Helga Blum, Erlangen, ist freiberufliche Lektorin und Biografin. Aus eigener Erfahrung weiß sie um die Schwierigkeiten einer angemessenen Betreuung Pflegebedürftiger und setzt sich besonders für deren Bedürfnisse ein.
Christina Zieger, Sulzbach-Rosenberg, verfasst als Mitglied einer Schreibwerkstatt seit vielen Jahren hauptsächlich Kurzgeschichten. Besonders liegen ihr Geschichten für Senioren am Herzen, die zu anregenden Gesprächen zwischen Jung und Alt führen sollen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.
ISBN 978-3-497-02867-2 (Print)
ISBN 978-3-497-61126-3 (PDF)
ISBN 978-3-497-61127-0 (EPUB)
3. Auflage
© 2019 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München
Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
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Covermotiv: © iStock.com / Eva Katalin Kondoros
Satz: Sabine Ufer, Leipzig
Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: info@reinhardt-verlag.de
Inhalt
Ein neues Jahr – ein neues Glück
Der Mützenklau
Falsch verbunden
Der Palmesel
Die Häschenschule
Tanz in den Mai
Viele bunte Murmeln
Milchbuben
Der Schatz vom Flohmarkt
Ein Hoch auf die Pizza
Elefantenbrotzeit
Wer schön sein will ...
Narrenhände beschmieren Tisch und Wände
Der kleine Vogel
Geheimschrift
Der Pate aus dem Seniorenheim
Aber bitte mit Schmalz!
Der Weihnachtsengel
Ein neues Jahr – ein neues Glück
Agnes Rautenberg sitzt im Rollstuhl und schaut zu, wie draußen dicke Schneeflocken vom Himmel fallen. Gerne würde sie jetzt einfach ins Freie laufen, die kalten weißen Sterne auffangen und auf den Handflächen zergehen lassen. So, wie sie es als Kind immer getan hat.
Aber das kann sie nicht mehr. Seit ihrem schlimmen Sturz vor zehn Wochen ist sie auf den Rollstuhl angewiesen.
Deshalb hat sie ihr Enkel Andreas zu sich nach Franken geholt. Er arbeitet in Erlangen und will sie in seiner Nähe haben, damit er und seine Familie immer wieder nach ihr schauen können.
Die alte Dame zieht die Wolldecke auf ihren Beinen zurecht und lässt den Blick durch das Zimmer schweifen. Alles ist noch so fremd hier im Seniorenheim.
Als es leise an der Tür klopft, ist sie so in Gedanken versunken, dass sie es beinahe überhört hätte.
„Ja, bitte.“
Die Tür geht langsam auf und Andreas, seine Frau Susanne sowie die Kinder Max und Paula kommen herein.
Der neunjährige Max läuft Richtung Rollstuhl und ruft: „Uri-Oma, wir haben alles mitgebracht: Blei, einen Löffel und eine Kerze.“ Er ist ganz aus dem Häuschen. „Und Streichhölzer und eine Schüssel. Von dir brauchen wir jetzt nur noch Wasser.“
Agnes Rautenberg lacht, bremst ihn dann aber mit den Worten: „Langsam, langsam. Erst mal will ich euch alle willkommen heißen.“
Ungeduldig tritt Max von einem Bein auf das andere. „Papa, du hast mir versprochen, dass ich das Feuer anzünden darf. Ich bin der Ältere.“
Die fünfjährige Paula schaut beleidigt drein.
Da stemmt ihre Mutter die Hände in die Hüften und schimpft: „Halt, ihr zwei. Erst mal wird die Uroma richtig begrüßt. Und dann bereiten wir zusammen alles so vor, dass wir gemütlich rund um den Tisch sitzen können.“
Andreas hat zwei Klappstühle von zu Hause mitgebracht und stellt sie zu den beiden Stühlen, die schon am Tisch stehen. Er schiebt den Rollstuhl seiner Großmutter daneben und alle nehmen Platz.
Alle außer Max. Seine Aufgabe ist es, mit der Schüssel Wasser aus dem Badezimmer zu holen. Wieder am Tisch, angelt er sich die Streichhölzer und zündet die Kerze an. Schon nimmt er den Löffel in die Hand und will ihn mit einem Stückchen Blei über die züngelnde Flamme halten.
„Moment“, sagt Andreas, „die Jüngste darf zuerst.“
Paula klatscht vor Freude in die Hände. Dann greift sie nach dem Löffel, legt ein Stück Blei hinein und hält ihn eifrig über das Feuer. Als alles vollständig geschmolzen ist, lässt sie das flüssige Blei ins kalte Wasser gleiten, sodass es zischt. Gespannt blicken sie reihum auf das, was sich da herausbildet. Paula beugt sich beim Betrachten dicht über die Schüssel, schließlich holt sie den erkalteten Klumpen aus dem Wasser und legt ihn vor sich auf den Tisch. „Was ist das denn?“ Sie dreht das Gebilde hin und her.
Max wird ungeduldig. „Eine Sonne ist das, und jetzt bin ich dran.“
Seine kleine Schwester ist damit aber nicht einverstanden. „Ich glaube, Mama, das ist eine Blume, oder?“
Susanne lacht. „Ja, Paula, für dich ist es eine Blume.“ Sie faltet ein Blatt Papier auseinander, auf dem die häufigsten Motive erklärt werden. „Bei Blume steht: Es können sich neue Freundschaften entwickeln.“
Da nickt Paula heftig und strahlt. „Stimmt, wenn ich nächstes Jahr in die Schule komme, finde ich bestimmt viele Freundinnen.“
Jetzt ist Max an der Reihe, er ist mit seinen neun Jahren der Zweitjüngste am Tisch. Ihm kann es gar nicht schnell genug gehen, und bevor das Blei richtig flüssig ist, schüttet er es vom Löffel ins kalte Wasser.
Keiner sagt etwas. Im Wasser bildet sich ein Stiel an dem noch festen Klumpen.
Max nimmt die Figur raus und legt sie neben die Blume von Paula. „Wenn deins eine Blume ist, ist meins ein Baum.“
Damit sind alle einverstanden und Susanne liest laut vor: „Deine Fähigkeiten werden wachsen.“
Max gibt den Löffel an seine Mutter weiter.
Sie dankt mit einem leichten Kopfnicken und meint: „Schön, Max, da sind wir ja froh, dass deine Fähigkeiten wachsen. Wenn du nächstes Jahr aufs Gymnasium gehen willst, musst du dich schon noch ein wenig anstrengen.“ Dann legt auch sie Blei in den Löffel und gießt die geschmolzene Masse in die Schüssel. „Hm. Ich habe einen Hinkelstein. Nein, besser ein Ei. Andreas, schau du mal bitte für mich nach.“
Ihr Ehemann liest: „Deine Familie wird wachsen.“
Susanne schüttelt den Kopf. „Auf keinen Fall, mit zwei Kindern sind wir schon genug.“
Agnes Rautenberg und Andreas amüsieren sich über die gespielte Entrüstung.
Die kleine Paula aber schaut ernst zu ihrer Uroma und sagt: „Wir haben ja die Uri-Oma neu bekommen. Die gehört doch jetzt auch zur Familie, oder?“
„Natürlich.“
Nun ist Andreas an der Reihe. Ein Halbmond! Seine Frau Susanne überfliegt leise den Text, der dazugehört, und lacht mit einem Mal, bis ihr die Tränen in die Augen schießen.
„Nun mach schon, was ist denn an einem Mond so lustig, dass du gar nicht mehr sprechen kannst.“ Andreas streicht sich dabei über seinen Bauch, der im letzten Jahr enorm an Umfang zugenommen hat.
„Der Mond bedeutet: Ganz egal, ob Sie dieses Jahr zu- oder abnehmen: Ihre Anziehungskraft bleibt unverändert stark.“
Andreas wirft seiner Frau einen missbilligenden Blick zu und gibt seiner Großmutter wortlos den Löffel weiter.
Nun ist die Uri-Oma dran. Als Letzte, denn Agnes Rautenberg wird im nächsten Jahr 90. Sie schmilzt das Blei und lässt es mit einem Plumps ins Wasser fallen. Nach einer kleinen Weile holt sie es vorsichtig heraus und legt es mitten auf den Tisch.
Staunend begutachten die anderen das Stück.
Max ist der Erste mit seinem Kommentar: „Das sieht ja aus wie ein richtiger Engel.“
Die kleine Paula nickt andächtig. „Der ist aber schön, Uri-Oma. Kann ich den haben?“
Noch bevor die alte Dame antworten kann, sagt schon die Mutter: „Hört mal! Bei Engel steht: Gutes wird zu dir kommen.“
Da wirft Andreas schnell ein: „Oma, dann musst du deinen Engel auf jeden Fall behalten. Als Glücksbringer. Wir hoffen doch, dass es dir bei uns in Erlangen gefällt. Und dass wir im neuen Jahr eine gute Zeit miteinander verbringen.“
Alle Augen sind nun auf Agnes Rautenberg gerichtet. Sie wendet sich lächelnd an ihren Enkel: „Ja, Andreas, ich freue mich, dass ich dich jetzt wieder öfter sehen kann. So wie früher, als du oft bei mir warst, weil deine Eltern gearbeitet haben.“ Und mit Blick auf Max und Paula fährt sie fort: „Ich freue mich auch ganz besonders, dass ich miterleben darf, wie meine Urenkel aufwachsen.“
Draußen beginnen die Mitternachtsglocken zu läuten. Ein farbenfrohes Feuerwerk bringt den nachtschwarzen Himmel zum Leuchten. Drinnen stoßen die Erwachsenen mit Sekt auf das neue Jahr an, die Kinder mit Gänsewein. Sie alle freuen sich auf die Zukunft, die sie gemeinsam meistern werden.
Der Mützenklau
Frau Herold geht wie jeden Morgen kurz vor acht zum Briefkasten, um die Zeitung zu holen. Sie zieht ihre offene Jacke vorne fest zusammen und schiebt die Hände unter die Achseln. Es ist bitterkalt. Glitzernde Eiszapfen hängen von der Regenrinne am Schuppen und der eisige Schnee knirscht unter ihren Pantoffeln. „Was für ein Wintermorgen“, denkt Frau Herold, „wie früher, als der Schnee manchmal so hoch war, dass man morgens fast nicht aus der Tür kam.“
Ihr Hund Hasso ist schon im Garten und stapft durch den weißen Schnee, obwohl er alt ist und sich sonst bei diesem Wetter so wenig wie möglich draußen aufhält. Plötzlich kratzt der Schäferhund aufgeregt an einem schwarzen Bündel im Schnee herum. Frau Herold ruft Hasso heran und wartet an der Haustür, bis er schwanzwedelnd auf sie zuläuft.
Sie erschrickt. Was hat er da nur in seiner Schnauze? Ihr bleibt das Herz fast stehen: Kater Blacky von den Nachbarskindern? Der ist doch schnell wie der Blitz und macht sich immer einen Spaß daraus, den alten Hund zu ärgern.
Frau Herold kneift die Augen zusammen, um genauer sehen zu können. Ihre Brille liegt auf dem Küchentisch, aber dass da irgendetwas Schwarzes aus Hassos Maul hängt, kann sie auch so erkennen.
Sie sendet ein Stoßgebet zum Himmel: „Guter Gott, lass es nicht der Kater von Max und Paula sein!“ und schreit: „Aus, Hasso! Bist du verrückt geworden. Aus! Sofort!“
Von dem Geschrei aufmerksam geworden, kommt ihr Mann an die Tür. „Was ist denn los, Anna, warum schreist du denn so rum?“
Frau Herold ist den Tränen nahe. „Hasso hat den Nachbarskater totgebissen.“
Ihr Mann lacht. „Aber Anna, du solltest wirklich nicht mehr ohne Brille aus dem Haus gehen. – Das ist doch eine schwarze Wollmütze. So eine, wie der Max von drüben eine hat.“