokolade hätten sie dich so oder so drangekriegt.«

»Ich wollte die ja anmelden, jetzt habe ich natürlich keine Chance mehr dazu, oder? Vielen Dank auch!«

»Wait, wait, wait«, schaltete sich der Officer ein. »So, Miss, wenn der Rucksack dort Ihrer ist – dann gehen Sie damit bitte zurück zu meinem Kollegen. Sie bekommen Ihre Stempel und können einreisen.«

Alwa nickte, griff nach ihrem Rucksack, dem richtigen, dem mit dem roten Bändel, und entschuldigte sich ein weiteres Mal.

»Bye«, sagte sie leise und ging hinaus.

»Und jetzt zu Ihnen«, hörte sie den Officer noch sagen.

Puh, was für ein peinlicher Einstand! Schnell verließ sie das Büro. Hoffentlich wartete dieser Tom auf sie.

Lektion 2: Sei flexibel!

 keepcalm_Alwa

AUCKLAND, NEW ZEALAND

Eingereist! Hurra! In der Ankunftshalle steht ein riesiges geschnitztes Tor mit so Maori-Masken. Sind diese herausquellenden Augen und die langen Zungen nicht gruselig? Aber wie das geschnitzt ist … einfach nur wow!

#KiaOra #Airport_Auckland #Schnitzerei
#Welcome_to_Kiwi_Country #aufgeregt

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SAMSTAG, 13.10.

Abgesehen vom Eingangstor im Maori-Stil wirkte die Ankunftshalle wie viele andere auf der Welt. Neben Schaltern diverser Autovermietungsagenturen gab es ein paar Self-Service-Cafés und den obligatorischen McDonalds. Alles keine lohnenswerten Motive für einen Instagram-Post. Immerhin entdeckte Alwa die riesige Statue eines Kriegers mit Helm und Schwert, der direkt aus einem Herr-der-Ringe-Film hierher gesprungen zu sein schien. Nicht berühren, stand daran. Aus Mittelerde ausgeliehen. Okay, das war wohl echter Kiwi-Humor. Ein Foto davon würde sie später auf Instagram posten oder in ihrem Blog unterbringen. Schon jetzt hatte sie den Eindruck, dass es ihr mehr Spaß machen würde, im Vorbeigehen ein paar Impressionen auf ihren Instagram-Account zu stellen, als lange Texte für den Blog zu verfassen.

Von einheimischen Kiwis – sie hatte schon im Reiseführer gelesen, dass sich die Bewohner gerne nach dem nur hier lebenden gleichnamigen Vogel so bezeichneten – war nicht viel zu sehen. Die Ankunftshalle lag an diesem frühen Morgen recht verlassen da. Ein paar Reisende mit Koffer-Trolleys, wenige Wartende auf den Sitzreihen direkt vor ihr. Einen einzelnen Typ mit einem Schild, auf dem Alwa Pistor stand, konnte sie nicht entdecken. Okay, vielleicht hatte er kein Schild dabei. Sie sah sich demonstrativ suchend um, aber außer einem mittelalten Mann, der eine gestresst wirkende Frau und drei kleinere Kinder bei sich hatte, reagierte niemand auf ihren Blick.

Ob Tom draußen am Auto wartete? Auf Toilette war? Oder mit dem anderen Praktikanten einen Kaffee holte? Hoffentlich würde sie diesen mögen. Sie wusste nicht, auf wen sie sich einstellen musste, dazu hatte ihr Tom nichts gesagt. Woher ihr neuer Kollege wohl kam? Alwa freute sich darauf, möglichst viele Menschen aus verschiedensten Ländern kennenzulernen – wobei ihr im Moment gereicht hätte, einen einzigen kennenzulernen. Aber von jemandem, der Tom sein könnte, fehlte jede Spur. Geduld, Alwa, ermahnte sie sich. Hab Geduld! Sie sollte sich inzwischen umschauen, wo sie hier irgendwo eine Telefonkarte bekam, damit sie sich bald daheim in Deutschland melden konnte.

»Are you Alwa from Germany?«, sprach sie nun allerdings der Mann mit der gestressten Frau und den drei Kindern an. Er musterte sie von oben bis unten, während seine Frau ihn am Ärmel wegzuziehen versuchte.

»Das kann sie nicht sein, sie war blond«, warf die Frau ein.

»Ähm, yes, that’s my name«, antwortete Alwa auf seine Frage. Woher wusste er, wie sie hieß? Der Mann warf seiner Frau einen triumphierenden Blick zu.

»Großartig! Ich bin Jeff Green – das ist meine Frau Linda.«

»Aber das kann sie nicht sein! Bist du blind?« Diese Linda tat, als sei Alwa kein richtiger Mensch, sondern höchstens ein Hund. »Beim Skypen sah sie doch ganz anders aus. Und ihr Englisch war viel besser.«

»Entschuldigung«, brachte Alwa auf Englisch hervor. »Ich verstehe nicht?«

»Siehst du – sie versteht dich nicht mal.«

»Doch, doch«, unterbrach Alwa schnell. »Ich verstehe schon – nur die Situation nicht. Ich warte hier auf einen gewissen Tom – Tom … Jenkins. Er wollte mich abholen. Ich gehe als Praktikantin in ein Kinderhilfsprojekt. Whangarei Child Care heißt es.«

Das Paar sah sie verständnislos an. Die beiden größeren Kinder, ein Junge und ein Mädchen im Grundschulalter, jagten sich um die Sitzplätze und rempelten dabei immer wieder gegen Gepäckstücke. Jeff und Linda schien das nicht weiter zu stören. Das kleinste – ob es ein Junge oder ein Mädchen war, erkannte Alwa auf die Schnelle nicht – saß Schokoladenkekse mümmelnd in seiner Kinderkarre und wischte sich genüsslich die verklebten Finger an den eigenen dünnen Haaren ab.

»Moment«, sagte Linda, fischte ihr Smartphone aus ihrer Handtasche und wählte eine Nummer. Nach kurzem Warten steckte sie es wieder weg.

»Der Teilnehmer ist nicht bekannt«, sagte sie erschrocken.

»Wie bitte?« Nun wurde auch Jeff etwas blass. »Aber Tom hat uns doch gestern noch eine E-Mail mit den Flugdaten geschickt und geschrieben, alles sei in Ordnung und er würde auf jeden Fall mit zur Abholung kommen.«

»So was Ähnliches hat er mir vor dem Abflug auch mitgeteilt«, bestätigte Alwa. »Allerdings sollte ich mit ihm und einem anderen Praktikanten nach Whangarei gebracht werden. Zu dem Projekt.« Immerhin fielen ihr langsam mehr und mehr englische Vokabeln ein. Und das trotz ihrer Müdigkeit.

»Und du …«, Jeff verdrehte hilflos die Augen, »… du bist kein Au-pair-Mädchen?«

»Nein«, sagte Alwa. Hoffentlich hatte sie nicht zu entrüstet geklungen. Sie griff in ihren kleinen Tagesrucksack und holte den Praktikantenvertrag hervor.

»Schauen Sie, hier steht’s.« Sie wies mit dem Finger auf den Namen des Projektes.

»Aber …«, stotterte Linda. Sie sah aus, als würde ihr gleich der Kragen platzen.

»Haben Sie … ähm«, fiel Alwa ein, »haben Sie auch eine Vermittlungsgebühr bezahlt?« Sie steckte den Vertrag wieder ein.

Linda nickte.

»Allerdings«, stimmte Jeff zu. »Und zwar eine ganz schön üppige. Ich meine, es war uns letztlich egal, weil wir so dringend eine Au-pair benötigen. Wir haben es schon mit vier probiert …«

»Mit fünf«, verbesserte Linda. »Eine war schlimmer als die andere. Unordentlich, faul, frech und wahnsinnig anspruchsvoll. Bei dir … also, ich meine, bei diesem Mädchen auf Skype, hatten wir ein sehr gutes Gefühl. Und du – oder jemand, der sich als du ausgegeben hat, hat uns auch so nette E-Mails geschrieben.«

»Das war ich nicht«, sagte Alwa. »Ich habe dafür mit der Frau telefoniert, die das Projekt leitet. So eine junge blonde. Sie hatte ein … so einen braunen Punkt neben der Lippe.« Sie tippte mit dem Zeigefinger auf eine Stelle über ihrem Mund. Was hieß nur Muttermal auf Englisch?

»Ein birthmark – genau!«, bestätigte Linda. »Was für eine Unverschämtheit! Da hat er irgendwen vor eine Skype-Kamera gesetzt und sie als Au-pair-Mädchen ausgegeben! Verdammt, was sollen wir denn jetzt machen?«

»Mama, ich hab Durst!«, rief die Tochter nun und balancierte dabei über die Sitzplätze, auf denen niemand saß.

»Gleich«, antwortete ihre Mutter.

»Durst!«, schrie der jüngere Bruder und stampfte mit dem Fuß auf.

Entzückende Kinder, fuhr es Alwa durch den Kopf. Sie wusste schon, warum sie sich nicht als Au-pair-Mädchen beworben hatte. Sie hatte überhaupt keine Lust, sich von reicher Leute verwöhntem Nachwuchs tyrannisieren zu lassen.

»Na gut«, erbarmte sich Jeff, fingerte einen Geldschein aus der Hosentasche und drückte ihn dem Mädchen in die Hand. »Aber bring Oli auch was mit, Ruby, hörst du?«

»Dürfen wir Coke?« Die Geschwister rannten schon in Richtung des McDonalds.

»Nicht für Oli!«, rief ihre Mutter hinterher. »Einen Eistee für sie, okay?«

»Na ja«, wandte sich Jeff dann wieder Alwa zu. »Vielleicht springst du einfach ein, bis sich alles geklärt hat. Also, wenn du magst. Die Kinder sind super – du wirst sie lieben.« Wie aufs Stichwort ließ der oder die kleine Oli einen markerschütternden Schrei los. Linda bückte sich und befreite die Schokofinger aus den mittlerweile völlig verklebten Haaren, in denen sie sich verfangen hatten. Doch Oli schrie einfach weiter.

Alwa dachte sofort an Lausi, Mais kleinen Bruder, den sie in den letzten Monaten häufig gesittet hatte und der ungefähr so alt wie Oli war. Allerdings sehr viel niedlicher! Sie bückte sich zu dem Kind hinunter, tanzte mit zwei Fingern auf seinem dicken Ärmchen nach oben und krabbelte es am Ohr. Doch Oli brüllte nur noch lauter.

»Olivia hat gerade eine Phase, in der sie Fremde nicht mag«, sagte Jeff. Alwa sah genau, wie ihm Linda einen Ellenbogen in die Seite rammte. »Na ja, sonst ist sie total friedlich. Unser kleiner Buddha.« Er tätschelte den Kinderkopf und merkte zu spät, dass nun auch er klebrige Finger hatte.

»Also? Wie sieht’s jetzt aus? Willst du den Au-pair-Job?«, fragte Linda und die Schärfe ihres Tons ließ Alwa zusammenzucken. Was sollte sie nur antworten?

Sie hatte eine 30-stündige Reise und einen turbulenten Flug hinter sich, war hundemüde, hungrig und im Begriff, die Nerven zu verlieren. Wenn dieser Tom tatsächlich untergetaucht war, hieß das doch, sie war auf einen üblen Abzocker hereingefallen und stand nun völlig planlos mitten in Neuseeland herum. Ohne Praktikumsplatz, ohne Idee, wie es weiterging, und mit niemandem als Ansprechpartner als diese Familie hier vor sich.

»Bitte!« Der Quengel-Faktor in Lindas Stimme erhöhte sich. »Wir sind nett, wir haben ein schönes Zimmer für dich, es gibt was zu essen und genug Freizeit. Und vielleicht ist ja alles nur ein Missverständnis und dieser Jenkins taucht noch auf. Oder willst du lieber in ein schmutziges, völlig überteuertes Hostel? Übrigens ist Segler-Festival in Auckland und alles ausgebucht.«

»Ähm«, war das Einzige, was Alwa einfiel. Hinter Linda sah sie Ruby und ihren Bruder mit drei riesigen Getränkebechern zurückkommen. Sollte sie ihre Zeit tatsächlich damit zubringen, auf drei Kinder aufzupassen, denen es offensichtlich an nichts fehlte? Sie war in die Welt gezogen, um sie zu einem besseren Ort zu machen, um dort zu helfen, wo Hilfe wirklich gebraucht wurde.

»Weißt du«, sagte nun Jeff. »Ich muss für einige Tage zu einer Konferenz nach Wellington, Linda hat unzählige Termine – wir wissen nicht, was wir tun sollen, wenn du Nein sagst. Du würdest uns wahnsinnig helfen!«

»Willst du auch was?«, fragte der Junge und streckte Alwa seinen Cokebecher entgegen. Er hatte kurze, strubbelige Haare, leuchtend blaue Augen und unzählige Sommersprossen um die kleine Nase.

»Nein danke«, sagte Alwa.

»Das ist Liam«, erklärte Jeff. »Unsere Sportskanone. Wer hätte das gedacht? Er hatte einen Herzfehler, als er auf die Welt kam. Aber inzwischen geht es ihm so gut, dass er sogar Kricket spielt.«

Verdammt, dachte Alwa. Verdammt. Er ist auch nur ein Kind. Er kann nichts dafür, dass er nicht in einem Waisenhaus lebt. Was, wenn er wirklich meine Hilfe braucht?

»Na gut«, sagte sie schließlich. »Wir können es ja mal ausprobieren.«