Sonja Vukovic

gegessen

 

Wer schön sein will,
muss leiden, sagt der Schmerz …

BASTEI ENTERTAINMENT

 

Dies sind meine Erinnerungen. Manche sind glasklar, andere wiederum im Lauf der Jahre etwas verblasst oder gar verdrängt. Manche Geschehnisse und Personen hat es genau so gegeben. Andere wurden, basierend auf der wahren Begebenheit, zum Schutz von individuellen Persönlichkeitsrechten stark abgewandelt. Insbesondere die Dialoge sind inhalts-, aber nicht wortgetreu wiedergegeben.

Dies ist meine Geschichte, sie hat keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit.

 

I feel something so right

By doing the wrong thing

And I feel something so wrong

By doing the right thing

I couldn’t lie, couldn’t lie, couldn’t lie

Everything that kills me makes me feel alive

One Republic, Counting Stars

prolog

In dieser Nacht übertreibe ich es vielleicht etwas. Habe ich zu viel gegessen? Vielleicht breche ich auch zu viel auf einmal aus. Ich weiß es nicht. Jedenfalls bekomme ich das eben Erbrochene einfach nicht die Toilette hinuntergespült. Ich spüle und spüle, aber es will nicht wegrutschen. Stattdessen sammelt sich immer mehr Wasser im Klo, das sich mit dem Erbrochenen zu einer ekligen Kotzbrockensuppe mischt.

Okay. Also: Wenn ich mir das ansehen kann, dann kann ich auch hineingreifen! Ich schließe die Augen, halte kurz die Luft an, und dann versuche ich, den Kotzklumpen, der unten festsitzen muss, mit der Hand zu lösen. Aber ich komme nicht ran, meine Hand, die jetzt ellenbogentief im Klo hängt, bekommt einfach nichts zu fassen.

Ich hole die rote Gummi-Saugglocke aus dem Schrank unter dem Waschbecken, pumpe und pumpe, aber dabei rühre ich bloß alles durch. Scheiße! Was soll ich bloß tun? Verdammt!

Immer wieder treibe ich einem unsichtbaren Faden aus Verlangen hinterher in dermaßen abartige Situationen. Warum kann ich nicht ganz normale Mädchenprobleme haben, die man mit einem Abdeckstift wegretuschiert? Für mich bräuchte es ein Ganzkörper-Makeover, etwas, das alles verbirgt, was ich bin. Ich schäme mich. Jeden Tag. Jede Sekunde. Für weitgehend alles, was ich tue und bin.

Und kann doch nicht aufhören.

Als hinge mein Leben davon ab, das längst kein wirklich lebenswertes mehr ist, fresse und kotze und renne und hungere und betäube ich mich so häufig und so hart es eben nur geht.

Bin seit geraumer Zeit eine Hülle. Eine Hülle, die ich hasse. Außerstande darin irgendwas zu fühlen außer diesem Selbsthass. Und Angst. Und bohrende Zweifel. Traurigkeit.

Mir selbst nahe sein, mich spüren, das ist etwas, das ich einfach nicht ertragen kann.

Manchmal trinke ich mich selbst schön.

Oder nehme andere Drogen. Alles, um nicht hier und jetzt zu sein. Bei mir.

Mit diesem Buch spüre ich mir selbst nach und lege sämtliche Geheimnisse meines Lebens offen. Jedem gegenüber, der es liest. Ich trete damit aus meinem eigenen Schatten und werde um einige Beichten leichter. Um Leichtigkeit ging es in meinem Leben immer. Erst wollte ich weniger sein, später dann einfach nicht mehr so schrecklich kompliziert. Schließlich einfach: frei. Von Sucht. Von Leid. Von all der Scham.

Hier komme ich Antworten auf die Spur – und mir endlich etwas näher. Mit 31 Jahren, nach 13 Jahren Magersucht und Bulimie.

Was dieses Buch nicht ist: eine Anklage. Ich entschuldige und beschönige nichts – aber das vor allem aus der tiefen Überzeugung heraus, dass es zum Heilen einer Sucht, wie ich sie jahrelang hatte, dazugehört, ehrlich mit sich und zu anderen zu sein. Ich hege keinen Zorn und spüre keine Verzweiflung mehr. Ich habe keine offene Rechnung. Mit niemandem. Und ich bin auch nicht mehr enttäuscht von mir selbst. Ich bin durch. Was war, ist jetzt: gegessen.

Oder wie mein Mann sagte: »Sonja, vielleicht musst du das Buch jetzt schreiben, bevor die Erinnerungen an das, was dir geschehen ist, ganz verblassen.«

Berlin, März 2016