Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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ISBN 978-3-949536-01-4
1. Auflage 2021
© 2021 Marion Glück Verlag, Ruhlsdorfer Straße 120, 14513 Teltow
Lektorat: Marion Glück
Korrektorat: Bianca Weirauch
Autorenfotos: Sandra Polli Holstein, studioline GmbH & Co. KG
Umschlaggestaltung: Grit Gebauer
Umschlagabbildung: Sandra Polli Holstein
Satz und Layout: Marion Glück und Grit Gebauer
ISBN E-PUB 978-3-949536-05-2
Alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung.
Herstellung: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
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Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter:
www.marionglueckverlag.de
Dieses Buch widme ich von Herzen meinen beiden „Männern“, allen Betroffenen und auch denjenigen, die aus Sorge, die KrebsvorSORGE vor sich herschieben.
All meinen Lieben, die mich aufgemuntert, motiviert und aufgefangen haben - Danke, dass ihr da seid! Danke an das Team des Asklepios Tumorzentrum Hamburg.
Ein klarer Sommermorgen, es ist noch früh und die Nebelschwaden hängen tief über den Wiesen. Langsam färbt sich der Himmel pastellblau, bis bald ein orange leuchtender Streifen am Horizont zu sehen ist. Die Weizenfelder heben sich hell davon ab. Mehr und mehr verläuft die Färbung am Firmament von Blau, Lila zu Hellrosa, bis die Baumwipfel über dem Nebelband von der aufgehenden Sonne angeleuchtet werden. Die Wassersprenger auf den Feldern kündigen wieder einen heißen Tag an.
Erst fünf Uhr morgens und wir sind bereits seit einer Stunde unterwegs in den ersten Urlaub seit meiner Krebserkrankung. Marco fährt und ich sehe mir diesen Sonnenaufgang voller Freude an. Wie sehr ich das vermisst habe. Dieses Eintauchen in das Hier und Jetzt. Es ist ein inneres Ankommen, Bei-mir-Sein und In-mir-Ruhen. Für diesen Moment scheint nichts wichtig zu sein und ich habe es vermisst, dieses Gefühl. Schon jetzt kann ich mich nicht mehr daran erinnern, wann ich das letzte Mal so alleine mit mir und meinen Gedanken war.
Erstaunlich, wie rasch man selbst nach einem Schicksalsschlag wie meinem wieder in die alltägliche Tretmühle des Lebens gelangt. Das bedeutet wohl, ich bin wieder integriert. Integriert in die arbeitende, soziale Gesellschaft.
Ob ich dafür nicht dankbar bin? Doch, das bin ich. Und doch sei jedem die Frage erlaubt: „Ist es denn wirklich das, was ich mir wünsche?“
Stell dir vor, du hättest nur noch ein bis vier Jahre zu leben. Mit einer überdurchschnittlichen Portion Glück vielleicht auch länger. Es geht also noch nicht ums „letzte Mahl“. Du hast allerdings schon mal eine Tischreservierung. Irgendwie blöd.
Das mag der Grund sein, warum es auch mal vorkommt, dass Partnerschaften und Ehen eine Krebserkrankung nicht überstehen. Krebs verändert so ziemlich alles und das gilt beinahe genauso für betroffene Lebenspartner und Lebenspartnerinnen. Wenn dir die Endlichkeit plötzlich so deutlich vor Augen geführt wird, verschieben sich die persönlichen Prioritäten. Denn eins ist klar, auch in einer funktionierenden Partnerschaft gibt es nicht nur gemeinsame Wünsche und Ziele. Manchmal sind es sogar Jugendträume, die an solchen Wendepunkten des Lebens wieder zum Vorschein kommen.
Was tun, wenn das auf einmal nicht mehr zusammenpasst und ein Partner oder eine Partnerin sich schlicht nicht im Stande sieht, mit der Diagnose Krebs zu leben? Schließlich kennt man sich oft nur aus vermeintlich guten Zeiten. Solche Krisen bringen auch gerne neue Charakterzüge ans Tageslicht, welche natürlich nicht nur schön sind.
Ich habe das Glück, viele meiner Träume, sowohl beruflich wie auch privat, schon gelebt zu haben und einen Partner an meiner Seite zu wissen, der tatsächlich in guten wie in schlechten Zeiten zu mir steht. Aber worauf ich hinaus möchte, ist, dass wir im Leben ehrlich zu unseren Schwächen, Zielen und Träumen stehen sollten. Auch wenn der Zeitpunkt manchmal denkbar ungünstig erscheint.
PS: Ich hoffe auf dein Verständnis, wenn ich der Einfachheit halber ab jetzt die männliche Form für beide Geschlechter verwende. Es würde vom Wesentlichen ablenken, wenn ich immer beide Formen oder gar drei im Folgenden verwenden würde. Gleichwohl dürfen sich bitte alle Menschen angesprochen fühlen.
Bildbeschreibung
Oktober 1997 - Juli 1998
Meine Visionen wurden wahr - als Musicaldarstellerin tanzte und sang ich auf den Brettern, die mir die Welt bedeuteten. Die große weite Welt lag mit jedem Ablegen des Kreuzfahrtschiffes AIDACara vor mir und ich traf meine Liebe auf den ersten Blick wieder.
AIDA Show, Backstage kurz vor Showbeginn
Pool Show in der Karibik - “Chaka-chaka“!
Backstage nach der Show - ich liebe mein Leben!
“Arielle“ getragen auf den Schultern meiner Tanzpartner.
Crew-Party Deck 5, Heck - beste Köche, beste Pizza.
Einfahrt zum Dock in Barcelona - eine Reise geht zu Ende und Arielle schickt noch einen Gruß!
Ich wollte raus aus dem kleinen Dorf, aus dem das Postauto nur alle halbe Stunde fuhr. Ich wollte etwas von der großen, weiten Welt sehen. Ich wollte mehr als den vernünftigen Bürojob, den ich nach der höheren Handelsschule begonnen hatte. Meinen ersten Berufswunsch, Schlangenfrau zu werden, hatte ich begraben, doch neben der faszinierenden Beweglichkeit liebte ich es zu tanzen. Also nahm ich mit einundzwanzig Jahren all meinen Mut zusammen und meldete mich bei der Aufnahmeprüfung einer Berufsausbildung für zeitgenössischen Tanz, Gesang und Schauspiel an. Noch heute spüre ich die Aufregung des Vorabends, wenn ich daran denke. Kopfschüttelnd stand ich vor dem Spiegel: „Machst du das morgen wirklich? Du bist total verrückt!“ Noch verrückter wurde es, als die Schulleitung mir tatsächlich einen Ausbildungsvertrag anbot. Ganz kurz fragte ich mein Spiegelbild: „Nehmen die jeden oder kannst du wirklich was?“ Es war mir egal und ich dachte: Egal, ich mach‘s!“
Das darauffolgende Jahr an dieser Schule und der spätere Wechsel zu einer ballettpädagogischen Ausbildung mit privatem Gesangsunterricht war eine sehr anstrengende und intensive Zeit, aber auch eine meiner besten! Zwei Jahre täglich fünf Stunden Training: Ballett-, Jazz- und Modern Dance, Gesang und Musiktheorie forderten und förderten meine Disziplin, die ich bis dahin von mir nicht kannte. Mit meinem Ehrgeiz, einem Stipendium und einigen Nebenjobs finanzierte ich mir die Ausbildung und eine kleine Wohnung am Stadtrand von Zürich. Nach dem Motto „Ich war jung und brauchte das Geld“ jobbte ich als Bürohilfe, Aktmodell, Kellnerin und Putzfee in einem Swingerklub, worauf ich ehrlich nicht sehr stolz bin. Doch ich hatte ein Ziel vor Augen. Ich wollte tanzen, singen und meiner tiefen Leidenschaft zum Leben einen Sinn geben.
Wochen später, nachdem ich bei einem Casting vorgetanzt und gesungen hatte, bekam ich das Angebot einer Reederei für ein Engagement als Musicaltänzerin und Ensemblesängerin. Der Vertrag beinhaltete zwei Monate Proben in Hamburg und anschließend sechs Monate auf einem Kreuzfahrtschiff, welches quer durch die Karibik schipperte. Für mich ein Volltreffer. Ich schwebte vor Glück, ahnte aber auch, dass dies einer der bisher schwersten Schritte in meinem Leben werden würde.
Zu diesem Zeitpunkt hatte ich neben meiner Ausbildung bereits kleinere Theaterjobs, arbeitete als Tänzerin in einem der ersten Schweizer Musicals und stand kurz vor dem Examen zur Ballettpädagogin. Mit meiner Zwillingsschwester Claudia und ihrer zweijährigen Tochter Sarah lebte ich unterdessen in einer hübschen Dreizimmerwohnung und nun stand ich plötzlich vor der Entscheidung, alles für acht Monate hinter mir zu lassen. Doch dafür hatte ich die letzten Jahre gearbeitet und davon träumte ich.
Einen Monat später brachte meine Zwillingsschwester Claudia mich zum Hauptbahnhof. Mein Zug nach Hamburg stand schon auf dem Bahngleis und schweigend stellten wir meine Koffer in den Eingangsbereich des Zuges. Ohne zu wissen, ob wir uns im nächsten Halbjahr noch einmal wiedersehen würden, umarmten wir uns weinend. Der Abschied war kaum zu ertragen, es zerriss uns beiden beinahe unser tief verbundenes Schwesterherz. Meine kleine Nichte Sarah strich mir mit ihren kleinen Händen die Tränen von den Wangen und verstand überhaupt nicht, was los war. Dann folgte der Pfiff des Schaffners und signalisierte, dass es jetzt wirklich losging. Mit einem Ruck setzte sich die Bahn in Bewegung. Ein kurzes Winken und Sekunden später konnte ich meine Liebsten schon nicht mehr sehen. Mit roten, verquollenen Augen ließ ich mich auf den reservierten Sitzplatz fallen.
Ein neues Kapitel meines Lebens hatte begonnen.
In Hamburg angekommen und abgelenkt von den vielen, neuen Eindrücken, hielt sich mein Heimweh in Grenzen. Ich fühlte mich wohl in meinem neuen Leben und verstand mich bestens mit meinen neuen Kolleginnen und Kollegen des Showensembles. Täglich lernten wir unzählige Lieder sowie Texte und studierten verschiedene Choreographien ein. So vergingen die acht Wochen Probenarbeit wie im Flug. An einem der letzten Tage gegen Ende der Theaterprobe kam ein Bekannter unseres Trainerpärchens zu Besuch. Er war ein groß gewachsener, gut aussehender Typ mit einem von der Sonne gebräunten Teint und braunen Augen. Er war Tontechniker und kam gerade von einer mehrmonatigen Kreuzfahrttour zurück. Nur kurz vorbeigekommen, um den beiden Trainern „Hallo“ zu sagen, trafen sich im Gewusel der Probe unsere Blicke. Wir lächelten uns an und da war es – dieses Kribbeln im Bauch, das du nie mehr vergisst. Am Ende der Probe verabschiedeten sich alle und der Termin für eine kleine Abschiedsparty wurde festgelegt, denn schon in wenigen Tagen sollte es ja für uns auf die große Reise gehen.
Bei der Abschiedsparty traf ich ihn erneut. Er hieß Marco und wieder lächelten wir uns an, suchten unauffällig auffällig den Blickkontakt. Natürlich ohne dass sich das einer von uns hätte anmerken lassen! Es war ein wunderschöner Abend, der gerne nie hätte enden können. Da jedoch zwei Darstellerinnen, die aktuell an Bord arbeiteten, das Schiff für ein Folgeengagement frühzeitig verlassen mussten, traten meine Kollegin Jasmin und ich den Vertrag bereits eine Woche früher an, als ursprünglich geplant. Somit hieß es für uns, in zwei Tagen für ein halbes Jahr mit dem Schiff in See zu stechen. Und ich dachte: Typisch! Saublödes Timing! Spät am Abend fuhr Marco meine Mitbewohnerin Anke und mich zu der kleinen Wohnung in der Stresemannstraße, die extra für uns angemietet worden war. Anke war eine quirlige, junge Kollegin mit Lockenkopf und wir hatten uns während der Probenzeit in Hamburg immer gut verstanden. Doch in diesem Augenblick wünschte ich mir insgeheim, sie wäre nicht dabei gewesen. Mit einem Küsschen auf die Wange und einer flüchtigen Umarmung verabschiedete sich Marco von Anke und von mir. Mein Herz klopfte, die Schmetterlinge tanzten in meinem Bauch Tango und trotzdem ging ich ein wenig traurig zu Bett.
In der letzten Nacht kam ich nicht zur Ruhe. Die Gedanken kreisten um Tanzschritte, Liedtexte und um ihn, Marco. Vom ersten Augenblick an lag ein Knistern in der Luft, wenn sich unsere Blicke trafen. Wir suchten beide die Nähe des anderen und ich fragte mich, warum er mir ausgerechnet in dieser Zeit über den Weg laufen musste. Ob er genauso empfand oder täuschten mich meine Gefühle? Eigentlich egal, denn es stand in den Sternen, ob wir uns jemals wiedersehen würden.
Als alles verstaut und eingepackt war, saß ich erschöpft auf meinem Gepäck. Das war eine packtechnische Höchstleistung und forderte meinen vollen Einsatz, denn mehr als einen großen Koffer und das Handgepäck war trotz der halbjährigen Reise nicht drin! Mit Jasmin, einer wirklich tollen Sängerin, sollte ich auch eine Doppelkabine mit Bullauge beziehen. In Mallorca angekommen, stiegen wir im Port de Palma auf das riesige Schiff und hatten von da an genau sieben Tage Zeit, um die vielen einstudierten Choreographien und Liedtexte „on Stage“ zu proben und das erste Mal auf die Bühne zu bringen.
Der Einzug in die Doppelkabine auf Deck 3 war dann überraschend und etwas ernüchternd. Nicht einmal der Koffer fand einen geeigneten Platz. In der sogenannten „Nasszelle“ von maximal drei Quadratmetern konnte bei Zeitknappheit und je nach Multitaskingfähigkeit alles gleichzeitig erledigt werden, ohne dafür ein Pflegeprodukt extra bereitstellen zu müssen! Egal, ob man unter der Dusche oder auf dem Klo war, wirklich ALLES war in greifbarer Nähe. Auch die Toilette mit Unterdruckabzug war gewöhnungsbedürftig. Das Ding war lauter als mein Entsafter in der heimischen Küche! Unter diesen Bedingungen fiel es schwer, in bestimmten Situationen Diskretion zu bewahren.
Den Weg von der Kabine ins Theater und wieder zurück zu finden, stellte mich vor die nächste Herausforderung. Die Wege erschienen mir selbst nach Tagen noch wie ein riesiger Irrgarten.
Das Arbeiten und Leben auf einem Kreuzfahrtschiff war eine Welt für sich. Es musste kein Kühlschrank aufgefüllt oder Staub gesaugt werden. Sogar meine Wäsche konnte ich schmutzig in der Wäscherei abgeben und bekam sie sauber und gebügelt zurück. Sieben Tage die Woche drehte sich mein Leben nur ums Tanzen, Singen und um Essenszeiten. Die ersten Premieren, bei denen ich als Tänzerin und Sängerin auf der Bühne stand, forderten meinen vollen Einsatz und ungeteilte Aufmerksamkeit. Und dann waren da die Momente auf der Bühne, in denen wir als Ensemble mit Leistung, Präzision und Leidenschaft das Publikum begeisterten und zum Jubeln brachten. Glücksgefühl pur.
Eine Woche später kamen die restlichen Darsteller und Darstellerinnen unserer Truppe an Bord. Wir probten weiter, was das Zeug hielt, damit die Gäste abends im Theater nichts von dem Wechsel des Ensembles mitbekamen. Für bestimmte Entertainmentaktionen wurde auch mit der Crew aus anderen Bereichen zusammengearbeitet. Das war vermutlich auch der Grund, warum wir „Neuen“ aufmerksam beobachtet und mit Neugierde begrüßt wurden. Schließlich verbrachte man Wochen, teilweise Monate zusammen auf dieser schwimmenden, kleinen Welt.
Mit der dritten Woche an Bord ging der Theaterbetrieb langsam in den Alltag über. Zwischen Proben und Vorstellungen war schon mal Zeit für die eine oder andere Verabredung zum Landgang. Vor allem abends nach der Show wurde in der Disco ausgiebig gecheckt, wer wem gefiel und wer sich mehr oder auch mal weniger sympathisch war. Natürlich wurde backstage alles am nächsten Tag während der Showvorbereitungen ausführlich besprochen. Auch ich lernte nette, tolle Jungs und Mädels kennen, aber in Gedanken war ich immer wieder bei Marco.
Nachdem wir für die Atlantiküberquerung mehrere Tage auf See verbracht hatten, kamen wir in der Karibik an und ich genoss diese aufregende Zeit in vollen Zügen. Die Proben für die Shows am Abend wurden kürzer und so hatten wir tagsüber auch mal die Möglichkeit, Ausflüge an die schönsten Strände zu unternehmen. Es war immer etwas los, immer bestes Wetter und alle hatten Spaß an diesem Abenteuer. Doch in den wenigen, ruhigen Momenten vermisste ich meine Lieben zu Hause und hoffte, dass es ihnen gut ging. Es gab damals noch keine Mobiltelefone und weil das Anrufen über das Bordnetz ein kleines Vermögen kostete, kaufte sich die Crew Telefonkarten. Damit konnten wir in den Häfen an den öffentlichen Apparaten mit der Familie und den Freunden zu Hause sprechen. Ich versuchte, Claudia mindestens einmal die Woche zu erreichen, doch durch die Zeitverschiebung und die begrenzte Zeit im Hafen klappte das leider nicht immer.
In Guadeloupe erreichte ich sie endlich: „Hoi Schwöschterli, wie gahts dir?“, begrüßte ich sie.
„Alles guet bi euis in Züri. Ich han übrigens en Ma kenneglernt!“ trällerte sie mir entgegen.
Überrascht erfuhr ich, dass sie einen Mann datete, der vielleicht bald Sarah kennenlernen sollte. Ich freute mich für sie und hoffte insgeheim, dass es diesmal der Richtige sein würde. Wir verabschiedeten uns und der gefühlte Klumpen im Bauch ließ mich spüren, wie sehr sie mir fehlte.
Kaum waren wir ein gut eingeschliffenes Theaterteam, stand der nächste Personalwechsel bei den Technikern an. Und ganz heimlich hoffte ich immer noch, dass der Zufall es wollte, dass Marco einen Einsatz als Tontechniker hier an Bord fuhr. Trotz der manchmal etwas sensiblen Zusammenarbeit zwischen Theatertechnikern und Bühnendarstellern (weil man mal zu laut, dann wieder zu leise, da falsch gesungen oder an der falschen Stelle gestanden hatte), erfuhr ich, dass der geplante neue Tontechniker seinen Vertrag kurzfristig abgesagt hatte und dafür vielleicht ein ehemaliger Kollege einspringen würde. Sofort schlug mein Herz schneller und ich versuchte, mir meine Aufregung über diese Neuigkeit nicht anmerken zu lassen.
Eigentlich wollte ich mich auf keinen Mann einlassen. Ich wollte frei sein, tun und lassen, was ich wollte, ohne Kompromisse und Verpflichtungen. Meine Welt drehte sich darum, sie zu entdecken, Spaß zu haben und um meinen Job. Doch kaum stand fest, dass Marco tatsächlich wieder an Bord kommen würde, war ich aufgeregt wie ein Schulmädchen und furchtbar gespannt auf unser Wiedersehen. Ob das Kribbeln wieder da wäre? Vielleicht würden wir einfach nur Kollegen werden. Schließlich waren einige Wochen vergangen, als wir uns das letzte Mal gesehen hatten. Die Fragen drehten sich in meinem Kopf und ich war froh, als das Warten endlich ein Ende hatte.
Als der Tag kam und Marco aufstieg, fand ebenfalls der reguläre Passagierwechsel statt. Überall war Betrieb und einige Darsteller des Showensembles hatten kleine Nebenjobs, wie beispielsweise die Begrüßung von neuen Passagieren oder das Posen für Fotos. Auch ich war eingeteilt, allerdings auf einem der Decks und nicht unten an der Pier, wo alle über die Gangway mussten, um an Bord zu gelangen.
Nach getaner Arbeit spazierte ich bis zur Durchlaufprobe für die Abendvorstellung übers Schiff. Und da saß er. An der Theke einer Bar, zusammen mit einem Techniker und zwei anderen Darstellerinnen. Zögernd blieb ich stehen und fragte mich, ob ich mich dazusetzen sollte. Einmal tief durchgeatmet, gab ich mir einen Ruck, begrüßte alle gleich unverbindlich und setzte mich dazu, um nach fünf Minuten wieder zu gehen! Alle waren so sehr in ein Gespräch vertieft, dass ich kaum wahrgenommen wurde. Das Wiedersehen war total unspektakulär. Kein Kribbeln. Keine Blicke. Kein gar nichts!
„Arielle“ war die Show dieses Abends und wurde beim Ablegen des Schiffes am Pooldeck aufgeführt. Weil tagsüber am Pool die Hölle los war, konnte davor nur eine kleine Stellprobe im Theater stattfinden. Immer noch etwas enttäuscht, versuchte ich mich auf meine Arbeit zu konzentrieren, denn als Arielle gab es Hebungen im Pas de deux, bei denen ich immer noch etwas unsicher war. Kurz vor Showbeginn liefen die Vorbereitungen auf Hochtouren. Über das Crew-Treppenhaus gelangten wir Tänzerinnen und Tänzer auf unsere Startpositionen. Das Licht auf dem Pooldeck wurde gedämpft, die Nebelmaschinen angeschmissen und der Spot ging mit den ersten Klängen der Musik an. Eine erwartungsvolle Atmosphäre erfüllte die Luft, als das Schiff sich langsam von der Pier wegbewegte. Dabei trugen mich zwei Tanzpartner auf ihren Schultern die Stufen durch den leichten Nebel hinunter. Nur kurz kamen wir dabei am Mischpult vorbei und aus dem Augenwinkel erkannte ich Marco. Mein Puls stieg schlagartig noch höher, als wir uns für einen Moment in die Augen blickten. Da schoss es mir durch den Kopf: „Mach was draus!“ Also zwinkerte ich ihm zu, wir lächelten uns an und da war es wieder.
Von diesem Augenblick an war klar, dass es zwischen uns knisterte und funkte. Anfangs noch etwas schüchtern, flirteten wir kurz darauf bei jeder Gelegenheit. Die tiefen Blicke, kleine Berührungen und die Suche nach der Nähe des anderen ließen mich auf Wolke sieben schweben. Am Abend des elften Novembers wurde mit den Gästen zum Faschingsbeginn eine große Party auf dem Außendeck gefeiert. Nach der Showeinlage verließen Marco und ich die Fete und setzen uns auf eine Bank in dem für die Crew eingerichteten Außenbereich. Zu zweit sahen wir in das unendliche Sternenmeer des karibischen Himmels. Vorsichtig zog Marco mich zu sich heran und nahm mich in seine starken Arme. Zärtlich berührten seine Lippen meine und mir wurde beinahe schwindelig vor Glück.
Es zieht mir den Boden unter den Füßen weg. Die aufsteigende Panik versuche ich wie eine Erwachsene zu meistern.
„Weitere Untersuchungen sind notwendig, CT, Magenspiegelung, MRT ... Da ist etwas Raumeinnehmendes, was da nicht hingehört. Das muss abgeklärt werden. Ich rate Ihnen dringend, hierzubleiben“, sagt die Ärztin in der Notaufnahme nach den Untersuchungen und nach acht Stunden Wartezeit. Mein Nacken wird augenblicklich tonnenschwer und fühlt sich heiß an. Fast flüsternd frage ich: „Okay, und wie lange?“ „Mindesten zwei bis drei Tage, denn Hoffnung auf ein MRT kann ich Ihnen frühestens übermorgen machen. Eine Bauchspiegelung, bei der wir den Ausgang des Magens und den Bereich neben dem Übergang zur Bauchspeicheldrüse anschauen, wird gleich für morgen eingeplant. Dabei versuchen wir schon etwas Gewebe zu entnehmen.“
Das Formular mit den Fragen zu Vorerkrankungen und der Einwilligung für den Eingriff mit allen Risiken und Nebenwirkungen unterschreibe ich mit einem flauen Gefühl im Magen. Das erinnert mich daran, warum ich Beipackzettel so ungerne lese. Die Ärztin bittet mich, wieder im Wartebereich Platz zu nehmen, und versichert, schnellstmöglich ein Bett für mich zu finden. Auf welcher Station, kann sie mir noch nicht sagen. Glücklicherweise kann ich in diesem Augenblick noch nicht einschätzen, welche Bedeutung das WARTEN in den kommenden Tagen noch für mich haben wird.
Jetzt muss ich Marco anrufen, der zu Hause eigentlich auf die Info wartet, wann er mich abholen kann. Mit weichen Knien gehe ich vor die Tür der Notaufnahme und wähle wie in Trance seine Nummer: „Die wollen mich hierbehalten, um Weiteres abzuklären.“ Es folgt eine kurze Stille. Dann erzähle ich ganz leise, als ob es nicht ausgesprochen werden darf, was die Untersuchungen bis jetzt ergeben haben. Die Tränen kullern mir lautlos über die Wangen. Dabei rasen mir tausend Gedanken durch den Kopf: „Wer kümmert sich um unseren Sohn Niclas? Wo bleibt unser Hund Fido? Wer versorgt die beiden Stubentiger Susi und Strolch? Wie soll das funktionieren, wenn Marco den ganzen Tag bei der Arbeit ist?“ Mir schießen die Fragen in den Kopf, doch mein Mann behält seinen nordischen kühlen Kopf und fragt erst einmal nach den Dingen, die ich für meinen Spontaneinzug ins Krankenhaus benötige. Er beruhigt mich und sagt, dass er für alles eine zumindest vorübergehende Lösung innerhalb unseres Hauses finden wird. Dafür liebe ich ihn. Wir haben es immer geschafft, gegenseitig die Felsen in unserer Lebensbrandung zu sein. Doch in den kommenden Tagen wird er neben seinem Job für uns alle zum Mount Everest werden müssen.
Als ich das Krankenzimmer beziehe, ist es gegen neunzehn Uhr. Etwas verunsichert lege ich meine Jacke zusammen mit meiner Handtasche auf das Bett. Die Zimmernachbarin türkischer Abstammung spricht ein wenig deutsch und begrüßt mich freundlich. Da ich nicht weiter blöd herumstehen kann, räume ich meine Sachen in den Schrank, ziehe die Schuhe aus und lege mich vorsichtig aufs Bett. Sofort fließen wieder dicke Tränen. „Nein, du nicht traurig, nicht weinen!“, höre ich die freundliche Stimme meiner Mitbewohnerin. Mit ein paar tiefen Atemzügen ringe ich um Fassung.
Per WhatsApp halte ich meine Arbeitskollegin Karina weiter auf dem Laufenden. Sie betreibt den Hundeshop „Waldi Waldenau“, in dem ich als Untermieterin mein eigenes, kleines Hundefriseurstudio führe. Erst gestern standen wir noch gemeinsam auf der ersten Hundemesse im Elbe-Einkaufszentrum.
Nun ist es Zeit, die Kundentermine für die kommenden Tage abzusagen und auf nächste Woche zu verschieben. Wie soll ich das bloß alles nachholen? Es klopft kurz und Marco steht in der Tür. Liebevoll fragend sieht er mich an, stellt den Rucksack mit dem Nötigsten aufs Bett, nimmt mich in den Arm und küsst mich. Zügig gehen wir schweigend zur Besucherecke am Ende des Flures. Marco hält meine Hand und schaut mir sanft in die Augen. „Wie geht es dir? Was haben die Ärzte gesagt? Was wird denn noch untersucht?“ All das kann ich nur mit „Morgen wird eine Bauchspiegelung gemacht. Dann müssen wir abwarten“ beantworten.
Wir versuchen, uns gegenseitig aufzumuntern, indem wir über die ziemlich in die Jahre gekommene Einrichtung schmunzeln und ich nehme beruhigend zur Kenntnis, dass Niclas die Nachricht mit der Coolness eines Vierzehnjährigen aufgenommen hat. Auch dass Fido tagsüber mit Marco ins Büro kann, lässt uns in dieser Situation ein wenig entspannen. Schon ist die Besucherzeit um. Zum Abschied küssen wir uns und versuchen, für den anderen stark und gefasst zu bleiben.
Mit einem dicken Kloß im Hals ziehe ich mir im kleinen Badezimmer den Pyjama an, lege mich wieder auf das Bett und starre gedankenverloren an die Decke. Wirre Geistesblitze laufen wie Kurzfilme durch meinen Kopf: Meine Familie steht schwarz gekleidet auf dem Friedhof. Dann sitze ich plötzlich mit einer Weinschorle in der Sonne und genieße das Leben. Danach sehe ich mich in meinem Hundefriseurstudio lächelnd am Trimmtisch stehen und wundere mich darüber, welche Sorgen ich mir gemacht habe, denn es war nur ein blöder Infekt.
Eine Schwester kommt herein. „Ich bin Nachtschwester Susanne. Sollten Sie nicht zur Ruhe kommen, bringe ich Ihnen gerne eine kleine Schlaftablette.“ Schlaftabletten sind mir zwar fremd, aber hier und jetzt? „Ja bitte, eine Schlaftablette ist bestimmt hilfreich.“ Danach schreibe ich noch eine kurze Nachricht an meine Lieben und sage „Gute Nacht“.
Kurz nach sieben Uhr morgens werde ich langsam wach. Es ist ein klarer Morgen. Die Sonne ist gerade aufgegangen und taucht das Krankenzimmer in ein angenehmes Licht. Wow, habe ich gut geschlafen. Ich fühle mich ausgeruht und überhaupt nicht müde oder matt. Gutes Zeug, dieses Schlafmittel. Dann beginnt der erste Tag im Krankenhaus mit einer liebevollen Nachricht von Marco auf dem Handy sowie Blutdruck- und Fiebermessen. Wie ich erfahre, fällt Frühstück für mich aus, weil die anstehende Untersuchung mit Kurznarkose durchgeführt werden soll. Also mache ich mich frisch und kurze Zeit später sitze ich erwartungsvoll auf dem Bett. Von mir aus kann es losgehen.
Mit möglichst positiven Gedanken, dass alles gut werden wird, warte ich. Dabei blubbert mein Bauch, wie schon seit Wochen, geräuschvoll und ohne Schmerzen vor sich hin. Auch den leichten Druck im Oberbauch spüre ich. Dieser ist jedoch schnell vergessen, als ich die eingehenden Terminanfragen für die Fellpflege in die nächste Woche schiebe. Dabei überlege ich, wie viele Hunde ich pro Tag frisieren kann, damit Neukunden nicht zu lange auf einen Termin warten müssen. Um zwölf Uhr kommt das Mittagessen und auch mir wird ein Tablett gereicht. „Äh, wie jetzt, ich warte noch auf die Bauchspiegelung und sollte nichts essen.“ Schwester Petra informiert mich, dass ich gemäß Krankenakte essen dürfe, und wünscht mir einen guten Appetit. Ein wenig verunsichert lasse ich mir die vier Stückchen Hähnchen mit Möhrchen und Kartoffeln schmecken.
„Frau Polli Holstein, ich soll Sie zum CT abholen“, meldet sich ein netter, junger Krankenpfleger, als er das Zimmer betritt. Ohne wirklich zu wissen, was jetzt geschieht, gehe ich mit und erhalte die Information, dass zu den gestrigen Untersuchungen zusätzlich ein CT von Brust- und Halsbereich gemacht werden soll. Gut, dass ich doch gegessen habe, das hebt meine Stimmung ein wenig. Durch die leicht allergische Reaktion auf das jodhaltige Kontrastmittel am Vortag wird mir vorab ein Antiallergikum verabreicht. Bis die Wirkung einsetzt, darf ich warten. Mal wieder. Je näher die Untersuchung rückt, desto nervöser werde ich. Mein Herz klopft wie wild, als mich die Krankenschwester endlich auf der Liege vorbereitet. „Sie haben keine Herzrhythmusstörungen oder Herzrasen?“, fragt die Schwester. „Nein, eigentlich nicht“, höre ich mich antworten. Doch als es losgeht, befürchte ich, eine Panikattacke zu bekommen. Schon tönt es durch den Lautsprecher: „Bitte einatmen und …“
„Ähm, hallo“, stottere ich. Zwei Sekunden später steht die Schwester neben mir und fragt freundlich, wie sie helfen kann. „Mein Herz rast wie verrückt“, sage ich ihr. Sie beruhigt mich verständnisvoll und sagt, dass das völlig normal sei.
Okay, jetzt fühle ich mich ein wenig besser. Als das Kontrastmittel angekündigt wird, spüre ich genau, wie sich die Flüssigkeit mit einer Wärme durch meine Venen im ganzen Körper verteilt. Das ist eigenartig, aber weder schlimm noch unangenehm.
Kaum runter von der Liege, informiert mich ein Arzthelfer, dass ich gleich weiter zur geplanten Bauchspiegelung gehen kann.
„Sie müssen ein Stockwerk höher. Rechts, dann links. Dann geradeaus und dann sehen Sie links auch schon das Schild der Endoskopie und haben es geschafft.“ Das klappt vielleicht bei jemandem mit einem guten Orientierungssinn. Ich brauchte dafür zwei Anläufe.
Immer noch gut zu Fuß komme ich wenig später in der richtigen Abteilung an und melde mich mit meiner Krankenakte unter dem Arm bei der Anmeldung. Die Dame begrüßt mich freundlich und fragt erstaunt nach meinem Bett. „Na, ich geh mal davon aus, dass es noch in meinem Zimmer steht.“ Die Gute schaut ein wenig überrascht, denn nach der Untersuchung bin ich wohl nicht mehr in der Lage, zu Fuß auf mein Zimmer zu kommen. Sie will sich aber darum kümmern und ich soll es mir erst einmal auf der Behandlungsliege bequem machen. Kurz darauf wird mir genau erklärt, was während der Untersuchung gemacht werden soll. Vorsichtig wird mir ein Beißring in den Mund gelegt. Dann wird eine kleine Dosis einer Flüssigkeit in die am Vortag gelegte Kanüle gespritzt. Und weg bin ich.
Beim Aufwachen fühle ich mich leicht benebelt und der Arzt erklärt mir ausführlich, was er auf den Ultraschallbildern sieht: „In Oberbauch, Achselhöhlen, Schilddrüse und Hals sind die Lymphknoten vergrößert, die Milz ebenfalls. Um mehr über das Gewebe zu erfahren, muss eine Punktion durchgeführt werden. Ein winzig kleiner Eingriff. Wo genau punktiert wird, bespreche ich noch mal mit dem Chefarzt der Onkologie.“ Ich lächle verkrampft. „Alles klar“, antworte ich und stelle mir ungerne vor, wie mir mit einer Nadel durch die Bauchdecke gestochen wird.
In der Zwischenzeit ist mein Bett in die Endoskopie gebracht worden. Ich schlüpfe hinein, werde in den Abholraum gerollt und abgestellt. Keine Ahnung, warum ich in diesem Moment so tiefenentspannt bin. Vielleicht liegt es an der ruhigen Art des Arztes, der so zuversichtlich mit mir sprach. Vielleicht ist es die Kurznarkose, die noch nachwirkt, oder schlicht die Erleichterung, die Untersuchungen für heute hinter mich gebracht zu haben. Plötzlich schießt mir durch den Kopf: „Wann sollten die Ergebnisse vorliegen? Wann wird die Punktion durchgeführt? Wann und wie erfahre ich davon?“ Die Antwort auf alle Fragen heißt: abwarten.
Täglich muss ich Kunden über meine Abwesenheit informieren, ohne einen konkreten Ersatztermin anbieten zu können. Damit ich nicht noch diskutieren muss, erledige ich das per Textnachricht:
Hallo, leider bin ich zurzeit im Krankenhaus und werde voraussichtlich die nächsten zwei bis drei Tage hierbleiben müssen. Aus diesem Grunde muss ich den Termin zur Fellpflege Ihres Hundes leider absagen und kann zu diesem Zeitpunkt auch keinen Ersatztermin anbieten. Wenn Sie mögen, melden Sie sich gerne nächste Woche noch mal bei mir. Herzliche Grüße, Ihre Hundefriseurin.
Wenn ich wieder arbeiten kann, schaffe ich es unmöglich, die Vierbeiner zu frisieren und gleichzeitig alle Stamm- und Neukunden zurückzurufen, um neue Termine zu vereinbaren. Dabei bin ich sehr froh, dass Karina mir so gut wie möglich den Rücken freihält.
Am Abend bei der Kurzvisite informiert mich der neue Stationsarzt ein wenig zögerlich über die ersten groben Befunde. „Anhand der ersten Ergebnisse ist klar, dass etwas nicht Gutes in Ihrem Körper passiert. Es betrifft vermutlich das Blut und auf den ersten Blick auch die Lymphen sowie die Milz. Es gibt da verschiedene Krankheitsbilder. Wir müssen jetzt aber nicht gleich von Leukämie ausgehen. Eher eine lymphatische Erkrankung, die im besten Fall mit Chemotherapie behandelbar ist. Die Punktion ist für morgen geplant und dann sehen wir weiter. Machen Sie sich jetzt nicht zu viele Sorgen.“ Er legt mir wieder ein neues Informationsformular mit der Einverständniserklärung hin und verabschiedet sich freundlich. Darauf war ich nicht vorbereitet. Diese Leere. Diese Hilflosigkeit. Diese tiefe Traurigkeit umgibt mich in einer Schwere, dass ich nur auf dem Bett liegen und weinen kann.
Als meine beiden Jungs später vorbeikommen, gehen wir in einen Besucherraum neben den Fahrstühlen. Dieser Raum besitzt den Charme eines Autobahnklos. Wir lächeln uns an, drücken uns und erzählen, was tagsüber so geschehen ist. Beruhigt höre ich, wie gut Niclas seinen Alltag in der Schule meistert und verlässlich kleine Aufgaben im Haushalt übernimmt. Auch mit Fido läuft es im Büroalltag ganz gut und Marco ist mein Held, weil er es schafft, dass ich mir um meine Lieben keine Sorgen machen muss. Mit einem dicken Kloß im Hals erzähle ich den beiden, worüber mich der Stationsarzt kurz davor informiert hat und dass die endgültigen Ergebnisse noch abzuwarten sind. Wir halten uns die Hände und weinen dabei bittere Tränen der Angst und Ungewissheit. Schwerer denn je fällt uns der Abschied heute Abend und kurz vor dem Einschlafen überfällt mich wieder dieses fiese Kopfkino mit Bildern, die mit meinem Tod zu tun haben. Dabei packt mich eine Panikattacke, die ich aber mit bewusster Atmung in den Griff bekomme.
Gute Nacht, liebe Welt, ich brauche die Kraft für morgen.
Der Oberarzt hatte mich schon vorgewarnt, dass er den Zeitpunkt der Punktion nicht genau sagen kann. Also lasse ich mir heute mit dem Frühstück und dem Frischmachen Zeit. Das Gefühlskarussell, in das ich heute einsteige, ist noch höher, schneller und schüttelt mich immer wieder durch. Erst gegen sechzehn Uhr werde ich als heulendes Häufchen Elend zur Punktion gebracht. Fix und fertig liege ich in diesem hell erleuchteten Krankenhausflur. Eine Arzthelferin tröstet mich, bringt mir Taschentücher und fährt mich in den Behandlungsraum.
Der junge Oberarzt und sein Kollege empfangen mich in ganz entspannter Stimmung. „Entschuldigen Sie, dass es so lange gedauert hat. Wir hatten Sie für den Vormittag geplant, aber leider kamen verschiedene Notfälle dazwischen.“ Mit einem kleinen Lächeln erwidere ich, dass sie nun meinen verheulten Anblick ertragen müssten. Die Atmosphäre ist aufgelockert. Gut gelaunt machen sich die beiden netten „Arztjungs“ an die Arbeit. Sie machen ihren Job souverän und gut. Zweimal gezielt, geschossen und direkt in die Mitte der Lymphknoten getroffen. „Volltreffer!“, jubelt der Oberarzt und ich freu mich sogar ein bisschen mit. Plastikröschen wie von der Schießbude gibt es aber nicht. In dem kurzen abschließenden Gespräch betont der Arzt, dass seine Vermutung „nur“ auf ein Lymphom und nicht auf Leukämie hinweise. Und dass ein Lymphom mit der entsprechenden Chemotherapie meist heilbar ist. Sogar eine winzige Chance einer reinen Infektionserkrankung bestünde noch. Das vorläufige Ergebnis darf ich schon morgen erwarten, das endgültige jedoch erst in der folgenden Woche.