Ich heiße Lisa und bin neun Jahre alt und wohne in Bullerbü. Mama sagt, dass es Bullerbü heißt, weil wir Kinder hier in Bullerbü so viel herumbullern. Man könne einfach nicht begreifen, wie es sechs Kinder schaffen, einen solchen Lärm zu machen, sagt sie. Es klingt, als ob wir mindestens dreimal so viel Kinder wären. Aber ich glaube, es ist Lasse, der am schlimmsten bullert. Er allein macht so viel Krach wie zehn Jungen, das steht fest. Und Bosse und Ole helfen ihm dabei ganz ordentlich. Britta und Inga und ich sind wenigstens ab und zu mal leise.
Wenn jemand nach Bullerbü will, muss er eine ganze Reihe steiler Abhänge hinauffahren. Denn Bullerbü liegt so hoch. Wenn es noch ein bisschen höher läge, könne man die Sterne mit einer Harke herunterkratzen, sagt Lasse.
Weil wir so hoch wohnen, haben wir eine schöne Aussicht hier in Bullerbü. Obwohl man fast nur eine Menge Wald sieht. Aber es gibt viele Menschen, die finden es schön, eine Menge Wald zu sehen. Und die kommen her. Einmal kam eine sehr feine Dame in einem Auto angefahren, die ein kleines Mädchen bei sich hatte.
»Wir wollen nur die Aussicht sehen«, sagte die feine Dame. Sie trug einen roten Mantel und einen roten Hut und war sehr schön. Ihr Mädchen war auch schön. Es trug ein hellblaues Kleid und eine kleine rote Brosche. Es hieß Monika, das Mädchen, und war ungefähr so groß wie ich.
Mama fragte, ob sie nicht in unseren Garten kommen wollten und ein wenig Kirschsaft trinken. Zu mir sagte Mama, ich solle mit Monika reden. Ich wünschte, Britta und Inga wären da gewesen und hätten mir geholfen. Aber die waren nach Storbü zum Einkaufen gegangen und nicht zu Hause. Lasse und Bosse und Ole waren zu Hause. Aber die redeten natürlich nicht mit Monika. Sie drückten sich nur hinter den Hausecken herum und machten sich lustig. Und manchmal schauten sie hervor und sagten etwas und lachten laut darüber.
»Sind das deine Brüder?«, fragte Monika.
»Nur Lasse und Bosse«, sagte ich. »Ole nicht.«
»Welcher von ihnen ist Ole?«, wollte Monika wissen.
»Das ist der, der so wenig Haare hat«, sagte ich.
Aber gerade da kam Lasse auf seinen Stelzen angelaufen. Bestimmt nur, um sich wichtigzumachen, da bin ich ganz sicher. Lasse hat so hohe Stelzen, dass er durch die Fenster in die oberen Zimmer unseres Hauses hineinsehen kann. Das tat er einmal, als ich oben in meinem Zimmer saß und mit Puppen spielte. Plötzlich steckte Lasse den Kopf durchs Fenster. Er hob die Mütze und sagte:
»Guten Tag, meine Dame, wie geht es Ihnen an diesem schönen Abend?«
Zuerst bekam ich einen furchtbaren Schreck, aber dann lief ich zum Fenster, und da sah ich, dass Lasse auf Stelzen ging. Damals hatte er sie gerade bekommen.
Aber jetzt wollte er sich vor Monika wichtigmachen. Er stakste auf seinen Stelzen in unserem Garten herum und rief Ole und Bosse zu:
»Von hier oben hat man eine großartige Aussicht!«
Agda, unser Hausmädchen, wollte gerade in den Stall gehen, um die Schweine zu füttern. Die große Wanne mit Abwaschwasser hatte sie vor die Küchentür gestellt. Und ob ihr es glaubt oder nicht, Lasse, dieser Tolpatsch, musste dort umkippen. Er warf die Eimer mit dem Schweinefutter um und fiel selbst mitten in das Abwaschwasser.
»Jetzt haben wir auch eine großartige Aussicht«, sagte Bosse und lachte und schlug sich auf die Knie. Und Monika lachte auch.
Lasse schlich sich zum Waschhaus und stellte sich unter einen Wasserhahn, um sauber zu werden. Dann kam er zurück, vollkommen durchnässt, aber genauso frech wie immer. Er drückte das Wasser aus seinem Haar, sah Monika an und sagte:
»Was tut man nicht alles, damit die Leute etwas zu lachen haben!«
Mama schickte ihn ins Haus, er sollte sich trockene Sachen anziehen. Aber er kam schnell wieder heraus. Dann sprachen auch die Jungen mit Monika. Nein, Ole natürlich nicht, denn er mag nicht mit Leuten reden, die er nicht kennt. Aber plötzlich sagte er zu Monika:
»Willst du meine kleine Schwester sehen?«
Und dann lief er auch schon nach Hause und holte Kerstin. Kerstin ist erst eineinhalb Jahre alt. Ole hat sie sehr gern. Und das ist ja kein Wunder, denn Kerstin ist so süß, und sie ist die einzige Schwester, die Ole hat. Ole setzte sie auf Monikas Schoß, und Kerstin riss an Monikas Haaren, sodass einige Haare in ihrem Fäustchen hängen blieben. Aber Monika war deshalb nicht böse. Sie wusste wohl, dass kleine Kinder immer so etwas tun.
Ich stand daneben und sah auf Monikas Brosche. Und dann sagte ich:
»Was für eine schöne Brosche du hast!«
»Willst du sie haben?«, fragte Monika.
Aber das wollte ich gar nicht; ich meine, deshalb hatte ich es nicht gesagt – das mit der schönen Brosche.
Doch Monika nahm die Brosche ab und legte sie mir in die Hand. Und ihre Mama sagte auch, ich solle sie nehmen. Meine Mama sagte natürlich:
»Nein, das geht aber doch nicht …«
Aber ich bekam die Brosche. Sie war voller kleiner roter Perlen, und es war die schönste Brosche, die ich jemals gesehen hatte. Jetzt gehört sie mir. Ich habe sie in einer Schachtel in meiner Kommode.
Nach einer kleinen Weile kamen Britta und Inga aus Storbü zurück. Und als sie das Auto auf dem Weg stehen sahen, rissen sie ordentlich die Augen auf. Es ist so selten, dass ein Auto nach Bullerbü kommt, denn hier hört die Straße auf; übrigens ist sie schmal und macht viele Krümmungen.
Britta und Inga blieben am Zaun stehen und trauten sich nicht zu uns in den Garten, wo Mama und Monikas Mama Saft tranken und wo wir mit Monika redeten. Aber da rief ich ihnen zu:
»Was steht ihr denn so rum und glotzt? Habt ihr noch nie Menschen gesehen?«
Und da kamen sie denn herein und begrüßten Monika, und Monika sagte:
»Wie viele Kinder seid ihr eigentlich in Bullerbü?«
»Sechs und ein halbes«, antwortete Lasse.
Denn er findet, Kerstin ist so klein, dass sie noch nicht als ganzes Kind gerechnet werden kann.
Aber da wurde Ole wütend und sagte:
»Das halbe bist du!«
Wir erzählten Monika, dass Britta und Inga im Nordhof wohnen und Lasse und Bosse und ich im Mittelhof und Ole und Kerstin im Südhof.
»Hier würde ich auch gern wohnen«, sagte Monika.
Als Monikas Mama ihren Kirschsaft ausgetrunken hatte, stand sie auf und setzte sich ins Auto, und da musste Monika natürlich auch gehen. Ihre Mama warf noch einen Blick über die Landschaft und sagte:
»Aber ist es nicht doch ein wenig einsam und eintönig, hier so weit oben im Wald zu wohnen?«
Da sagte Mama: »Wir haben so viel zu tun, dass wir gar keine Zeit haben, darüber nachzudenken!«
Ich fand es von Monikas Mama ein bisschen dumm, so etwas zu sagen. Wir haben es bestimmt nicht einsam und eintönig. Ich finde, wir haben es immer lustig in Bullerbü. Dann fuhr das Auto fort, und Monika winkte uns zu, solange wir sie sehen konnten.
Ich glaube, wir werden Monika wohl nie mehr wiedersehen. Von ihr ist nur noch die Brosche übrig geblieben. Britta und Inga durften jede für eine Weile die Brosche von mir ausleihen.
Später liefen wir zu Großvater, der in dem einen Giebelzimmer im Nordhof wohnt. Er ist Brittas und Ingas Großvater, und er ist fast blind. Aber er möchte so schrecklich gern alles wissen, was in Bullerbü geschieht, und wir mussten ihm von dem Auto und von Monika erzählen. Großvater sagt, wenn es uns Kinder nicht gäbe, würde er niemals etwas erfahren. Denn die Erwachsenen in Bullerbü haben alle zu wenig Zeit, um mit ihm zu reden.
Wir erzählten ihm alles ganz genau. Über das Auto wollte Großvater besonders viel wissen. Und darüber wusste Bosse bis in die kleinste Kleinigkeit Bescheid. Und Großvater durfte meine Brosche in die Hand nehmen. Ich sagte ihm, sie sei ganz mit kleinen roten Perlen besetzt, und da sagte der Großvater, er könne sie sich sehr gut vorstellen, drinnen in seinem Kopf, und die Brosche sei sehr schön. Dann erzählte ich, was Monikas Mama gesagt hatte – dass es vielleicht einsam und eintönig in Bullerbü sei. Und da sagte Großvater:
»Hoho, jaja, wie dumm die Menschen doch sein können!«
Großvater findet nämlich genau wie ich, es ist immer lustig in Bullerbü.
Am lustigsten ist es vielleicht im Frühling. Inga und ich versuchen immer herauszufinden, wann es am lustigsten ist. Inga findet, es ist im Sommer am lustigsten, und ich finde, es ist im Frühling am lustigsten. Und dann natürlich zu Weihnachten – das findet Inga auch.
Nun will ich etwas erzählen, was im Frühling geschah. Wir haben eine ganze Menge Schafe hier in Bullerbü, und die bekommen jedes Jahr Lämmer. Lämmer sind das Niedlichste, was es gibt. Sie sind niedlicher als Kätzchen und junge Hunde und Ferkel. Ich finde, sie sind beinahe noch niedlicher als Kerstin – aber das wage ich nicht zu sagen, wenn Ole in der Nähe ist.
Während der Zeit, in der die Schafe ihre Lämmer bekommen, laufen wir jeden Morgen zum Schafstall, um zu sehen, wie viele Lämmchen in der Nacht hinzugekommen sind. Wenn man die Tür zum Schafstall öffnet, blöken alle Schafe, sosehr sie können. Die Lämmer blöken zart und fein und nicht so dumpf wie die Mutterschafe und die Schafböcke. Fast jedes Mutterschaf bekommt zwei Lämmer.
An einem Sonntagmorgen, als ich in den Schafstall hinunterkam, sah ich ein Lamm tot im Stroh liegen. Ich lief sofort zu Papa und erzählte es ihm. Und er kam gleich mit und sah nach, warum das Lamm tot war. Es war gestorben, weil das Mutterschaf keine Milch im Euter gehabt hatte. Das arme, arme Lamm! Es hatte sterben müssen, weil es nichts zu essen bekommen hatte. Ich setzte mich auf die Schwelle zum Schafstall und weinte. Bald kam auch Inga und erfuhr alles, und da weinte sie auch.
»Ich will nicht, dass Lämmer sterben müssen!«, sagte ich zu Papa.
»Das will doch niemand«, sagte Papa. »Aber hier ist noch eins, das wohl sterben muss.«
Er zeigte auf ein kleines Lamm, das er im Arm hielt und das ganz elend aussah. Es war der Bruder des toten Lamms. Es konnte natürlich auch keine Milch von seiner Mutter bekommen. Und Milch ist das Einzige, was neugeborene Lämmchen essen können. Deshalb sagte Papa, dass wir das Brüderchen des toten Lamms schlachten müssten, damit es nicht verhungern müsse. Als wir das hörten, weinten Inga und ich noch mehr. Wir weinten ganz schrecklich.
»Ich will nicht, dass Lämmer sterben müssen!«, schrie ich und warf mich auf die Erde.
Da hob Papa mich auf und sagte: »Nicht weinen, Lisa!« Und dann sagte er: »Du könntest ja versuchen, das kleine Lamm mit der Flasche aufzuziehen. Genau wie ein Wickelkind.«
Oh, wie wurde ich froh – ich glaube nicht, dass ich jemals so froh gewesen bin. Ich hatte gar nicht gewusst, dass man Lämmer füttern kann wie Wickelkinder. Papa sagte, ich solle nicht allzu sicher sein, dass es mir gelingen würde. Er glaubte, das Lamm würde trotzdem sterben, aber wir könnten es ja einmal versuchen.
Inga und ich liefen zu Tante Lisa. Sie gab uns eine Flasche mit einem Sauger. Daraus hatte Kerstin ihre Milch bekommen, als sie noch ganz klein gewesen war. Dann liefen wir wieder zu Papa.
»Papa, könnten wir dem armen Lämmchen nicht etwas Sahne zu trinken geben?«, fragte ich.
Aber da sagte Papa, wenn ich dem Lamm Sahne gäbe, würde es krank werden. Sein Magen könnte nur Milch vertragen, die mit Wasser verdünnt sei. Papa half mir, die Milch zu verdünnen, und wir wärmten die Flasche in heißem Wasser. Dann steckte ich dem Lamm den Sauger ins Mäulchen. Und, stellt euch vor, es begann sofort zu saugen. Man konnte sehen, wie hungrig es war.
»Jaja, nun bist du die Pflegemutter von diesem Lammkind«, sagte Papa. »Aber es muss von früh bis spät zu essen bekommen. Du darfst also nicht die Lust verlieren.«
Inga sagte, wenn ich die Lust verlieren sollte, brauchte ich ihr nur Bescheid zu sagen, sie würde das Lamm sehr gern für mich füttern. Aber ich sagte:
»Haha, du glaubst doch wohl nicht, dass man die Lust verliert, Lämmchen zu füttern?«
Ich taufte das Lamm Pontus, und Papa sagte, es sei nun mein eigenes Lamm. Es war ein Glück, dass alles geklärt war, bevor Lasse und Bosse an diesem Sonntagmorgen aufwachten, sonst hätte es bestimmt Krach gegeben wegen Pontus, glaube ich.
»Dass man sich an einem Sonntag nicht einmal richtig ausschlafen kann, ohne dass Lisa gleich ein Lamm bekommt«, sagte Lasse und war ein bisschen böse, weil nicht er es gewesen war, der Pontus bekommen hatte.
In der ersten Zeit waren immer alle Kinder aus Bullerbü dabei, wenn ich Pontus fütterte. Aber bald verloren sie alle die Lust.
Es ist eigentlich merkwürdig, wie hungrig Lämmer sind. Mir scheint, sie sind fast immer hungrig. Jeden Morgen, bevor ich zur Schule ging, rannte ich zum Schafstall und gab Pontus zu trinken. Sobald er mich sah, kam er angelaufen und wackelte mit seinem kleinen Stummelschwanz und blökte ganz süß. Er war vollkommen weiß, aber auf der Nase hatte er einen kleinen schwarzen Fleck; man konnte ihn also gut von den anderen Lämmern unterscheiden. Agda gab ihm die Flasche, wenn ich in der Schule war. Aber sobald ich nach Hause kam, musste ich ihm eine neue Mahlzeit geben. Und spät am Abend musste Pontus wieder etwas haben. Einmal bat ich Inga, Pontus zu füttern, aber da sagte sie:
»Morgen! Heute habe ich keine Zeit.«
Aber ich hatte Papa ja versprochen, Pontus zu füttern und die Lust nicht zu verlieren – und das tat ich auch nicht. Denn ich hatte Pontus schrecklich gern. Am liebsten mochte ich ihn, weil er sich so freute, wenn er mich sah. Pontus dachte sicher, ich sei seine richtige Mama. Ich fragte Lasse und Bosse, ob sie nicht auch glaubten, dass Pontus glaube, ich sei seine richtige Mama, und da sagte Lasse:
»Sicher glaubt er das. Du siehst doch genauso aus wie ein Schaf.«
Eines schönen Tages sagte Papa zu mir, ich müsse Pontus beibringen, seine Milch aus einer Schüssel zu trinken. Er könne ja schließlich nicht aus der Flasche trinken, bis er ein großer Schafbock sei.
Armer Pontus! Er konnte einfach nicht begreifen, warum ich ihm plötzlich eine Schüssel vor die Nase setzte. Er wusste nicht, wie er es anstellen sollte zu trinken. Er schnupperte an mir herum, suchte die Flasche und blökte kläglich.
Bosse war dabei und sah zu.