Die Diskussion über Denkmalschutz2 und Denkmalpflege3, Denkmalwerte und ihre Träger wandelt sich oft in eine selbstreferentielle Debatte über die Funktionsweise der Gesellschaft, über ihre Identität4 und ihr kulturelles Dasein, auch über das Vergessen als Gegensatz des Erinnerns. Indem sie sich mit dem Denkmal befasst, beschäftigt sie sich mit kulturellem Gedächtnis, in ihrem Bewusstsein faktisch aber mit sich selbst.
„Virtuell“ meint zunächst das Nicht-Wirkliche, das Scheinbare, darüber hinaus auch etwas, das verwirklicht werden kann. Der Begriff „Virtuelle Realität“ kann unter derjenigen Bedingung eine sinnvolle Bedeutung gewinnen, dass von der Bildhaftigkeit der „Realität“ abstrahiert wird und die Bildinhalte als reale Wirklichkeit aufgefasst werden. „Ein Bild ist etwas, das so beschaffen ist, wie kein anderes, ohne aber selbst das zu sein, was es durch seine Beschaffenheit darstellt. Wenn man mit der Frage ti esti an ein Bild herantritt, kann man nur die Antwort erhalten, dass es eben ein Bild ist, jedenfalls wenn man diese Frage platonisch als eine Frage nach dem Wesen der Sache versteht.“5 Das Bild wird als Repräsentation eines tatsächlichen, eines vergangenen oder möglichen Sachverhaltes verstanden. Der Ausdruck „Virtuelle Realität“ verweist bei dieser Betrachtung auf eine konstruierte Differenz von Bild und Realität und bezeichnet das Vergessen der Bildhaftigkeit, seiner medialen Verkörperung. Formal betrachtet, ist zum einen die virtuelle Wirklichkeit nicht „virtuell“, denn sie besteht aus realen Aktualisierungen, und zum anderen keine Realität; sie ist als Bild oder Darstellung real, aber keine Realität. Die Bindung als Potentialität an das Aktuelle ändert sich mit dem, was man unter Moderne versteht, indem zunehmend das Virtuelle als eigenständiger Bereich entdeckt wird.6
In die Wirklichkeit transponierte „virtuelle Welten“ sind die Künste.7 Frühe Felszeichnungen und -malereien dienten dem gleichen Zweck wie die durch monströse Rechnerkapazitäten generierte elektronische Virtualisierung von Baudenkmalen: der realen Verbildlichung bestimmter Bewusstseinszustände. Die inzwischen mit elektronischen Mitteln erzeugte virtuelle Welt ermöglicht es dem Betrachter, sich interaktiv in ihr zu bewegen. Der direkte Eingriff in die virtuelle Welt, das Bewegen von Objekten durch den Benutzer, kann bei einem hohen Immersionsgrad der realen fast entsprechen. Das Misstrauen, auf das die Erzeugung virtueller Welten stößt, hat seine Ursache im Misstrauen gegenüber allem Künstlerischen. Die Kunst besticht durch Schönheit, gilt als Lüge.8 Die elektronische Virtualisierung von Baudenkmalen erzeugt Bilder, die eine kodifizierte Welt schaffen und zu einer Entfremdung des Menschen vom real Realen führen können.9 Mit der Öffnung des Informationsraumes (Cyberspace) manifestiert sich die Existenz der Medienwirklichkeit als alternative Wirklichkeit10, wodurch die Existenz des realen Baudenkmals neu definiert werden muss.
Der virtuelle Raum ist nicht substanziell-real. Es wirken keine Kraftgesetze. Die Folge ist, dass er keine Grundlage für reale menschliche Existenz bietet. Den virtuellen Raum ohne realen Raum gibt es nicht. In ihm aber ist die virtuelle Anwesenheit Beteiligter möglich. Die Interaktion, die früher nur in realer räumlicher Nähe möglich war, kann nunmehr über große Entfernung hinweg und in Gleichzeitigkeit erfolgen.
Subjektiv wahrgenommen, hat die Zeit drei Erscheinungsformen: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.11 Sie wird als Werden und Vergehen, Wandel und Dauer erfahren; sie wird als nicht umkehrbare, nicht wiederholbare Abfolge des Geschehens erlebt. Das Bewusstsein bewältigt diese Erfahrung durch Deutungsleistungen dadurch, dass sich der Mensch orientieren und sein Leben sinnhaft auf sie beziehen kann. Nur durch Deutung des Geschehens erhält die Zeit einen Sinn; aus der immer ineinander verschränkten Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erwächst er nicht.12 Dieser Sinn stellt eine geistige Leistung dar, womit der Mensch durch die Gesamtschau von Vergangenheit über die Gegenwart und Zukunft eine konkrete, reale und kulturelle Form des Lebens gewinnt.
Die Zeit ist ein elementarer Faktor des praktischen menschlichen Lebens. Im Spannungsfeld zwischen Erwartung und Erinnerung geschieht das alltägliche menschliche Handeln. Die Vergangenheit ist durch Erinnerung, die Gegenwart durch fortwährende Erfahrung und die Zukunft durch Erwartung wahrnehmbar. Erinnern und Erwarten sind nicht gleichbedeutend mit nur vorgestellt. Erinnerung und Erwartung unterscheiden sich von der virtuellen Realität durch den zwingenden subjektiven Eindruck der Tatsächlichkeit. Zeiterfahrungen geschehen unter strukturellen Rahmenbedingungen.13 Sie formieren sich aus objektiven Zusammenhängen der Lebensumstände. Zeit kann als Qualität des erfahrenen Sachverhaltes wahrgenommen werden. Arbeit, Wechsel der Jahreszeiten, die Möglichkeit, Ernten festzulegen, auch politische Herrschaft und die Veränderungen der baulich-räumlichen und natürlich-räumlichen Umgebung finden in der Zeit statt. Die Frage nach der Zeit ist auch eine kulturelle. Kultur besteht in der Deutung der Zeit, dass die Menschen in ihr mit Geschehenem umgehen und einen Sinn gewinnen können.
Das subjektive Zeiterleben trennt durch die Gegenwart die Vergangenheit von der Zukunft. Alles, was gegenwärtig wahrgenommen wird, wird als materielle Wirklichkeit erfahren, und alles, was nicht gegenwärtig und unmittelbar wahrgenommen wird, existiert im Bewusstsein. Nun ist es mit Computern möglich, virtuelle Realitäten zu schaffen, die eine subjektive Erlebnissphäre mit einem angenäherten Grad an die mit sämtlichen Sinnessystemen wahrnehmbare Wirklichkeit erzeugen können. Computer sind informationsverarbeitende Maschinen, die in ihren physikalischen Strukturen und durch die Ergänzung mit Schnittstellengeräten Teilen der Natur entsprechen können. Im Gegensatz zum menschlichen Organismus sind sie bis an die Grenzen des physikalisch Möglichen programmierbar. Die elektronische Virtualisierung in der Denkmalpflege ermöglicht in der virtuellen Realität subjektive Zeitreisen in die Vergangenheit. Hier gibt es kein Werden und Vergehen; hier werden kein Wandel und keine Dauer erlebt. Die Virtualisierung wird als umkehrbare, wiederholbare Abfolge des virtuellen Geschehens erfahren. Die Entropie steigt in der virtuellen Welt nicht an, wohl aber im Bewusstsein des physisch in der parallel vorhandenen Realität verbleibenden interaktiven Benutzers.
Bei der Zeitreise in der virtuellen Realität muss der Mensch um seine Existenz nicht bangen, da er bei einer Änderung der Voraussetzungen in der virtuellen Vergangenheit seiner physischen Grundlagen nicht beraubt wird.14 Die subjektive Zeitreise ist nur dann möglich, wenn sich der Mensch im Bewusstsein in den Zustand desjenigen Zeitpunktes versetzen kann, zu dem er zu reisen beabsichtigt. Er verliert dabei weder seine physischen Eigenschaften, noch seine psychischen Erfahrungen. Die gesamte umgebende Welt stellt sich virtuell zu dem Zielzeitpunkt seiner Reise in der Vergangenheit dar; seine Erkenntnisse und Erfahrungen werden bei der Rückkehr nicht vergessen. Das physische Alter des in der Gegenwart verbleibenden subjektiv zeitreisenden Beobachters schreitet in unveränderter Geschwindigkeit voran. Der Zeitpunkt, zu dem er subjektiv reist, liegt in der Vergangenheit oder Zukunft der virtuellen Realität, ohne Einfluss von physikalischen Größen, wie Entfernung und Geschwindigkeit.
Seit es Philosophie gibt, wird über die erkenntnistheoretische Frage nachgedacht, welchen Wahrheits- und Realitätsgehalt die Wahrnehmungen, auch die der baulich-räumlichen Umwelt, haben. Während die „Realisten“ die Ansicht vertreten, dass die Inhalte der Wahrnehmung die „realen Tatsachen“ entsprechend wiedergeben, gehen die „Idealisten“ davon aus, dass es sich für sie im Wesentlichen um „ideelle Erfindungen“ des Geistes handelt, die sich nicht ursächlich auf die Realität beziehen. Für den Idealisten ist die Frage nach der Wahrheit nicht existent. Entsprechend den Alltagserfahrungen sind diese philosophischen Betrachtungen über den Realitätsgehalt der Wahrnehmungen nicht sofort verständlich. Die baulich-räumliche Umwelt liegt unmittelbar vor dem Betrachter wie sie ist, er nimmt sie mit allen Sinnessystemen wahr, er wirkt darin interaktiv mit und befriedigt materielle und ideelle Bedürfnisse. Die Wahrnehmung ist Teil des kognitiven Prozesses. Die baulich-räumliche Umwelt wahrzunehmen, bedeutet, Informationen aufzunehmen, zu organisieren, zu interpretieren und zu bewerten. Nur ein Teil dessen, das der Mensch erlebt, wird unmittelbar wahrgenommen. Der auf diese Weise wahrgenommene Zustand der Umwelt steht mit dem wahrzunehmenden Geschehen in kausalem Zusammenhang. Das ist der zeitliche Zustand der Gegenwart. Alles, was mit der Wahrnehmung des Geschehens nicht gleichzeitig ist, existiert nur im Bewusstsein, also subjektiv oder in der virtuellen Realität. Es kann sich hierbei um erträumte, phantasierte, imaginierte Inhalte oder um antizipierte und erinnerte Wahrnehmungen handeln. Der allergrößte Teil der subjektiven Erlebnissphäre ist virtuell, da der Teil, der mit dem Geschehen der Wahrnehmung in der Gegenwart übereinstimmt, sehr gering ist im Vergleich zum Gesamtgeschehen in der Welt.
Der wissenschaftliche Diskurs um elektronische Technologien einer neuen Wahrnehmungsform wird zunächst von Philosophen, wie Jean Baudrillard, Vilém Flusser15, Heinz von Foerster, Friedrich Kittler, Paul Virilio und Peter Weibel, geprägt. Die Fachdiskussion um Simulation und Virtualität bezieht sich vornehmlich auf die mit elektronischen Mitteln erzeugten Visualisierungen.16 Dieser Diskurs wird dahingehend geführt, dass technische Bilder eine nicht vorhandene Realität suggerieren, mit der Konsequenz, dass der Glaube an die visuelle Wahrheit ins Wanken gerät. Die Kamera ist hierbei immer wieder zentraler Bezugs- und Ausgangspunkt der Wahrnehmung. Dieses, das biologische Auge ersetzende technische Aggregat ist in der Lage, mehr und komplexer zu sehen.17 Die Technik ist grundsätzlich ein untrennbarer Bestandteil im Prozess der elektronischen Virtualisierung. Als Apparat ist sie ein Mittel zum Zweck und prägt Wahrnehmungsformen.18 Künstliche Realität bewirkt eine Extension der menschlichen Sinne.19 Sie thematisiert die Immaterialisierung des Körpers, ein in eine elektromagnetische Umwelt integriertes elektromagnetisches Feld.20
Die menschliche Wahrnehmung wird durch die neuen Medien stark beeinflusst.21 Sie ziehen eine Grenze zwischen baulich-räumlicher Umwelt und Mensch, mit einer räumlichen Distanz zwischen Beobachter und dem beobachteten Baudenkmal. Die Schnittstelle Mensch-Maschine verändert den von Hand und Auge dominierten Wahrnehmungsprozess und bewirkt einen Bruch mit den traditionellen Mustern der menschlichen Wahrnehmung.22 Die virtuelle Realität erfordert eine uneingeschränkte Konzentration und nimmt alle Sinne in Anspruch. Die virtuelle Realität unterscheidet sich von der realen Welt dadurch, dass der Benutzer in die Welt der Illusion wie ein Demiurg einbezogen wird. Das Geschehen ist von ihm abhängig und wird durch ihn selbst bestimmt. Wenn die herkömmliche Bedienung eines Computers das Betrachten eines Abbildes eines Baudenkmals ermöglicht, dann bedeutet die virtuelle Realität eines Baudenkmals, dass man entweder vor dem Gebäude oder mitten darin steht und es glaubhaft als existent empfindet.
Elektronische Medienprodukte sind sinnlich erfassbare Figurationen, die eine subjektive Veränderung der Wahrnehmung, des Gewahrwerdens beeinflussen. Mit technischen Geräten zur Wiedergabe von stehenden und bewegten Bildsequenzen bietet die elektronische Visualisierung nicht mehr Bilder im gewohnten Sinne; vielmehr sind es Daten, die man Bilder nennt und den Glauben an ihre visuelle Wahrheit ins Wanken bringt.23 Sie ermöglicht die Veranschaulichung des Objektes und die Interaktion des Geschauten,24 mit einer steigenden Wertschätzung des Tastsinns und des körperlich Erleb- und Fühlbaren. Das Substanzielle im Imaginationsprozess gewinnt zunehmend an Bedeutung. Die Interaktivität wird häufig als Grundeigenschaft elektronisch-digitaler Medien und als Unterscheidungsmerkmal bezüglich analoger Medien genannt. Zwischen dem Betrachter, nunmehr abweichend von seiner klassischen Rolle, und dem Mediensystem fließen bidirektionale Informationen. Der ehemals passive Betrachter verwandelt sich zum Akteur und agiert in der virtuellen Realität, indem er z. B. die Kamera, den Blickpunkt, den Blickwinkel und den Kameraweg nach seinen Vorstellungen verändert. Durch diesen kommunikativen Prozess kann er in dem Mediensystem in Echtzeit navigieren und in der virtuellen Realität interagieren. Die Interaktion fordert neben dem Blick und der Distanz mehr und mehr die Berührung. Damit verändert sich dieses Objekt visueller Wahrnehmung zu einem Objekt der taktilen Wahrnehmung mit reduziertem Abstand. Physikalisch wird durch die Berührung ein Druck auf den Körper des Betrachters suggeriert und dessen Hautoberfläche gereizt. Diese Form der Wahrnehmung erfährt durch die Computertechnik eine Renaissance, die auf eine Rückeroberung der körperlichen Sinne abzielt und eine neue Hierarchie der Sinne denkbar werden lässt. Der Siegeszug des Buchdruckes hat zum Verlust ganzheitlicher Körperwahrnehmung, einschließlich des Geruchs-, Geschmacks- und Tastsinnes, geführt und sich auf die analysierenden Fähigkeiten des Auges konzentriert.25 Durch virtuelle Realitäts-Simulationen wird hauptsächlich der visuelle Sinn angesprochen, unterstützt durch auditive Informationen, gelegentlich auch ergänzt durch taktile bzw. haptische Wahrnehmung. Ausgereifte Technologien für die Wahrnehmung von Geruch und Geschmack sind noch nicht vorhanden.
Die reale Wirklichkeit besteht aus unmittelbar Erfassbarem, die virtuelle Wirklichkeit aus elektronisch erzeugten und gespeicherten Daten. Die Wirklichkeit ist relativ; ein historisches Objekt ist nicht allein deshalb schon wirklich, weil es der Mensch visuell wahrnimmt. An einem im Gehirn erzeugten Abbild orientiert er sich und schafft einen Bezug zur Außenwelt. Durch die direkte Konfrontation und durch merkliche Differenzen zwischen realer Wirklichkeit (Bild) und virtueller Wirklichkeit (Abbild) wird das virtuelle Objekt mit der Realität verglichen und dieser angepasst.26 Kulturelle Erfahrungsformen lassen sich nur auf der Basis der Unterscheidung von „wirklich“ und „nicht wirklich“ funktionalisieren, wobei Wirkliches und Nicht-Wirkliches (Illusion, Fiktion, Schein) zueinander in Bezug gesetzt werden. Das Reale und das Virtuelle erweisen sich als gegeneinander gleichsam durchlässig und miteinander verwoben. Das Wirkliche schließt virtuelle Anteile ein, wie auch zur Virtualität Wirklichkeitsanteile gehören können.27 Im täglichen Umgang mit Baudenkmalen spielt zunehmend die Erkenntnis eine besondere Rolle, dass es mehr als nur eine substanzielle Realität gibt, die ein Zurechtfinden in der bekannten realen Wirklichkeit der Denkmalpflege und mit den damit verbundenen Problemen erschwert. Bislang war der Denkmalpfleger nicht in der Lage, in eine andere Wirklichkeit einzutreten. Computer und Peripheriegeräte sind nun die „Wirklichkeitsmaschinen“, die ein Nachdenken über die subjektiven und objektiven Konsequenzen erfordern.
Abhängig von kulturellen und evolutionären Faktoren, verändert sich inhaltlich der Begriff Realität.28 In der virtuellen Realität erweitert sich der unmittelbare reale, physisch wahrnehmbare Raum zu dem vermittelten virtuellen Raum.29Zunehmend gewinnt die Immersion, das „Versinken“ in die Bilder, an Bedeutung.30 „Ein Bild ist immer eine Abstraktion der Welt in zwei Dimensionen. Es entzieht der wirklichen Welt eine Dimension und ermöglicht dadurch die Macht der Illusion. Die Virtualität hingegen zerstört die Illusion, indem sie uns in das Bild ‚eintreten’ lässt, indem sie ein dreidimensionales, realistisches Bild schafft (und dem Wirklichen sogar eine Dimension hinzufügt, um aus ihm das Hyperreale zu machen)“.31
Es stellt sich die Frage, ob die nur mittelbare, distanziert technisch wahrnehmbare, abstrakt vorstellbare, mathematisch zugängliche Wirklichkeit die wahre Wirklichkeit darstellt, nachdem sich die Realität durch die neuen Technologien der unmittelbaren sinnlichen Erfahrung zu entziehen beginnt.32 Die nicht substanzielle, virtuelle Realität ist abhängig von materiellen Grundlagen, z. B. von Computern, Schnittstellen- und zusätzlichen technischen Geräten. Die mittels des dominierenden visuellen Sinnessystems wahrgenommenen Bilder haben zur Position des Betrachters, der in der Realität verweilt, keinen Bezug. Abhängig von der Interaktion des Anwenders, bewegt und verändert sich der virtuelle Raum. Der reale Raum dagegen bestimmt die Aktionen des Menschen in der ihn tatsächlich umgebenden Realität.33 Der Betrachter wird gleichsam zum Doppelgänger, der sich nunmehr an seiner Stelle im virtuellen Raum befindet und handelt. Er vollzieht einen Wechsel vom externen Betrachter hin zum internen Akteur, der nicht mehr nur in einen Raum hineinschaut. Die Beziehung zwischen Mensch und Raum kehrt sich vom Realen ins Virtuelle um. Während der reale Raum starr und statisch verbleibt, wird der virtuelle abhängig vom interaktiven Betrachter bewegt und verändert, ohne die Position zu wechseln.
Die virtuelle Wirklichkeit ist nicht eindeutig definiert. Aufgrund von Abweichungen von der realen Wirklichkeit kann man von virtuellen Umgebungen sprechen, da die Wahrnehmung dieser Realität bislang nur eingeschränkt möglich ist. In der virtuellen Realität entsteht aus einem zweidimensionalen Abbild ein dreidimensional erfahrbares Bild; sie ist nicht ausschließlich und einzigartig. Der Computer übernimmt eine neue Rolle, indem er das Vorstellungsvermögen des Anwenders um neue virtuelle Wirklichkeiten erweitert, während dieser sich in zwei Wirklichkeiten befindet. Er muss sich beider Wirklichkeiten bewusst sein, um nicht einen Absturz zu erleben; er separiert Geist und Körper und ist zeitweise in beiden Realitäten anwesend. Die virtuelle Realität bedeutet eingebunden ein in eine virtuelle Welt mit realer Existenz.
Computertechnologie eröffnet in der Denkmalkunde34 die Möglichkeit, Baudenkmale, die nicht wirklich und nicht tatsächlich, im herkömmlichen Sinne nicht substanziell-real existent sind, in ihrer wahren Natur, nämlich als axiologische Phänomene des Bewusstseins intelligenter Wesen erfahrbar zu machen.
Das virtualisierte Baudenkmal ist eine alternative Art des Baudenkmals. Der Benutzer kann es wahrnehmen, sich darin bewegen, eine aktive Rolle übernehmen, und es kann das menschliche Verhalten beeinflussen. Auch dass es durch die „Wirklichkeitsmaschine Computer“ geschaffen, nicht substanziell-real ist, macht es für den Interaktiven nicht weniger real. Kritische Denkmalpfleger könnten die Ansicht vertreten, dass es keinen Sinn macht, das substanziellreale Baudenkmal ohne Verluste virtuell zu reproduzieren, da das reale Baudenkmal in jedem Fall dem virtuellen vorzuziehen sei. In weiterer Konsequenz kann man postulieren, dass das virtuelle Abbild gar nicht dem realen Bild entsprechen dürfe, um den Kontrast erlebbar machen zu können. Theoretisch wird zukünftig in der virtuellen Realität jedoch nur sehr wenig fehlen, was in der realen Realität vorhanden ist. Durch das Programmieren könnte das virtualisierte Baudenkmal mehr realistisch dargestellt werden, weil es anonym, risikofrei, ortsungebunden und zeitunabhängig wahrgenommen zu werden vermag. Man muss sich in Erinnerung rufen, dass die durch den Computer geschaffene Wirklichkeit der virtuellen Realität in der Denkmalpflege eine Hilfstechnologie war, die zunehmend den Status einer eigenen Wirklichkeit gewinnt und, bedingt durch die technologischen Möglichkeiten, mit neuen Herausforderungen konfrontiert wird. „Wenn sich das Territorium erst durch die neue Technologie der unmittelbaren sinnlichen Erfahrung zu entziehen beginnt, taucht logischerweise die Frage auf, ob die wahrnehmbare Wirklichkeit, die nichtwahrnehmbare oder die nur distanziert, technisch zugängliche, abstrakt vorstellbare, mathematisch zugängliche Wirklichkeit die wahre Wirklichkeit darstellt.“35
Die Einstellung der Gesellschaft sowie der Institutionen des Denkmalschutzes und der Denkmalpflege unter dem Angebotsdruck der elektronischen Virtualisierung haben Einfluss und Konsequenzen auf den Umgang mit substanziell-realen Baudenkmalen.
Kulturelles Streben gibt dem menschlichen Dasein einen Sinn. Im Umgang mit der historischen baulich-räumlichen Umwelt offenbart sich eine kulturelle Ebene der Öffentlichkeit. Ein Aspekt unter anderen ist das Bewahren der substanziell-realen Zeugnisse der Kulturgeschichte.
Zwei Begriffe - beide Bestandteile des kulturellen Erbes - sind grundsätzlich zu unterscheiden: das kulturelle Gedächtnis und das Kulturgut. Der Begriff Kulturgut bezieht sich auf jene Objekte, die substanziell einen kulturellen Wert vertreten; die Erhaltung und Erinnerung liegen im Interesse der Gesellschaft. Das Kulturgut (natura extracta) wird aus der Summe der vorgefundenen Natur (natura naturans) und der durch menschliches Handeln gestalteten Natur (natura naturata) durch aktive Auswahl gleichsam herausgefiltert. Das auf diese Weise separierte Kulturgut ist sozusagen der materielle Teil des kulturellen Erbes, das auch die immateriellen Güter einschließt. Die immaterielle Dimension von Kulturgut bezieht sich auf kollektive Denkweisen, Gefühle, Überzeugungen, Vorstellungen und Wissensformen. Das kulturelle Gedächtnis beinhaltet eine weitere immaterielle Seite des kulturellen Erbes.36 Es schließt in diesem Sinne auch ein kollektiv geteiltes Wissen über die Vergangenheit ein. Am weitesten - auch am Verschwommensten - wird dem Begriff entsprochen, wenn die gesamte Gegenwart als kulturelles Erbe verstanden wird.37
Der Denkmalgedanke entstand als Folge der Befriedigung eines Bedürfnisses, Zeichen zu setzen zur Erinnerung und Orientierung für die gegenwärtige und die nachfolgende Generation, ursprünglich entstanden durch den Grabeskult. Seine Ausweitung erfolgte aus religiösen Vorstellungen, aus der Vergegenständlichung zeitgenössischer Personen und Ereignisse der Vergangenheit, bis hin zum umfassenden Begriffsinhalt von Sachzeugnissen der Bau- und Siedlungstätigkeit.
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