Ödön von Horváth: Der jüngste Tag

 

 

Ödön von Horváth

Der jüngste Tag

Schauspiel in sieben Bildern

 

 

 

Ödön von Horváth: Der jüngste Tag. Schauspiel in sieben Bildern

 

Vollständige Neuausgabe.

Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2016.

 

Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:

A. Provost, Zugunglück zwischen Versailles und Bellevue, 1842-1855

 

ISBN 978-3-8430-6058-5

 

Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:

ISBN 978-3-8430-7801-6 (Broschiert)

ISBN 978-3-8430-7802-3 (Gebunden)

 

Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.

 

Erstdruck 1937.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.

 

Personen

 

Thomas Hudetz, Stationsvorstand

Frau Hudetz

Alfons Hudetz, ihr Bruder, Drogeriebesitzer

Der Wirt zum »Wilden Mann«

Anna, seine Tochter

Ferdinand, deren Bräutigam, ein Fleischhauer von auswärts

Leni, Kellnerin beim »Wilden Mann«

Frau Leimgruber

Ein Waldarbeiter

Ein Vertreter

Ein Gendarm

Kohut, ein Heizer

Ein Staatsanwalt

Ein Kommissar

Ein Kriminaler

Ein Streckengeher

Pokorny, ein seliger Lokomotivführer

Ein Gast

Ein Kind.

 

Schauplätze:

 

Erstes Bild: Kleine Bahnstation

Zweites Bild: Auf dem Bahndamm, wo zwei Züge zusammengestoßen sind

Drittes Bild: Das Gasthaus zum »Wilden Mann«

Viertes Bild: Beim Viadukt

Fünftes Bild: Im Gasthaus zum »Wilden Mann«

Sechstes Bild: In der Drogerie

Siebentes Bild: Auf dem Bahndamm, wo einst die beiden Züge zusammengestoßen sind.

 

In unseren Tagen.

Zwischen dem zweiten und dritten Bild liegen vier Monate.

Pause nach dem fünften Bild.

 

Erstes Bild

Wir befinden uns vor einem Bahnhofsgebäude und sehen von links nach rechts eine Tür, die nach dem ersten Stock führt, einen Fahrkartenschalter und abermals eine Tür mit Milchglasscheiben und der Überschrift »Stationsvorstand«. Daneben einige Signalhebel, Laufwerk und dergleichen. An der Wand kleben Fahrpläne und Reisereklame. Zwei Bänke. Rechts verläuft aus dem Hintergrunde nach vorne die Bahnsteigschranke, aber die Schienen sieht man nicht – man hört also nur die Ankunft, Abfahrt und Durchfahrt der Züge. Hier hält kein Expreß, ja nicht einmal ein Eilzug, denn der Ort, zu dem dieser Bahnhof gehört, ist nur ein etwas größeres Dorf. Es ist eine kleine Station, aber an einer großen Linie. Auf den Bänken warten zwei Reisende: Die Bäckermeistersgattin Frau Leimgruber und ein Waldarbeiter mit einem leeren Rucksack und einer Baumsäge. Das Läutwerk läutet, dann wirds gleich wieder still.

Jetzt kommt ein dritter Reisender von links mit Hand- und Aktentasche, ein Vertreter aus der Stadt. Er hält und blickt auf die Bahnhofsuhr. Es ist neun Uhr abends, eine warme Frühlingsnacht.

Vertreter tritt an den Fahrkartenschalter und klopft, aber es rührt sich nichts, er klopft abermals, und zwar energisch.

 

WALDARBEITER. Da könnens lang klopfen, der macht erst knapp vor Abfahrt auf.

VERTRETER blickt wieder auf die Uhr. Hat denn der Zug Verspätung?

FRAU LEIMGRUBER lacht hellauf, zum Waldarbeiter. Was sagens zu dieser Frage?

WALDARBEITER grinst. Der Herr kommt vom Mond – Zum Vertreter. Natürlich haben wir Verspätung, dreiviertel Stund!

VERTRETER. Dreiviertel Stund? Elende Schlamperei – Er zündet sich wütend eine Zigarre an.

FRAU LEIMGRUBER. Es ist eben alles desorganisiert –

WALDARBEITER fällt ihr belehrend ins Wort. Es kommt eben alles daher, weil immer nur abgebaut und abgebaut wird. – Die werden noch so lange rationalisieren, bis überhaupt nix mehr fahren wird.

VERTRETER bläst den Rauch von sich. »Rationalisierung« – ein übles Kapitel.

WALDARBEITER. Die schicken ja jeden zum Teufel, das beste Menschenmaterial.

FRAU LEIMGRUBER wird plötzlich geschwätzig, zum Vertreter. Zum Beispiel hier auf unserem Bahnhof: was meinens, wieviel Personal wir da haben? Einen, einen einzigen Mann haben wir da.

VERTRETER perplex. Wieso dies? Nur einen einzigen Beamten?

FRAU LEIMGRUBER. Zum Glück ist unser Herr Vorstand ein wirklich tüchtiger Mann, ein gebildeter, höflicher, emsiger Charakter, ein selten strammer Mensch! Der scheut keine Arbeit, er trägt die Koffer, vernagelt die Kisten, stellt die Weichen, steht am Schalter, telegraphiert und telephoniert: – alles in einer Person! Und miserabel bezahlt ist er auch.

WALDARBEITER. Wer?

FRAU LEIMGRUBER. Na der Vorstand.

WALDARBEITER. Miserabel nennen Sie das? Ich nenn das eine königliche Gage – denkens doch nur an seine freie Dienstwohnung da droben! Er deutet auf den ersten Stock. Der hat ja sogar einen Salon und wenn er aufsteht, hört er die Vöglein zwitschern und sieht weit ins Land – Er grinst. Jetzt läutet das Läutwerk und der Stationsvorstand Thomas Hudetz tritt rasch aus seiner Türe, er bedient den Signalhebel und schon rast ein Schnellzug vorbei, er salutiert und wieder ab.

FRAU LEIMGRUBER. Das war der Expreß, der hält nicht bei uns.

VERTRETER. Kann ich ihm nachfühlen. Wieviel Einwohner hat denn das Nest?

WALDARBEITER. Zweitausenddreihundertvierundsechzig.

 

Stille.

 

FRAU LEIMGRUBER betrachtet den Vertreter, plötzlich. Hats Ihnen bei uns nicht gefallen?

VERTRETER. Ich bin ein reisender Kaufmann, liebe Frau, und das Schicksal hat mich weit in der Welt herumgetrieben, aber eine solche fulminante Interessenlosigkeit wie hier bei euch, das hab ich noch nirgends erlebt! Ihr seid mir schöne Ausnahmen!

FRAU LEIMGRUBER. Was habens denn zu verkaufen?

VERTRETER. Kosmetische Artikel.

WALDARBEITER. Ha?

VERTRETER. Schönheitsmittel.

WALDARBEITER. Schönheit? Er grinst. Wir sind uns schön genug.

VERTRETER. Die Hauptsache ist, daß man sich selber gefällt – Er wendet sich wieder an Frau Leimgruber. Eine einzige Kundschaft hat sich meiner erbarmt – Er lächelt geschmerzt.

FRAU LEIMGRUBER sehr neugierig. Wer?

VERTRETER. Das Fräulein Kellnerin beim Wilden Mann.

WALDARBEITER überrascht. Die Leni? Also das gibts nicht!

VERTRETER perplex. Warum soll es das nicht geben?

WALDARBEITER. Weil die nicht so blöd ist, daß sie sich so einen Schönheitsschmarren einreden läßt.

VERTRETER braust auf. Erlauben Sie mal! Im zwanzigsten Jahrhundert –

FRAU LEIMGRUBER unterbricht ihn, zum Waldarbeiter. Aber der Herr wirds doch wissen, wem er was verkauft hat.

VERTRETER empört. So eine kleine, schlanke wars – noch ein halbes Kind.

FRAU LEIMGRUBER zum Waldarbeiter. Ach, der meint die Anna!

WALDARBEITER. Drum!

FRAU LEIMGRUBER zum Vertreter, geschwätzig. Das ist nicht die Kellnerin, das ist die Tochter vom Wirt, die Anna! Sie ist mit einem Fleischhauer verlobt, aber der ist von auswärts und kommt nur einmal in der Woche.

VERTRETER. Von mir aus.

WALDARBEITER. Ich sag nur, die hats faustdick hinter den Ohren.

FRAU LEIMGRUBER überrascht. Wer?

WALDARBEITER. Na, die Anna. Höhnisch. Dem Herrn sein halbes Kind!

FRAU LEIMGRUBER. Aber wie könnens denn so was sagen! Die Anna ist doch die personifizierte Unschuld in persona.

WALDARBEITER. Unschuldig ist sie vielleicht schon, aber trotzdem hat sies hinter den Ohren.

FRAU LEIMGRUBER zum Vertreter. So wird man unschuldig verleumdet.

VERTRETER halb zu sich. Der Einbruch der Plebejer. Der Untergang des Abendlandes –

 

Jetzt tritt aus der Tür links die Gattin des Stationsvorstandes, Frau Hudetz, mit ihrem Bruder Alfons, dem Drogisten.

 

FRAU LEIMGRUBER grüßt. Guten Abend, Frau Vorstand!

FRAU HUDETZ. Guten Abend, Frau Leimgruber. Sie unterhält sich leise mit Alfons.

FRAU LEIMGRUBER versucht zu horchen, kann aber nichts verstehen, wendet sich an den Vertreter, der neben ihr Platz genommen hat, und deutet versteckt auf Frau Hudetz, unterdrückt. Das ist die Gattin des Vorstandes.

VERTRETER desinteressiert. Interessant.

FRAU LEIMGRUBER. Und der Mann ist ihr Bruder.

VERTRETER sieht gar nicht hin. Aha.

FRAU LEIMGRUBER gehässig. Brüderlein und Schwesterlein, die passen prima zusammen –

 

Nun läutet das Läutwerk wieder und Hudetz tritt rasch aus seiner Tür, wieder bedient er den Signalhebel und schon rast ein Zug vorbei, er salutiert und will ab, erblickt jedoch überrascht seine Frau und Alfons, die beiden Männer fixieren sich etwas, dann grüßt Alfons, Hudetz dankt und ab durch seine Tür.

 

FRAU HUDETZ leise zu Alfons. Er spricht seit Tagen kein Wort mehr mit mir.

ALFONS. Nur Mut, Schwester.

FRAU HUDETZ. Wirst sehen, ich werde noch verrückt.

ALFONS. Du bist überreizt durch euren ewigen Streit.

FRAU HUDETZ. Aber die Stimme, die ich höre –

ALFONS fällt ihr ins Wort. Wir hatten in unserer Familie keinen einzigen Fall von Geisteskrankheit. Deine Erregungszustände sind nur nervöser Natur und sonst nichts, das wird dir jeder Arzt bestätigen. Eure Ehe ist leider ein gordischer Knoten und es gibt nur eine Lösung.

FRAU HUDETZ unterbricht ihn.