Carla hat eine besondere Gabe: Sie kann schweben, ohne dass sie dabei jemand sieht. Sie genießt das, wie die Delphine im städtischen Aquarium das Schwimmen genießen. Sie tanzt in der Luft vor Freude oder zieht sich in sich selbst zurück, wenn sie am Leben leidet. Grund dazu hat sie, denn sie liebt Rico, der ihre Nähe sucht, aber eine andere Frau liebt. Warum muss Liebe immer so schmerzvoll sein?, denkt Carla. Warum kann es nicht eine Liebe geben, die einen umgibt wie die Luft zum Atmen? Warum kann nicht alles von dieser Liebe erfüllt sein?

Eines Tages macht sich Carla auf eine Reise, die ihr ganzes Leben verändern wird. Unterwegs steht ihr ein rätselhafter Freund zur Seite, Zufälle, Begegnungen und mysteriöse Hinweise lenken ihre Schritte. Sie gelangt in die blaue Stadt Neelapore, reist auf der Teestraße, schließt sich Pilgern an, findet in einem Bergkloster Zuflucht und erreicht schließlich den Fluss der Wahrheit, von dem sie nur weiß, dass sie in ihm schwimmen soll.

Rainer Gross, Jahrgang 1962, studierte Philosophie, Literaturwissenschaft und Theologie. Er lebt mit seiner Frau als freier Schriftsteller in Reutlingen.

Bisher veröffentlicht: Grafeneck (Pendragon 2007, Glauser-Debüt-Preis 2008); Weiße Nächte (Pendragon 2008); Kettenacker (Pendragon 2011); Kelterblut (Europa 2012).

Bei BoD u.a. erschienen:

Die Welt meiner Schwestern

Das Glücksversprechen

Yüomo

Ich suche einen Menschen

Haut

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© 2015 Rainer Gross

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

Layout und Umschlaggestaltung: Rainer Gross

Umschlagfoto: © Depositphotos.com/bluehand

Alle Rechte vorbehalten

ISBN: 9783739290980

Für Mirjam, Mitträumerin

Inhaltsverzeichnis

Die Gabe

Carla entdeckte ihre Gabe im Alter von sieben Jahren. Es war an einem Donnerstag, und sie holte für ihre Mutter Milch und Backpapier im Supermarkt nebenan. Die Menschen drängten sich, schoben und stießen. Ein Gestrüpp von Beinen, ein Dickicht von Schuhen. Sie langte auf die Kasse hinauf und legte der Kassiererin den Schein in die ausgestreckte Hand. Es summte in ihren Ohren. Draußen fuhr eine Ambulanz vorbei. Das blaue Licht flackerte auf den Scheiben. Carla wandte den Kopf. Plötzlich war die Angst da. Sie kam wie eine Welle. Carla machte sich klein, rollte sich zu einem Ball zusammen. Sie spürte das klebrige Leder ihrer Lackschuhe. Dann begann sie zu schweben. Die Woge traf sie und wirbelte sie herum. Die Leute merkten nichts. In der Hand hielt sie das Wechselgeld, krampfte die Finger darum, als hielte sie ihre Seele fest. Sie trieb durch den Supermarkt, schlug Purzelbäume über den Tütensuppen, schwebte hinauf zu den Neonleuchten und sah das feine Flackern.

Die Angst war weiter gezogen, fern hörte sie sie rauschen. Wie das Meer. Eine Brandung aus Glückseligkeit. Hinter der Angst kam die Glückseligkeit. Gläserne Flachwasser, die in Bögen auf den warmen Sand der Geborgenheit spülten. Sie streckte sich und fand keinen Halt, kugelte umher, spürte die Leere unter ihren Füßen. Sie hielt still und hing an unsichtbaren Fäden in der Luft.

Die Luft war leicht und heiter und kitzelte sie. Ihre Knochen waren luftgefüllt und ihr Kopf ein Ballon. Sie bewegte die Hände und die Füße, wie sie da so hing, und lachte. Niemand hörte sie. Sie guckte einem alten Mann auf die Glatze und einer Frau in die Locken. Niemand bemerkte sie.

Sie schwebte zum Ausgang und setzte sich behutsam auf dem Asphalt ab. Es hatte zu regnen begonnen. In der Pfütze am Bordstein sah sie langsam ihre Schuhe ankommen und Kreise bilden. Fast zärtlich. Und da begriff sie, dass es in der Welt eine ganz große Liebe geben musste.

Später arbeitete sie in einer Drogerie und verkaufte Deodorants und Babynahrung. Manchmal musste sie in die zweite Etage und verkaufte CDs und Strickwolle. Das künstliche Licht den ganzen Tag, von morgens in der Dämmerung bis es draußen blau wurde und die Stadt von tausend Fenstern leuchtete, ließ sie durchsichtig werden.

Manchmal sah sie im Spiegel die Dinge hinter ihr durchschimmern. Dann rollte sie sich zu einem Ball zusammen und schwebte hinaus auf die Straße. Sie streckte sich und begann zu tanzen. Wie die Delphine im städtischen Aquarium im Wasser tanzten. Sie ruderte mit den Beinen, ließ die Arme kreisen, drehte sich kopfüber und dann wieder rückwärts, bis die Leichtigkeit zurückkam.

Sie machte Pirouetten und der Saum ihres weißen Kittels hob sich. Sie wünschte sich ein Kleid aus Seide, mitternachtsblauer Seide, das über ihren Körper floss wie Wasser, und in zierlichen Schuhen würde sie in der Luft tanzen für irgendjemanden, der zuschaute. Doch niemand bemerkte sie.

Vorsichtig ließ sie sich zu Boden sinken und probierte den festen Stand wie Schuhe, ob sie noch passen.

Im Aquarium traf sie Rico. Sie standen vor den blau leuchtenden Scheiben und sahen die Fische treiben und tanzen.

„Das kann ich auch“, sagte Carla lachend.

„Das glaube ich nicht“, sagte Rico und lachte auch.

„Bist du oft hier?“

„Zum ersten Mal.“

„Ich komme jeden Sonntag. Ich sehe den Delphinen zu. Sie fliegen.“

„Du hast recht. Das Wasser ist ihr Element. Sie bewegen sich darin, als gäbe es nichts anderes.“

„Das Leben ist ihr Element. Sie schwimmen in der Freude. Sie träumen. Ich kann ihre Träume verstehen.“

Rico lachte und neckte sie. Sie gefiel ihm. Ein Mädchen wie sie hatte er noch nie getroffen. Aber als sie im Eiscafé saßen, musste er ihr ein Geständnis machen.

„Aber wenn du unglücklich bist, dann musst du sie verlassen“, sagte Carla und ließ nicht zu, dass seine Haut und seine Hände und sein Geruch etwas mit ihr zu tun hatten. Sie wollte ihm zuhören. Sie wollte für ihn da sein.

„Ich kann sie nicht verlassen.“

„Du willst es nicht.“

„Ich kann nicht. Ich will nicht. Das ist dasselbe.“

„Aber sie liebt dich nicht.“

„Doch, sie liebt mich. Aber nicht auf die Art, wie ich sie liebe. Sie braucht mich.“

„Du brauchst sie.“

Rico klirrte den Löffel gegen das Glas des Eisbechers. Carla zog ein Knie auf ihren Stuhl und umarmte es.

„Ich kann ohne sie nicht leben.“

„Und wenn jemand kommt, der dich mehr liebt als sie?“

„Das kann ich mir nicht vorstellen.“

Carla zog das zweite Bein an und schlang beide Arme darum.

„Du glaubst es nicht.“

„Was?“

„Dass es eine ganz große Liebe in der Welt gibt.“

„Liebe ist wie Säure. Nein, ich will mich an dem festhalten, was ich habe.“

„Aber du hast nichts.“

„Ich habe meine Gefühle für sie. Meine Sehnsucht nach ihr. Ist das nichts?“

Carla begann zu schweben, in ihren Ohren summte es. Sie faltete sich in der Luft auseinander und reichte zu ihm hinüber. Sie strich eine Strähne hinter sein Ohr. Sie streifte mit ihrem Rock seine Haare. Sie umkreiste ihn sacht und stieg dann zur Decke des Cafés, um ihn von oben zu sehen.

Sie hörte Musik. Das kam vom Klirren des Löffels, den er gegen das Glas schlug. Das Klirren wurde zum Klang einer Harfe. Nein, einer Zither. Oder einer Flöte. Kithara. Aulós. Der Pfeifer stand am Tor zur Dämmerung. Der Gesang wehte über ein Wasser. Spiegelungen. Ein Netz aus Glanz. Ein Lotusschiff. Jemand springt von der Spitze eines Turms ins Wasser. Licht schäumt auf. Das Wasser klärt. Zurück zum Fluss, flüstert der Gesang. Lösch die Lampe. Schließ die Augen. Lass los. Sie schließt die Augen und lässt sich treiben. Eine Sonne liegt auf ihren Lidern. Ihr Herz öffnet sich mit zarten, schimmernden Blättern aus Pergament und entlässt den Duft der Wahrheit. Ja, denkt sie und lächelt. Bring mich zurück zum Fluss. Fluss der Weisheit. Fluss der Wahrheit. Heiliger Fluss. Sieh mir ins Herz. Sieh mir auf den Grund. Blakendes Weiß, eine blinde Fackel. Mein Lichtsinn erwacht und regt sich. Zittert der ersten Berührung entgegen. Wiegt sich in den Wellenmustern. Erkenne die Seele. Sie geht nicht fehl.

Als Rico gegangen war, wusste sie, dass er sie anrufen würde. Er würde spätabends zu ihr kommen, verzweifelt und wirr. Er würde einen Tee bekommen und ein Kissen, das er gegen die Wand werfen konnte. Sie würde diese Wand sein. Er würde gegen sie laufen und sich den Kopf einrennen, sie würde unnachgiebig sein. Sie würde stehen. Sie würde immer für ihn da sein.

Er würde sie brauchen. Sie würde sein einziger Freund sein. Sie würde ihm einen Ort schaffen, an dem er stranden konnte. Sie würde seinen Atemzügen lauschen, zuerst den kurzen, hektischen, den stoßweise, verzweifelten, dann den zögernden, tastenden, dann den langen, sich lösenden, dem zufriedenen Ausatmen, wenn sie seinen Kopf im Schoß hielte und er einschliefe.

Er würde Ruhe bei ihr finden. Aber er würde sie nicht lieben. Er würde immer zu der Anderen zurückkehren.

Sie trafen sich nicht mehr im Aquarium. Er hasste den Ort. Vorher hatte es nur die Liebe gegeben zu der anderen Frau, aber jetzt war er auseinander gerissen und wusste nicht mehr, was er wollte. Er erlebte mit Carla einen Frieden, den er nicht gekannt hatte. Sie hörte ihm zu, erriet seine Gedanken, sorgte für ihn. Sie hörten gemeinsam Musik, gingen miteinander ins Kino, redeten, bis es draußen vor dem Fenster hell wurde und sie in die Drogerie musste. Wenn er da war, schwebte sie nicht mehr. Und er sah sie immer eindringlicher an, erkannte auf ihrem Körper Länder aus Licht und Schatten, von denen er nicht einmal geträumt hatte.

Er staunte.

Dass das möglich war.

Er nannte sie eine Zauberin und Fee, er wollte glauben, dass die Liebe ein Schicksal war und dass höhere Mächte sie wollten oder verhinderten. Und er wollte glauben, dass es wieder ein Glück für ihn geben konnte. Aber zugleich wollte er treu sein und seine Gefühle für die andere Frau nicht aufgeben. Er redete davon, wie vertraut ihm ihre Nähe war und wie sehr sie ihn brauchte. Er war völlig verzweifelt, weinte und schrie, wenn er sich zwingen wollte, sie aufzugeben. Wochenlang sah er diese Frau nicht mehr und verbrachte jeden Abend mit Carla, aber dann kam ein Wochenende, wo sie ihn anrief und wollte, dass er kam. Und nachdem er bei ihr gewesen war, redete er davon, dass er Carla loslassen müsste oder dass er die andere Frau verlassen müsste oder dass er allein bleiben müsste sein Leben lang, und dann schlug er die Tür und verschwand für Tage. Nein, sie trafen sich nicht mehr im Aquarium.

Der Traum der Delphine

Carla aber ging oft hin. Sie begann, regelmäßig ihre Gabe anzuwenden. Bei der Arbeit, nach den seltener werdenden Treffen mit Rico, ja schon wenn sie durch die Straßen ging und den Menschen auswich, die ihr unentwegt entgegen kamen. Sie spürte, wie ihre Füße auf Luft traten, wie es ihr leicht wurde und der Schritt beschwingter. Wer genau hinschauen würde, könnte es sehen: dass die Sohlen ihrer Schuhe den Boden nicht mehr berührten.