Ich bedanke mich bei Prof. Dr. Hartmut Zinser (Berlin) und Prof. Dr. Gudula Linck (Kiel), die mich bei dieser wissenschaftlichen Arbeit begleitet haben.

Copyright Andreas A. Noll, München 2016

literatur@andreasnoll.de

Herstellung und Verlag:

BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 978-3-7412-3158-2

Inhalt

Einführung

Fragestellungen

Unter den Religionen gilt der Daoismus als weitgehend „frauenfreundlich“, während der Konfuzianismus (neben Hinduismus und Judentum) als Hort männlicher Dominanz betrachtet wird.1 Beide Religionen bzw. Philosophien bestimmen neben - und miteinander– neben dem Buddhismus seit der Zeitenwende - die Weltsicht „der Chinesen“ seit 2400 Jahren. Sie haben weitgehend unbeeinflusst vom abendländischen Christentum Denken und Kultur soweit prägen können, dass auch im 20. und 21. Jahrhundert nach Ende des Kaiserreichs die Spuren dieser Denkweisen wie beispielsweise in den immer wiederkehrenden Begeisterungswellen für den Konfuzius unverkennbar geblieben sind. Auch wenn man sich die Sozialethik der asiatischen Staaten in Differenzierung zu der des Westens näher betrachtet, kommt man m. E. nicht umhin die prägenden Gedanken von Laozi und Konfuzius einzubeziehen.

Zu dieser Prägung gehören auch die Vorstellungen über die sozialen Rollen der Geschlechter (Gender). Die besondere Brisanz ergibt sich nun aus dem unterstellten Kontrast der Konzepte von Konfuzianismus und Daoismus: Ersterer definierte die Rollen und Bilder von Frauen und Männern in der Gesellschaft, abgeleitet von Ahnenverehrung und einem weitgehend patrilinear abgeleiteten Machtgefüge. Letzterer hingegen strebte nach Integration der Polaritäten und somit nach ihrer individuellen Auflösung, meist in religiösen Exklaven – und doch in heftiger Interaktion mit Herrschafts- und Gesellschaftsstrukturen. Will man nun diese Interaktionen in Bezug auf die Genderproblematik, also die Geschlechterrollen näher untersuchen, so ist eine Einschränkung des Forschungsfeldes unabdingbar. Die vorliegende Arbeit, vor allem der sehr umfangreich geratene Überblick „Daoismus im historischen Kontext“ gibt den aktuellen Forschungsstand auf dem Gebiet der Genderforschung im Zusammenhang vor allem mit dem religiösen Daoismus wieder.

„Gender“ bezeichnet Weiblichkeit und Männlichkeit als Ergebnis historischer - und somit relativer, zeitgebundener Konstruktionen. Der Begriff „Geschlecht“ als differenzierenden Terminus der Wahrnehmung von Frauen/Männern geht von ihrer biologisch determinierten Rolle aus - unabhängig von ihrer Performance im sozio-kulturellen Kontext. Inzwischen wird diese begriffliche Trennung aber auch in Frage gestellt – da auch eine ahistorisch als „natürlich“ 2 verstandene scheinbar authentische Wahrnehmung sich aus soziokultureller Geschlechtszuweisung ergibt:3

Wenn Weiblichkeit und Männlichkeit historisiert werden, ist an jede Kultur und an jede Epoche immer wieder neu die Frage zu stellen, was als Geschlechtsunterschied wahrgenommen und welche Bedeutung diesen Unterschieden zugeschrieben wird.4

Somit stand ich in dieser Arbeit vor dem Problem der Ein- und Ausgrenzung. Der soziokulturelle Zusammenhang war darzustellen, denn aus diesem ergibt sich vor allem der gesellschaftliche Status der Geschlechter. Der historische Kontext bewirkte auch eine Vielzahl von Entwicklungen durch Einflüsse anderer Kulturen und Religionen– im vorliegendem Zusammenhang ausschlaggebend durch Buddhismus/Indien-Tibet-Mongolei und seit der Späten Kaiserzeit durch Christentum/Europa. Eine Beschränkung auf die Kaiserzeit Chinas war nach dem Blick auf die Zeit des frühen chinesischen Staates in den vorchristlichen Jahrhunderten nötig– um den Rahmen dieser Arbeit nicht zu sprengen. Die Republikzeit und die Zeit nach 1949 birgt eine zu große Fülle von zusätzlichen Aspekten und Beeinflussungen. Damit bewegt sich der historische Kontext von der Zeitenwende um Christi Geburt bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts.

Das umfassende Postulat der chinesischen, durch Konfuzianismus und Daoismus geprägten Weltsicht war das Erreichen der Harmonie zwischen dem Einzelnen und der Welt. Die Vorstellung der Polaritäten Yin und Yang, deren wechselseitige ursprünglich nichthierarchische Beeinflussung und Verschmelzung zum „Großen Einen“ blieb für 3 Jahrtausende von zentraler Bedeutung. Mann und Frau werden a priori als gleichwertig gesehen, aber spielen arbeitsteilig verschiedene Rollen. Jeder Mensch für sich wird in sich harmonisch, wenn er einen Teil der anderen Polarität in sich integriert. Männer benötigen den weiblichen, Frauen den männlichen Daseinsaspekt, um ganz zu sein. Diese Vorstellung spiegelt die Einheit des mythischen Geschwister-/Ehepaars Fuxi und Nügua (siehe Frühzeit) wider. Erst ein Mensch, der den anderen Daseinsaspekt in sich integrieren konnte, galt als perfekt. Die Männer konnten dies bewerkstelligen, aber den Frauen war der Zugang zum Äußeren, der Welt der Männer meist verschlossen und somit das Erreichen des notwendigen komplementären Teils zur Ganzheit/Perfektion versagt.5

Uferlos erschien mir eine umfassende Erörterung der Genderfrage im Verlauf der chinesischen Geschichte. Die Beschränkung liegt hier vor allem in der Untersuchung der Rolle der Frauen sowohl in der Gesellschaft als auch im Rahmen des Daoismus. Hieraus ergeben sich zahlreiche kontrastive Überlegungen zur Genderproblematik.

Die Fragestellung ist äußerst komplex, zumal innerhalb einer Gesellschaft, einer Epoche, ja einer Schicht mehrere, einander widersprechende Leitbilder vorgegeben sein können: Rollenmuster, die mehr die Gleichheit der Geschlechter betonen, Idealvorstellungen, die die Geschlechter als komplementär begreifen oder auch dichotomische Konzepte, wobei der Gegensatz in unterschiedlichen Zeiten des individuellen Lebenszyklus im einen Fall zugespitzter, im anderen abgemildert sein kann.6

Diese Konstellationen betreffen vielfältige Prägungen, die sich in diesem Rollenbild subsumieren. Es handelt sich um grundverschiedene, wechselnde Identitäten7, Polaritäten und Verpflichtungen der Frau, die gerade unter den Vorstellungen von Ahnenkult und Konfuzianismus, welche die Altershierarchie betonten, keineswegs allein durch ihre Genderzuordnung geprägt waren:

To most early Chinese, “woman“ was not just a static term imbedded in a fixed gender dichotomy. A woman was a person who played female roles in family and ceremonial life. Most fundamentalty, womanhood was something performative, not essential. lt was acted out in daily life. One was not just born a woman by having a certain biology. One became a complete and successful woman only after assuming a wide range of positive female roles. Womanhood was not a fixed or static identity. To all but the most abstract thinkers, femininity lacked the timelessness of an abstract metaphysical element. A woman was a successful social actor. She played out her gender for all to see. In acting out a range of female roles, she created herself as a complete woman8.

Die Identität der Geschlechter im Kontext des Daoismus und der Geschichte ergab sich jeweils aus der Abgrenzung von der konfuzianischen Gesellschaft, bzw. deren Verlassen und der Möglichkeit im Rahmen der religiösen Gemeinschaften etwas Neues zu entwickeln. Den alten Verpflichtungen und Bindungen (Ahnen, Verwandte, Abstammung, auch soziale Bindungen) waren die Frauen (und Männer) entkommen, um im neuen Umfeld einen neuen Zusammenhang zu finden. Ein in sich konsistentes Glaubenssystem, Texte und Rituale boten den geeigneten, im Verlauf der Geschichte variierenden Rahmen dafür.9

Die geschlechtliche war der sozialen und der religiösen Identität in unterschiedlichem Maße beigeordnet10 - und so definierte sich das Selbstverständnis von Frauen wie Männern vor allem als Performance11 auf verschiedenen Bühnen, Feldern und Kontexten. Die Rollen der Geschlechter waren auch in China determiniert durch ökonomische, regionale, traditionelle und familiäre Notwendigkeiten:

In der Gesellschaft

In der Religion

Die Rollen der Männer habe ich, wie schonangedeutet, weitgehend ausschließen müssen. Dieser Blickwinkel wird am ehesten deutlich, wenn ich die eminente Bedeutung der übermächtigen Mutter während der Späten Kaiserzeit betrachte. Die Rollen der Männer definierten sich jedoch generell je nach Lebenssituation sowohl aus der gesellschaftlichen Position wie aus denen der Frauen (wie auch vice versa).

Diese Arbeit soll einen Versuch darstellen, eine Gesamtschau sowohl über die Entwicklung des Daoismus als auch über die Performance der Frauen innerhalb und außerhalb dieser Religion zu geben. Die Forschung in den letzten Jahren hat zahlreiche neue Erkenntnisse in beiden Bereichen, vor allem aber bezüglich einiger Epochen zutage fördern können. Mein Anliegen ist es jedoch, in einer Gesamtschau die Entwicklung dieser Bereiche der Gesellschaft darzustellen – aus diesem übergeordneten Kontext heraus ergeben sich neue Aspekte und Erkenntnisse.

Quellen und Autorenschaft

Eine Beurteilung des Quellenmaterials zum Thema Daoismus und Genderfragen verlangt eine kritische Hinterfragung der vorliegenden Texte. Von aktueller Relevanz ist die Tatsache, dass erst seit den späten 80er Jahren des letzten Jahrhunderts umfangreicheres Material sowohl über die Rolle der Frauen als auch vor allem über die Entwicklung des Daoismus als Religion in der Übersetzung in westliche Sprachen, v. a. Englisch, vorliegt13. Vor dieser Zeit hatten sich Sinologen und Philosophen vorrangig mit den Werken des Laozi und Zhuangzi auseinandergesetzt. Außer Acht blieben die vielfältigen Erweiterungen und Veränderungen, die diese ursprünglichen philosophisch-gesellschaftspolitischen Texte im Rahmen ihrer Entwicklung als Religion gerade von der Zeitenwende bis in das 13. Jahrhundert (Neokonfuzianismus/Lixue) erfahren hatten. Sinologen und Religionswissenschaftlerinnen wie L. Kohn/Boston, C. Despeux/Paris und I. Robinet/Marseille waren in dieser Hinsicht unermüdliche Pioniere in der Erforschung dieser Zeitepoche, während die Erschließung des historischen und gesellschaftlichen Kontextes auf die Werke zahlreicher westlicher Wissenschaftler zurückgreifen kann. Das Quellenmaterial ist inzwischen sehr ergiebig für die frühe und mittlere Kaiserzeit, aber gerade für die späte Kaiserzeit, in der der Daoismus nahezu mit dem Buddhismus verschmolzen war (unter Beibehaltung seiner institutionellen Selbstständigkeit), ließen sich weniger relevante Texte in westlicher Übersetzung finden.

Perspektiven

Die Beurteilung der Genderrollen, bzw. der Rollen der Frauen im kaiserlichen China geschieht sowohl durch den Verfasser als auch durch die Sekundärquellen aus der Perspektive eines aufgeklärten, der Egalität verpflichteten Menschen. Diese Betrachtungsweise muss das Selbstverständnis, bzw. die Identität der Frauen innerhalb und außerhalb der daoistischen Enklave relativieren. Heutige Prämissen prägen Identität und Selbstverständnis der Geschlechter und die sich daraus ergebenden Sehnsüchte und Idealvorstellungen – der Blickwinkel lässt dementsprechend nur zu leicht die Relativität des historischen Kontextes vergessen. Für den Konfuzianismus gilt dies ganz besonders – ist er doch seit Beginn des 20. Jahrhunderts durch die 4.-Mai-Bewegung 1919 in China durch den Westen ebenso wie durch die zahlreichen Anti-Konfuzius-Kampagnen in der VR China in den Ruf einer monolithischen, erstarrten, am Untergang Chinas schuldigen, fortschritts- und extrem frauenfeindlichen Ideologie gekommen. Dabei wurden seine dynamischen Entwicklungen und durchaus verschiedenartigen Erscheinungsformen ignoriert. War doch zudem die Klärung der Geschlechterrollen sicher nicht das Hauptanliegen von Konfuzius oder Menzius.14

Die eigene Position als Autor konfrontiert zudem stets persönlich mit dem Gegenstand der Forschung. Die übergroße Mehrheit der wissenschaftlichen Arbeiten über die geschlechtsspezifische Rollenverteilung wurde aus der Perspektive der Frauen von Frauen geschrieben. 15 Jede Studie ist eine gegebenenfalls auch emotionsgeladene Auseinandersetzung mit eigener Identität und Selbstverständnis. Sie lebt von der Kontrastierung – wobei die Problematik der reflektierenden weiblichen Autoren den Kontrast heutiges vs. vergangenes Frauenbild setzt, ein männlicher Autor hingegen zusätzlich eine Kontrastierung mit der eigenen Identität gegenüber dem anderen Geschlecht in die Betrachtungsweise unweigerlich hineinfließen lassen muss. Die Subjektivität des Betrachters bzw. des Forschers führt ebenso unausweichlich zu einer Selektion der aufgeführten Phänomene und Quellen – die ohnehin durch die Übersetzung immer in interpretierter Form vorliegen. G. Linck führt ein anschauliches Beispiel für den Interpretationsspielraum an:

Vor allem in der Späten Kaiserzeit (s. Zeittafel) grassierten in China Geschichten, in denen Fuchsgeister sich in schöne Frauen verwandeln, die weltfremde Gelehrte verführen, um ihnen durch den Beischlaf die Lebenskraft auszusaugen. Diese Erzählungen gelten im allgemeinen als Ausdruck der für die Späte Kaiserzelt typischen Tabuisierung von Sexualität und Unterdrückung bzw. Dämonisierung von Weiblichkeit. In der Tat spricht alles für diese Behauptung. Nun wurde kürzlich in einer Dissertation eine weitere Vermutung geäußert, nämlich dass die Fuchsgeschichten auch dazu dienen konnten, “Frauen in einsamen Landgegenden vor Übergriffen Fremder zu schützen“- im Sinne: Ich bin ein Fuchsgeist, also sieh dich vor! Eine Idee, die es vielleicht noch zu beweisen gilt, auf die aber m. E. eher eine selbstbewusste Frau verfällt als ein Mann, der sich mit Vergewaltigungsängsten überhaupt nie auseinandersetzen muß.16

Forscher und Beforschte agieren aus ihrer eigenen Identität heraus. Diese definiert sich jeweils im Wechselspiel bzw. in der Interaktion und somit im Kontrast mit der Umwelt, bzw. mit dem soziokulturellen Umfeld. Die Interaktion und somit Selbstdefinition geschieht in Bezug auf das andere Geschlecht ebenso wie die synchron oder diachron prägenden anderen Impulse der Umwelt. Aus der daraus erwachsenden Rolle ergibt sich je nach Standort und persönlichem Entwicklungsstand eine Rolle, die eine vermeintlich biologisch fixierte Geschlechtlichkeit bestätigen oder verlassen lassen kann:

Das Verstehen der eigenen Geschlechterrolle geschieht unter fortwährendem Bezug auf das andere Geschlecht. Was für die individuelle Lebensgeschichte gilt, trifft auch auf die Geschichte der Geschlechterproblematik überhaupt zu.17

Als solche interpretieren die Forscher und werden die Beforschten interpretiert. Die Lösung ist vielleicht, dass man sich

…den eigenen Wissensbeständen gegenüber systematisch „dumm“ stellt. Man nimmt eine Perspektive künstlicher Fremdheit ein, „befremdet“ die eigene Kultur.18

Diese Perspektive der Fremdheit gegenüber der eigenen Kultur einzunehmen– wenn auch nicht der eigenen Erfahrungswelt darin- wird im Umgang mit dem kaiserlichen Chinas leichter – ist dieses doch anders als der Forscher vom christlich-abendländischen Denken fast völlig unbeeinflusst geblieben.

Auch ich als (männlicher) Autor habe nicht den Anspruch einer a-geschlechtlichen Objektivität. Auch wenn ich mich bemüht habe, so umfangreich wie möglich die Genderfrage im alten China zu beleuchten, so muss ich mich auf die konkrete Performance von Frauen in der Entwicklung des Daoismus beziehen. Dem Vorwurf der Quellenselektion sehe ich gelassen entgegen – denn auch ich sehe nie die Dinge an sich, sondern nehme zielgerichtet, ordnend, schematisierend, strukturierend wahr.

Die Überlieferung durch männliche Historiografen und Literaten bewirkt zudem eine durchgehend androzentristische Betrachtungsweise, auch was die Rezeption der chinesischen Geschichte im Westen betrifft.19 Dies erschwert die Erforschung der weiblichen Repräsentanz in Religion und Geschichte, denn der „normale Mensch“ ist in dieser Geschichtsschreibung jeweils der Mann- die Frau taucht als Objekt nur jeweils in negativer oder positiver Interaktion mit diesem auf, selten nur als handelndes Subjekt.20 Nur wenn die Geschlechtlichkeit direkt angesprochen werden muss, wie bei der Fortpflanzung bzw. beim Erhalt der Ahnenkette, dann wird aus der Ein- eine Zweigeschlechtlichkeit.

Ideal versus Praxis

Die überlieferten Texte spiegeln nicht unbedingt die gesellschaftliche/soziale Praxis wieder. Sie wurden durch eine schmale, fast immer männliche Gelehrtenschicht überliefert, die auch mythische wie religiöse Inhalte vielfach gelöscht oder rationalisiert hat. Dies geschah schon zu früher Zeit in der chinesischen Geschichte, als die Gelehrten die Nachfolge der für die Aufzeichnung der Annalen zuständigen Orakelpriester angetreten haben. 21 Das Quellenmaterial bestand aus Chroniken, Anekdoten, Legenden und Berichten z. B. über Naturerscheinungen. Dann aber auch aus den schriftlichen Aufzeichnungen der Ritual-Regeln, der Gesetze und den aufgezeichneten politischen Anweisungen, aus Liedern und Wahrsageschriften. Die konfuzianischen Klassiker spiegelten diese Struktur wieder (Frühlings- und Herbstannalen Chunqiu, Zeremonien und Riten Yili, Buch der Urkunden Shujing, Liedersammlung Shijing, Orakelbuch Yijing).22 Diese Texte dienten der Anweisung der Adepten und als ethische Leitlinien vor allem für die Oberschicht. Sie waren jedoch nicht starr und unabänderlich und wurden demzufolge den historisch/gesellschaftlichen Notwendigkeiten jeweils angepasst.23 Dennoch galt es sie zu schützen vor etwaigen ketzerischen Abweichungen, und so wurde schon in der Song-Zeit ein Zensursystem erstellt, das seit der Ming-Dynastie regelrechter und beständiger Bestandteil der Administration war.24

Die so jeweils aktuell formulierte Lehrmeinung der Elite postulierte eine Anpassung an universale kosmische Strukturen, eine alle Erscheinungsformen der Welt erfassendes Denksystem, das auch die Definition eines eindeutigen, klaren und nicht permeablen Geschlechterverhältnisses erforderte. Dieses Postulat divergierte stets von der gesellschaftlichen Realität, in der häufig in der breiten Bevölkerungsmehrheit der Pragmatismus die starren Strukturen verschwimmen ließ.25 Die Erfüllung der idealisierten Vorstellungen wichen umso mehr von der sozialen Praxis ab, je mehr z. B. die Frau in den konkreten tagtäglichen Broterwerb einbezogen war. Frauen erscheinen in diesem Kontext als idealisierte Symbolfiguren. Auf der anderen Seite traten sie z. B. als Dichterinnen und daoistisch-religiöse Führerinnen – auch meist aus der Oberschicht stammend!- in ihrer subjektiven Weltsicht in Erscheinung. 26 Dies gilt für viele Frauenfiguren im daoistischen Umfeld: Ihre (Lebens-) Geschichten als Göttinnen, Unsterbliche, Lehrerinnen, Visionärinnen, Nonnen oder Laien wurden durch die Filter der konfuzianischen Geschichtsschreiber 27 transferiert. Deren persönlichen oder sozialen Interessen, Visionen und Idealen hatten dann natürlich auch die Daoistinnen zu entsprechen28 - ein zusätzlicher Filter der Geschichte.

Hagiografien spiegeln den Stellenwert gerade von den zu den Unsterblichen aufgestiegenen daoistischen Lehrerinnen und Meisterinnen wieder. Diese Lebensbeschreibungen dienten der Rechtfertigung dieses Heilsweges gegenüber der stets kritischen Gesellschaft, die die daoistischen Adepten der Scharlatanerie bezichtigten. Sie beschrieben detailliert den Weg zur Erlangung der Unsterblichkeit durch Einnahme von Elixieren, Meditationen, Übungen, Talismane etc. 29

Die kontinuierlich verfassten Enzyklopädien (Leishu) versuchten das jeweilige Wissen und die Erfahrungswelt einer Epoche schriftlich aufzuzeichnen und zu bewahren. Seit der Song-Dynastie enthielten sie auch Kapitel über berühmte Frauen, die Idealbilder in ihrer Relevanz für die kaiserlichen Autoren festschrieben.30

Lyrische Texte spiegeln hingegen, anders als die überlieferten Annalen und Berichte, die persönliche Erlebnis- und Erfahrungswelt der Dichtenden wieder:

Dichtung wiederum manifestiert sich in starken Bildern, d. h. sie objektiviert die „Lebenswirkung“ im Sinne Diltheys durch eine sparsame und schonende Explikation, die das Unsagbare berührt. So bietet sich, wenn es um Mitteilung bzw. Verarbeitung starker und tiefer Eindrücke geht, die Lyrik geradezu als Quelle an.31

In Liedern und Gedichten artikulierten die Frauen der Oberschicht ihre Gefühle und Sehnsüchte – durch das hohe Ansehen der literarisch talentierten Frau auch von der rigiden konfuzianischen Elite sanktioniert. Wenn Frauen in der Dichtkunst auftraten – sei es als Autorinnen oder dargestellte Figuren-, so spiegelten sie immer die andere Seite, wenn nicht sogar „das Andere“ schlechthin wider.32 Eine ähnliche Subjektivität und Authentizität birgt die Volksliteratur – und ihre Auswertung wirft wieder Fragen auf:

Hier fällt das Weibliche durch seine Präsenz auf. Gleichzeitig überrascht die Art der Darstellung, da sich die Frauen grundsätzlich durch Handfertigkeit, Stärke, wenn nicht gar Dominanz oder Übermacht auszeichnen. Das muss jedoch nicht unbedingt bedeuten, dass diese Quellen, wie die Vorlagen der Geschichtenerzähler, die Witze. Anekdoten, Lieder und Balladen, der tatsächlichen Stellung der Frau besser gerecht werden. Sie können ebenso gut Männerängsten und -phantasien entsprungen sein.33

Volksliteratur wurde aber – anders als die reichlich vorhandenen historischen Aufzeichnungen und pädagogischen Ratgeber der Oberschicht- wenig tradiert und auch dann durch den Filter der (konfuzianisch-männlichen) Aristokratie gegeben – wenn denn diese banalen Alltäglichkeiten überhaupt außerordentlich und spektakulär genug dafür war. Sachquellen wie Grabmäler, Kunstwerke etc. könnten hingegen als wesentlich authentischere Quellen herangezogen werden.34

Sogar die heftigen Verfechter festgelegter Geschlechterrollen in der Song-Zeit, Zhu Xi und Cheng Yi spiegelten die Diskrepanz zwischen Idealvorstellung und gesellschaftlicher Realität wieder – und auch deren wechselseitige Beeinflussung:

Cheng Yi, for example, praised his father for "marrying off" an orphaned, widowed relative, contrary to the scriptural injunction that a widow should not remarry. Zhu Xi similarly treated the actual women in his life far differently than one would expect given his theoretical writings and statements on the proper role of women. He, even more so than Dong Zhongshu, was a systematizer, and he too regarded Yin-Yang as the most fundamental ordering principle. Zhu was, in fact, intent on fitting everything he possibly could into this intellectual system. So it is not surprising that he would align the categories of man and woman with the fundamental Yin-Yang principle. But as the above-mentioned scholars have shown, we should not superimpose that theoretical structure onto the actual lives of Song women. In fact, the very existence of such arguments for restrictions on women's lives might suggest precisely the opposite: the stronger the polemic, the higher the percentage of women there might be who are actually ignoring the strictures. 35

Durch die Jahrhunderte hindurch sind schriftliche Zeugnisse über die Rollenverteilung in der chinesischen Gesellschaft einerseits nur von der Oberschicht überliefert, andererseits auch als solche wahrgenommen worden. Von der bäuerlichen Bevölkerung verfasste Literatur ist kaum tradiert worden36 - diese insuffiziente Quellenlage gilt auch für die verbreitete Volksreligion als eigentlich dominierendem Glauben in der breiten Bevölkerung:

Women would pray at the family altar, visit the local temple, and join other women for scripture study or recitation. “Daily devotion fostered communities of women, as sisters gathered to study the sutras, or a mother interpreted a daughter‘s dreams and recited chants“ (. . ). Women might also find religious value in simple ethical commands, such as nonkilling and compassion, and many would gear their households toward Vegetarianism and practice good deeds in their neighborhoods from a religious motivation (…).37

Der Sorge um Familie und Klan, den Ahnen und dem Erhalt der Gesellschaft galten die Gebete der unzähligen weiblichen Laien an häuslichen Altären und lokalen Heiligtümern.

Konfuzianismus versus Daoismus/Konfuzianismus

Die Tatsache, dass die schriftliche Überlieferung durch konfuzianische Gelehrte der Oberschicht erfolgte, bedingt dann auch einen besonderen Blickwinkel auf „konkurrierende“ daoistische und buddhistische Praktiken. Auch genossen die Verhältnisse „im Inneren“ als die Kehrseite von Produktion und Politik nicht die Aufmerksamkeit der Geschichtsschreiber.38 Von besonderer „Sprengkraft“ war aber für den in der Gesellschaft dominanten Konfuzianismus das Zugeständnis, dass Frauen sich sowohl in Buddhismus als später auch im Daoismus zölibatär in die Klöster zurückziehen und somit ihrer Verpflichtung zur „kindlichen Pietät“ und der Ahnenverehrung nicht mehr nachkommen konnten.

Die relative Marginalisierung des Daoismus in der späten Kaiserzeit und vor allem im 20. Jahrhundert in der VR China führte dazu, dass auch zeitgenössische chinesische Übersetzer und Kommentatoren Probleme bei der Bearbeitung des Themas hatten, ohne sich den vielfältigen Vorurteilen auszusetzen- jahrhundertelang war der Daoismus von konfuzianischer wie dann auch maoistischer Seite als ein Sammelbecken von Narren und Schurken angesehen worden. Einer wissenschaftlichen Betrachtung war diese bizarre Glaubensrichtung im Gegensatz zum Neokonfuzianismus nicht würdig.39 Westliche Autoren vertieften sich in die kanonischen Texte des Daoismus (Laozi, Zhuangzi etc.) und ignorierten seine lange Entwicklung zur und als Religion in der gesamten Kaiserzeit – mitsamt seinen vielfältigen Vermengungen mit Buddhismus, Konfuzianismus und Volksreligion. Die Philosophie der „alten Chinesen“ fand und findet noch immer großen Anklang gerade im heutigen Westen. Die Religion hingegen mit ihren die „reine Philosophie“ befleckenden kultischen und metaphysischen Aspekten als Heil- oder/und Erlösungsweg war aber als Forschungsgegenstand obsolet. 40 Dazu gehört auch, dass schon die konfuzianischen Geschichtsschreiber bemüht waren aus dem Kontext der Klassiker mythische und religiöse Inhalte zu tilgen, bzw. zu „rationalisieren“:

So treten z. B. die Lenker des Sonnenwagens (xihe) in klassischen chinesischen Texten als Hofastronome auf u. ä. mehr. Es ist gerade diese Erscheinung, die moderne chinesische Wissenschaftler zu der Meinung gebracht hat, dass das Religiöse in China niemals eine besondere Rolle gespielt habe. Wahr daran ist jedoch bloß, dass das religiöse Grundmuster bei vielen Ideen schon sehr früh übermalt wurde, so dass es nur gelegentlich noch durchschimmert. 41

Das Resultat war dann – aus der Perspektive westlicher Rezipienten – die Dichotomie zwischen einem scheinbar nüchternen, rationalen Konfuzianismus auf der einen und einem esoterischen, philosophischen und metaphysischen Daoismus auf der anderen Seite.

Begrifflichkeiten

Ein wesentliches Charakteristikum der Religionsgeschichte Chinas ist ein fortdauernder Prozess des Synkretismus zu betrachten. Die verwendeten Begriffe sollten daher stets relativiert werden. Weder Daoismus noch Konfuzianismus noch Buddhismus sind homogene Denkgebäude. Der Daoismus war Philosophie, Heilkunde und Kirche, unter dem Begriff „Buddhismus“ werden Lamaismus, Chan-Buddhismus ebenso wie Amithaba-Verehrung u. v. a. mehr subsumiert. Und der Begriff „Konfuzianismus“ umfasst die gesellschaftspolitischen Überlegungen des Konfuzius, die Staatsdoktrin, seine Renaissance als „Neokonfuzianismus“ (Lixue) oder die Vorstellungen z. B. des Menzius (s.d.). Nur zu gerne wird China seit der europäischen Aufklärung als Hort des „guten Alten“, des seit alters her homogenen Kultur- und Staatsgebilde angesehen. Aber auch hier gilt, allein wenn man die Religionen betrachtet, dasselbe wie für Christentum oder Islam: jede Religion verändert sich im Laufe ihrer Entwicklung. Aus ihren synchronen und diachronen Momentaufnahmen hingegen lässt sich die erforderliche Gesamtschau erarbeiten.

Daoismus, Konfuzianismus und Gender

Seit den 1990er Jahren werden die großen Religionen von der Genderforschung auf einer Skala zwischen starker männlicher zu weiblicher Dominanz so betrachtet:

Im Daoismus erfährt die Genderfrage eine besondere Relevanz in der expliziten Unterscheidung der Geschlechter in Analogie zu den polaren Aspekten der Welt, zu Yin und Yang. Die Erlösung des Menschen und das Erreichen der Unsterblichkeit bzw. Langlebigkeit ergeben sich aus dem Verschmelzen dieser Polaritäten. Diese Leitvorstellung, die neben dem Daoismus auch andere religiöse Vorstellungen in China beherrscht, geht somit von einer Unvollständigkeit des Daseins aus, die erst in der Assimilation mit dem Fehlenden/Anderen komplettiert wird. Ein Erlösungsgedanke, der nicht durch das Sterben erst erfüllt wirdbedeutet dieses doch die Trennung von Yin und Yang.

Erstens liegen Geschlechtlichkeit und Fortpflanzung nah am Bereich der Sterblichkeit, für die alle Religionen und Kulturen einen symbolischen Ausdruck suchen: Ist in der sexuellen Differenz auch das Gesetz menschlicher „Unvollständigkeit“ oder Sterblichkeit festgeschrieben, so erscheinen Fortpflanzung und Sexualität zugleich wie ein „Trost“ für die Vergänglichkeit des Menschen. Zweitens sind Fortpflanzung und Sexualität aber auch von existentieller Bedeutung für die Kontinuität und Regeneration jeder Gemeinschaft.43

In der Praxis hieß dies, dass die Vereinigung von Yin und Yang mit dem Ziel des universalen Einklangs im Dao auf vielerlei Ebenen angestrebt wurde. So z. B. in den Idealvorstellungen der Männer (s.o.) die eine eher androgyne Charakterstruktur anstrebten, oder auch in Ritualen zur Vereinigung von Himmel und Erde. Die Schnittstelle Geschlechtlichkeit/Religion und somit die Kongruenz zwischen Geschlecht und Gender ist in der körperlichen Vereinigung He Yinyang zu sehen: Unsterblichkeit wird durch die geschlechtliche Interaktion von Yin und Yang nicht nur symbolisch oder imaginiert (siehe Han- bis Sui-Zeit), sondern tatsächlich vollzogen.44

Im Konfuzianismus scheint dieser Aspekt zu entfallen– hier fand Geschlechtlichkeit ausschließlich ihren Ausdruck in der Fortpflanzung. Diese diente der Aufrechterhaltung der Ahnenkette, die die wechselseitige Fürsorge und somit eine ewige Gemeinschaft der Lebenden mit den Verstorbenen garantierte. Insofern ist dies ebenfalls als religiöser Aspekt im Sinne der Erlösung von der alleinigen körperlichen Existenz zu sehen und der Auflösung der Polaritäten – eher auf einer diachronen als auf der (daoistischen) synchronen Ebene.

Methodik

Unter „Fragestellungen“ und unter „Perspektiven“ ist unterstellt, dass geschlechtsspezifische Arrangements kulturelle und historische Konstruktionen sind bzw. in der Performance von beiden Geschlechtern in der Interaktion ausgehandelt werden. Dies ist in der postmodernen Wissenschaftstheorie als Gender-Ansatz bekannt. Gleichzeitig ist mir bewusst, dass die jeweilige Explikation von historischen und gesellschaftlichen Situationen bzw. von damit verbundenen Sachverhalten, Problemen und Programmen (Hermann Schmitz) nicht unabhängig vom Erkenntnis leitenden Interesse des Interpreten sein kann. Was für die Genderfrage zutrifft, lässt sich in gewisser Weise auch auf das Verhältnis der religiösen und philosophischen Strömungen übertragen. Selbst in den Zeiten intensiver wechselseitiger Durchdringung geschehen Definitionen und Umorientierungen immer in Abgrenzung gegen „das jeweils Andere“, so dass hier in der Darstellung nur kontrastiv zu verfahren ist.

Die folgenden Kapitel gehen zunächst von einer Betrachtung des Daoismus in der jeweiligen historischen Situation aus. Insbesondere gehe ich auf die Assimilation und auch die Weiterentwicklung einzelner religiöser Elemente ein. Diese Tendenz zur Harmonisierung der verschiedenen religiösen Anschauungen und ihre letztendliche Absorption in der Religion „Daoismus“ setzt sich im größeren Rahmen seit der mittleren Kaiserzeit fort, wenn unter dem „Dach“ des Neokonfuzianismus (Lixue) sowohl Daoismus als auch Buddhismus integriert und standardisiert werden.

Die darauf folgende Erfassung der Entwicklung anderer Religionen lassen in Abgrenzung zum Daoismus diesen in seinem kontrastiven Verhältnis erscheinen, bzw. auch gesellschaftlichpolitische Tendenzen deutlich werden.

Mit der Genderfrage – explizit mit der Rolle der Frauen in diesem historischen Kontext befassen sich die jeweils nächsten beiden Abschnitte. „Frauenrollen- und Bilder“ läßt deutlich werden, inwieweit der (konfuzianistische) Staat die gesellschaftliche Relevanz von Frauen gut hieß oder gar förderte. Die historische und soziologische Relativität und Durchlässigkeit propagierter Geschlechterrollen wird hierdurch deutlich. Betrachtungen zu Frauen- und Männerbildern unterstreichen die Idealvorstellungen, die im wesentlich von Seiten der Oberschicht das Bild der Geschlechter prägten.

Mit „Frauen in der Religion“ werde ich untersuchen, welchen Stellenwert Frauen insbesondere im Daoismus einnahmen. Diese Betrachtungen umfassen – soweit die Quellen dies ergeben – die Frauen als Göttinnen und Unsterbliche und somit sowohl als anthropomorphe Idealgestalten wie auch als Erlöserinnen und Helferinnen. Frauen als religiöse Subjekte hingegen bezeugen deren im Daoismus zeitweise ausgeprägte Autonomie in religiösen Traditionen.

Im letzten Kapitel werde ich eine epochenübergreifende Gesamtschau sowie den Versuch einer abschließenden Beurteilung und Vorausschau unternehmen.


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