Hinter Linda Winterberg verbirgt sich Nicole Steyer, eine erfolgreiche Autorin historischer Romane. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Töchtern im Taunus und begann schon im Kindesalter erste Geschichten zu schreiben, ganz besonders zu Weihnachten, was sie schon immer liebte. Bei atb liegen von ihr die Romane »Das Haus der verlorenen Kinder« und »Solange die Hoffnung uns gehört« vor.
Das Glück, das wir suchten
Nach fünfundzwanzig Jahren der Trennung steht Hanna plötzlich zum ersten Mal wieder ihrer Mutter gegenüber. Damals sah Hanna keinen anderen Ausweg, als von ihrem Zuhause fortzugehen – und ließ damit auch Alexander zurück, ihre erste große Liebe. Einen Sommer lang trafen sie sich Tag für Tag auf dem Steg am Ende des Sees. Ihre Flucht ermöglichte Hanna ein neues Leben, doch Alex hat sie nie vergessen. Und nun findet sie heraus, dass auch er nicht aufgehört hat, an sie zu denken …
Das bewegende Schicksal zweier Frauen und eine große Liebesgeschichte – tieftraurig und sehr romantisch
Vor einem Jahr ist Hannas Mann gestorben, und es gelingt ihr einfach nicht, ins Leben zurückzufinden. In dieser Situation erhält sie einen Anruf ihrer Mutter – zum ersten Mal seit fünfundzwanzig Jahren, seit jenem Sommer, in dem sie sich jeden Tag mit Alex am Steg am Ende des Sees traf, wo ein Briefkasten stand. An Alex‘ Seite war Hanna glücklich, mit ihm malte sie sich ihre Zukunft aus. Aber irgendwann hält Hanna es mit ihrer trinkenden Mutter nicht mehr aus und sieht keinen anderen Ausweg, als fortzugehen. Alex und sie geben sich ein Versprechen: Einmal im Jahr soll jeder von ihnen einen Brief in dem Briefkasten am Ende des Sees hinterlegen. Doch dann schickt Hanna ihren Brief an Alex nie ab.
Als Hanna nun ihre Mutter besucht, geht sie zum See und öffnet den alten Briefkasten. Dutzende Briefe fallen ihr entgegen. Alex hat nie aufgehört, sie zu lieben.
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Unsere Tage am Ende des Sees
Roman
Inhaltsübersicht
Über Linda Winterberg
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Prolog
Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Sechs
Sieben
Acht
Neun
Zehn
Elf
Zwölf
Dreizehn
Vierzehn
Fünfzehn
Sechzehn
Siebzehn
Dank
Impressum
Die Sonne sank tief hinter die Bäume am anderen Ufer des Sees und zauberte mit ihren warmen Strahlen funkelnde Diamanten auf die Wasseroberfläche. Sie saß neben ihm auf dem Steg und spürte seine Nähe. Sie lehnte sich an ihn, schloss die Augen und atmete seinen vertrauten Geruch ein. Eben erst hatten sie einander geliebt, und sie fühlte diese besondere Art von Zufriedenheit in sich, die es nur in Augenblicken wie diesen gab. Vollkommenes Glück, kaum begreifbar, das einen nach der Liebe erfüllte. So sehr wünschte sie sich plötzlich, für immer hierbleiben zu können.
Sie öffnete die Augen und ließ ihren Blick über den See schweifen. Wolkenfelder, von der untergehenden Sonne rot gefärbt, zogen über den Himmel. Schon bald würde das fahle Licht des Mondes die Wasseroberfläche schimmern lassen. Wie so oft würde sie das Zirpen der Grillen in den Schlaf begleiten. Sie würde in seinem Arm einschlafen, seinem Atem lauschen und sich sicher fühlen. Ein Sommerabend, eine Nacht, die niemals kalt würde, und niemals sollte sie enden. Doch die Zeit lief unaufhaltsam weiter, und nichts würde daran etwas ändern können.
Ihr Blick wanderte zu den Bäumen am anderen Ufer. Hinter ihnen lag der neue Tag, den sie nicht beginnen wollte. Er sollte niemals anbrechen, sie mit all dem Kummer und dem Schmerz, den er mit sich brächte, in Ruhe lassen. Wenn sich die Zeit doch nur anhalten ließe. Und wenn es nur für einen Augenblick wäre.
Sie hob den Kopf und sah ihm in die Augen. Er lächelte sie an, und ihre Lippen suchten die seinen. Sie musste es sich nur fest genug wünschen, dann wäre es möglich.
MÄRZ, 2016
Hanna bog in die von Reihenhäusern gesäumte Straße ein, in der sie die übliche Beschaulichkeit empfing. In den Vorgärten der Häuser trotzten Schneeglöckchen und Krokusse dem kalten Hamburger Nieselregen, der die Bewohner der Häuser zum Innehalten zwang. Bald jedoch würden sie in ihre Gärten ausschwärmen, Rasenmäher und Heckenschneider auspacken, abends den Grill anmachen und die Siedlung in einen niemals schlafenden sommerlichen Bienenstock voller Lebendigkeit verwandeln. Vor ihrem Haus blieb sie stehen. Ein einfaches Reihenhaus, wie es viele in Hamburg-Niendorf gab. Der vertraute Anblick ließ sie plötzlich an jenen Tag zurückdenken, an dem sie es zum ersten Mal gesehen hatte. Der Himmel war ebenso grau und wolkenverhangen gewesen wie heute. Gemeinsam mit Maurice hatte sie genau an dieser Stelle gestanden und dem Makler gelauscht, der ihnen die Eckdaten der Immobilie erläutert hatte, die sie beide eigentlich schrecklich altbacken fanden. Wie verliebt sie damals waren. Frisch verheiratet und voller Tatendrang starteten sie in das Wagnis des gemeinsamen Lebens. Der günstige Preis hatte am Ende den Ausschlag gegeben, das renovierungsbedürftige Haus zu kaufen. In den Folgewochen schliffen sie Fußböden, tapezierten und strichen Wände, das Badezimmer flieste Maurice eigenhändig neu. Trotz der vielen Arbeit fühlten sich diese Monate wunderbar leicht, beinahe abenteuerlich an. Dem kalten Frühjahr folgte ein heißer Sommer. Wochenlang lebten sie von Würstchen vom Campinggrill und Fertigkartoffelsalat. Zwei alte Gartenstühle, ein klappriger Tisch auf der mit Waschbetonplatten ausgelegten Terrasse, Zweisamkeit bei Kerzenschein in lauen Sommernächten. Ende August wurde die neue Küche geliefert, und die ersten Spaghetti vom neuen Herd schmeckten so gut, dass sie es nie vergessen würde. Wenige Tage später bemerkte sie ihre Schwangerschaft.
Hanna schob die Erinnerungen beiseite, öffnete die Gartentür und lief an dem Maklerschild vorüber, das ihr mit seiner geradlinigen Schrift die unaufhaltsame Veränderung vor Augen führte. Im Haus empfing sie der vertraute Geruch, da waren seine Schuhe im Flur, an der Garderobe seine Jacke. Als würde er gleich kommen, als wäre er noch da. Sie lehnte den Kopf gegen die Wand und lauschte in die Stille. Gerade eben war es noch laut gewesen. Christina. Sie sah das Gesicht ihrer Tochter vor sich. Im Hintergrund die lauten Geräusche des Hamburger Flughafens. Wie huschende Schatten waren ihr die Unmengen von Menschen vorgekommen. Nur Christina hatte sie klar gesehen. Ihre braunen Augen, ihre Sommersprossen auf der Nase, das wellige Haar mit den blonden Strähnchen, ihr Lächeln – gleichzeitig die Tränen in ihren Augen. Eine Umarmung, wenige Worte, ein Kuss auf die Wange, dann war sie gegangen. Sie war wie ihr Vater. Sich niemals dem Trübsinn überlassen, immer nach vorn sehen. Amerika, die ferne Welt voller Möglichkeiten, und nun war ihr Kind auf dem Weg dorthin. Zu ihrem Onkel, der in Washington in einem dieser Holzhäuser mit Frau, zwei Kindern und Hund den amerikanischen Traum lebte. Ein Jahr College und Abenteuer, wie ihre Tochter es nannte. Hannas Blick wanderte in die Küche. Es war doch erst gestern, als sie zu dritt an dem Tisch am Fenster gesessen und darüber gesprochen hatten. Sie war dagegen, er dafür gewesen. Was auch sonst. Maurice hatte den Wünschen seiner Tochter selten widersprochen. Mit unendlich viel Liebe hatte er Christina, seinen Sonnenschein, überschüttet. In ihrer Erinnerung hörte Hanna ihre Stimme laut werden. Sah sich wütend mit der flachen Hand auf den Tisch schlagen. Mal wieder war sie die Böse. Amerika, Washington, was für eine Schnapsidee. Sie wusste, dass es die Angst war, die sie so aufgebracht hatte. Loslassen war nicht ihre Stärke. Christina war doch erst siebzehn, ein halbes Kind.
Heute hatte jedoch eine Erwachsene vor ihr gestanden. Christina war die Stärkere von ihnen beiden. Sie war in den letzten Wochen ihr Anker gewesen, der Grund, nicht durchzudrehen, morgens aufzustehen. Papa hätte nicht gewollt, dass wir traurig sind, sagte sie immer wieder. Und weinte trotzdem. Abends, in ihrem Zimmer, damit ihre Mutter die Tränen nicht sah. Jetzt war sie fort. Fröhlich winkend war sie hinter einer der vielen gläsernen Schiebetüren des Flughafens verschwunden, um in ein neues Leben aufzubrechen.
Sie selbst war zurückgeblieben. In dem Haus, das ihrer Familie ein Heim gewesen war und vor dem nun ein Maklerschild im Vorgarten stand. Und mit dem Versprechen, es auf die Reihe zu kriegen. So hatte sich Christina ausgedrückt. Du kriegst das doch auf die Reihe, Mama?
Selbstverständlich, hatte Hanna geantwortet. Sie wussten beide, dass es eine Lüge war. Die Tage vergingen, die Wochen flogen dahin. Der Herbst war in den Winter übergegangen, aus dem Winter wurde Frühling, und es fühlte sich wie gestern an, als er mit den vertrauten Worten gegangen war. Sie schlüpfte aus ihren Schuhen und lief die Treppe nach oben in Christinas Zimmer. Sonnengelb waren die Wände gestrichen. Ihr weißes Metallbett hatte sie mit einer Blumengirlande und einer Lichterkette geschmückt. Das Bücherregal darüber teilten sich »Harry Potter« und »Twilight«-Bücher, die sie irgendwann einmal heiß und innig geliebt hatte. Auf ihrem Schreibtisch standen sauber beschriftete Ordner. An der Wand hing noch das Puzzle, das sie vor Jahren miteinander gepuzzelt hatten. Sie krabbelte aufs Bett und berührte die romantische Landschaft hinter Glas. Eigentlich hatten nur Maurice und Christina es gepuzzelt. Stundenlang hatten die beiden damit auf dem Fußboden im Wohnzimmer zugebracht. Ein romantischer Sonnenuntergang, ein Häuschen in einem wunderbaren Blumengarten. Himmelteile, alles Himmelteile. Alle sehen gleich aus. Wie oft hatte Christina diese Sätze gesagt. Sie lächelte. Ihr Blick fiel auf Paola. Eine sündhaft teure Käthe-Kruse-Puppe, die neben vielen weiteren Kuscheltieren auf dem Bett saß. Maurice hatte sie Christina zum achten Geburtstag geschenkt. Sie hatten sich damals gestritten deswegen. So viel Geld für eine einzige Puppe auszugeben, was für ein Irrsinn. Sie lehnte sich gegen die Wand und nahm Paola auf den Schoß. Sie hatte blaue Augen, lange Wimpern, hübsches kastanienbraunes Haar, das dem von Christina, dem von Maurice glich. Hanna blickte in die Spiegeltür des gegenüber dem Bett stehenden Kleiderschranks. Ähnlichkeiten zwischen ihr selbst und ihrer Tochter hatte sie stets vergebens gesucht. Sie war blond, ihr Gesicht schmal, die Haut hell. Christina hatte Maurice’ breite Wangenknochen geerbt, seine Stupsnase. Ihr Blick fiel auf den Nachttisch. Dort hatte bis gestern ein Bild der beiden gestanden. Vater und Tochter fröhlich im Sommerurlaub auf Korsika. Gewiss hatte es Christina mitgenommen. Es war im vergangenen Sommer aufgenommen worden. In ihrem letzten gemeinsamen Sommer. Sie seufzte. Wenige Wochen später, an einem kühlen Septembertag, war ihr Leben auseinandergefallen, einfach so. Ein Verkehrsunfall auf der Autobahn. Ein Lastwagen war ungebremst ins Stauende gefahren. Sie sah sich die Haustür öffnen. Zwei Polizisten hatten ihr mit ernster Miene entgegengeblickt. Verunglückt, Autounfall. Im ersten Moment hatte sie geglaubt, sie sollte die beiden ins Krankenhaus begleiten und Maurice wäre nur verletzt. Mit klopfendem Herzen und zittrigen Händen suchte sie nach ihrer Tasche und den Autoschlüsseln. Die Polizistin war es, die ihr Einhalt gebot und behutsam sagte, dass ihr Mann tot sei. Genau in diesem Moment war Christina vom Sport zurückgekommen. Das Haar zurückgebunden, ihre Sporttasche über der Schulter. Was dann passiert war, wusste sie nicht mehr. Es folgten Stunden, Tage, die im Nebel lagen. Bei seiner Beerdigung einige Tage später hatte die Sonne geschienen.
Zweimaliges Läuten an der Haustür riss Hanna aus ihren Gedanken. Gewiss war es der Postbote, der endlich die von Christina ersehnten Turnschuhe brachte, die sie nach Amerika hatte mitnehmen wollen. Am Flughafen hatte Hanna ihr fest versprechen müssen, die Schuhe sofort nachzuschicken. Sie lief die Treppe hinunter und öffnete die Tür. Der Postbote hatte bereits den Benachrichtigungszettel in der Hand.
»Guten Tag, Frau Becker. Sie sind ja doch da«, sagte er mit einem Lächeln und hielt ihr das Paket unter die Nase.
Sie legte es im Flur ab und ging in die Küche, um sich einen Kaffee zu machen. Morgen würde sie es zur Post bringen. Am Kühlschrank hing der Zettel mit der Adresse in Washington, umrandet von vielen Herzchen, typisch Christina. Im Vorbeigehen fiel ihr auf, dass der Anrufbeantworter im Flur blinkte. Gewiss war es Frau Meister, die Maklerin, die eine erneute Besichtigungstour starten wollte. Drei Ehepaare und einen verrückten Musiker hatte sie bisher angeschleppt. Der Musiker hatte Hanna am besten gefallen. Allerdings hätte er mit seiner Idee, im Dachgeschoss ein Tonstudio einzurichten, gewiss die Nachbarn verärgert. Besonders Kohlgrubers von nebenan reagierten sehr empfindlich auf Lärm, obwohl er bereits zweiundachtzig und eigentlich schwerhörig war. Der Musiker hatte abgelehnt. Nicht verwunderlich. Hippe Musiker zogen nicht in biedere Reihenhaussiedlungen, auch wenn Quadratmeterzahl und Raumaufteilung passten. Sicher fand sich irgendwo ein Loft, ein ehemaliges Fabrikgebäude, eine Wohnung mit Dachterrasse im Grindelviertel. Dorthin passte er besser. Die Ehepaare sagten ebenfalls ab. Eines von ihnen hatte sie nach wenigen Minuten eigenhändig rausgeworfen. Genau die Sorte arrogante Schnepfe mit Highheels und Möchtegerngroßkotzehemann an der Seite konnte sie noch nie leiden, und die Vorstellung, dass diese beiden das Heim ihrer Familie übernahmen, war einfach unerträglich. Die Aktion führte zu einem längeren Gespräch mit der Maklerin.
Hanna drückte auf den Knopf des Anrufbeantworters. Sie lag richtig. Frau Meisters Stimme war zu hören. Ob am Freitag ein Termin für eine Besichtigung möglich wäre. Eine junge Familie mit Baby. Sie nannte eine Uhrzeit und legte auf. Eine weitere Nachricht wurde angekündigt, und dann war auf einmal die Stimme ihrer Mutter zu hören. Hanna erstarrte. Ihre Mutter klang unsicher, sagte ihren Namen, fragte, ob sie da sei. Stille, ihr Atem. Sie entschuldigte sich für den Anruf. Wieder Stille. Erneut hörte sie ihre Mutter atmen, dann den Ton des Anrufbeantworters. Hanna sank auf den Boden. Ihr Herz pochte heftig, in ihren Ohren begann es zu rauschen. Eine dritte Nachricht wurde angekündigt. Noch einmal war die Stimme ihrer Mutter zu hören. Nur ganz kurz.
»Bist wohl wirklich nicht da.« Sie legte auf.
Hanna war wie gelähmt. Keine weiteren Nachrichten, hörte sie den Anrufbeantworter sagen. Ihre Hände zitterten. Sie lehnte den Kopf nach hinten und blickte zum Telefon. Ihre Mutter. Dieses Jahr waren es fünfundzwanzig Jahre, dass sie ihre Stimme nicht mehr gehört hatte. Wann hatte sie aufgehört, an sie zu denken? Hatte sie jemals damit aufgehört? Zumindest hatte sie es gewollt. Kein einziges Mal hatte ihre Mutter sie angerufen – bis heute. Und es war besser so gewesen, hatte sich jedenfalls so angefühlt. Hannas Blick fiel auf den Anrufbeantworter. Fünfundzwanzig Jahre, eine halbe Ewigkeit, und plötzlich meldete ihre Mutter sich. Sie musste einen Grund haben. Niemand rief nach so langer Zeit einfach so an. Hanna stand auf. Ihr Vater musste es wissen. Sie musste ihre Nummer von ihm haben. Anders konnte es nicht sein. Sie standen in keinem Telefonbuch, waren unbekannt in der digitalen Welt, sofern das heute noch möglich war. Wie auf Kommando spürte sie das Vibrieren ihres Handys in ihrer Hosentasche. Sie ließ es brummen. Gewiss war es Frau Meister. Geduld war keine ihrer Stärken.
Entschlossen schlüpfte Hanna in ihren Mantel, griff nach dem Schlüssel und verließ das Haus. Sie musste mit ihrem Vater reden. Es war nicht weit zu ihm. Die Straße hinunter und durch einen kleinen Park, in dem ihr eine einsame Joggerin begegnete. Zwei Querstraßen weiter lebte er in einem Wohnblock. Drei Zimmer im dritten Stock rechts, gemeinsam mit Dagmar, die sie noch nie leiden konnte. Grünflächen lagen zwischen den Häusern, Wäschestangen, umhüllt vom tristen Grau des schwindenden Tages. Als sie klingelte, öffnete sich gerade die Tür, und Frau Stresemann aus dem ersten Stock kam mit ihrem Dackel Billy aus dem Haus. Ein fieser Köter, der gern mal schnappte. Hanna grüßte kurz, in diesem Moment war der Türsummer zu hören. Ihr Vater, den sie Bernie nannte, war kein Freund von Sprechanlagen. Im Hausflur empfing sie der Geruch von Reinigungsmitteln. Sie lief die Treppe nach oben. Er stand in der Tür, wie immer eine Kippe in der Hand.
Ohne zu grüßen, fragte er: »Hat sie angerufen?«, und schob die Tür auf.
Hanna betrat wortlos nickend die Wohnung. Es roch nach Mittagessen, irgendetwas mit Kartoffeln und Kohl. Im Wohnzimmer lag der Kater Felix schlafend auf dem Sofa. Auf dem Tisch stand der übliche Aschenbecher, daneben ein Stapel Kataloge und Zeitungen, Gläser und eine Schüssel voll Chips. Der Fernseher lief. Biathlon. Er drückte seine Zigarette aus und setzte sich in einen neben dem Sofa stehenden Sessel.
»Dagmar ist drüben bei Bille. Dauert immer länger.«
Hanna nickte und sank neben Felix, der träge den Kopf hob. Der alte Kater war halb blind und wohl auch taub. Sie begann ihn zu streicheln.
»Ist auch besser, wenn sie nicht da ist«, sagte Bernie. »Fuchsteufelswild ist sie geworden, als sie mitbekommen hat, dass Gabi am Telefon war. Aber was soll’s«, er winkte ab, »wäre nicht die erste Szene.« Seine Stimme klang gleichgültig. Seine Beziehung mit Dagmar war schon lange kaum mehr als Gewohnheit.
Hanna nickte. Mit Dagmar war es von Beginn an schwierig gewesen. Ein Blick hatte gereicht, und sie mochten sich nicht. Bis heute war es so geblieben, und Bernie verstand es. Mit Hilfe der Jugendfürsorge fand Hanna nach ihrem Umzug aus Bayern ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft. Später hatte sie eine kleine Wohnung gehabt, dann war sie Maurice begegnet. Aber war es wirklich nur Dagmar, die sie bewog, ihrem Vater aus dem Weg zu gehen? Erinnerungen an ihre Jugend kamen hoch. An all das Geschrei, den Streit, das Türenknallen – die vielen Weinflaschen auf dem Tisch. An Mamas Traurigkeit. Aber auch andere, schöne Dinge. Wie sie gemeinsam an einem warmen Sommertag das Gartenhaus strichen. Mama machte Limonade. Eine Umarmung, der Geruch von Farbe, Sonnenlicht, das durch die Blätter der Kirschbäume fiel, sein Lachen. Momente des Glücks, tief in ihrem Inneren vergraben – konserviert für die Ewigkeit.
»Mama hat noch nie angerufen«, sagte Hanna.
»Irgendwann ist immer das erste Mal.«
»Nach fünfundzwanzig Jahren?«
»Was weiß ich. Sie hat nach dir gefragt, wollte deine Nummer haben.«
»Und du hast sie ihr einfach so gegeben.«
»Was ist falsch daran? Sie ist deine Mutter.«
Hanna lehnte sich zurück. Im Fernsehen gab es den Zieleinlauf zu sehen.
»Ich hab gewusst, dass wir gewinnen«, kommentierte Bernie das Ende des Rennens.
Wie sehr er sich verändert hat, kam es Hanna in den Sinn. Der attraktive Mann von einst war einem grauhaarigen, unrasierten Rentner gewichen, der in einem billigen Hausanzug vor dem Fernseher saß. Hanna wusste, dass er seine Heimat Bayern vermisste, obwohl er es nie sagte. Der unbedingte Wille zur Veränderung und ein gutes berufliches Angebot, das ihm ein alter Freund machte, führten ihn damals in den Norden. Doch er war hier niemals heimisch geworden. Trotz Dagmar, die er irgendwann einmal geliebt hatte.
»Hat sie was erzählt?«, fragte sie.
»Nein. Ich hab ihr deine Nummer gegeben, mehr nicht.«
»Denkst du, es geht ihr gut?«
»Was ich denke, spielt keine Rolle.« Bernie griff nach der Chipsschüssel und begann zu essen.
»Ist Christina nicht heute abgereist?«, wechselte er das Thema. Hanna nickte.
»Ja, vorhin.«
»Dann sitzt du jetzt allein in dem Haus.«
Seine Worte trafen Hanna. Feinfühligkeit war noch nie eine seiner Stärken.
»Kann man so sagen«, erwiderte sie. Dann waren Schritte im Flur zu hören, und Dagmar schaute in den Raum. Ihr blondiertes Haar hatte einen grauen Ansatz. Ihre enge Jeans betonte ihre üppigen Hüften. In einem anderen Leben war sie hübsch gewesen. Sie zog eine Grimasse, als sie Hanna sah.
»Lässt dich auch mal blicken«, sagte sie ohne Begrüßung. Sie verschwand in der Küche und schloss die Tür hinter sich. Hanna stand auf.
»Ich geh wohl besser.«
Ihr Vater erhob sich ebenfalls. Plötzlich wirkte er bekümmert. Hanna berührte kurz seine Schulter. »Du hast nichts falsch gemacht.«
Er nickte. Wie müde er aussah.
»Wenn du magst, kannst du gern mal bei mir auf einen Kaffee vorbeischauen«, bot sie an. Er stimmte lächelnd zu. Seine Worte klangen wie immer halbherzig. Noch immer lastete die Vergangenheit schwer auf ihrer Beziehung. In all den Jahren hatte es nur wenige Momente der Annäherung gegeben. Der Tag von Christinas Geburt war so einer gewesen. Maurice war dienstlich auf einer der Nordseeinseln unterwegs. Christina hatte es eilig und kam zwei Wochen zu früh. Blasensprung und Chaos. Bernie kam sofort. Er fuhr sie ins Krankenhaus und wich nicht von ihrer Seite. Er brachte sie zum Lachen und atmete mit ihr, obwohl er von solchen Dingen keine Ahnung hatte. Stundenlang lief er mit ihr den Krankenhausflur auf und ab und erzählte Geschichten aus seiner Kindheit, die sie alle schon kannte. Als Maurice dann endlich kam und sie in den Kreißsaal gebracht wurde, harrte Bernie dennoch so lange vor der Tür aus, bis Christina das Licht der Welt erblickte. Mit Tränen in den Augen hielt er sie zum ersten Mal im Arm. In diesem Moment glaubte Hanna, dass es vorbei war mit der Fremdheit zwischen ihnen. Doch als wenig später Maurice’ Eltern aufkreuzten, zog sich Bernie zurück. Irgendwann war er einfach fort, ohne Gruß gegangen. Den Anblick der perfekten Großeltern ertrug er nicht.
Die Küchentür öffnete sich, und Dagmar lief irgendetwas von einer Lieblingsserie murmelnd an ihnen vorbei ins Wohnzimmer.
Bernie öffnete die Wohnungstür. Hanna trat in den Hausflur.
»Wirst du sie anrufen?«, fragte er.
»Ich weiß es nicht«, antwortete sie ehrlich. Er nickte. Sie verabschiedeten sich, und er schloss die Wohnungstür. Einen Moment blieb Hanna auf dem Treppenabsatz stehen, dann verließ sie das Haus.
*
Eingewickelt in eine Wolldecke saß sie am selben Abend auf dem Sofa. Vor ihr auf dem Tisch stand eine Flasche Rotwein, ungeöffnet. Sie hatte sie nach ihrer Rückkehr aus dem Keller geholt. Sogar das Geschenkband hing noch daran. Irgendwer hatte sie vor Jahren zu irgendeinem Anlass mitgebracht. Im Keller standen einige solcher Flaschen. Nicht mehr viele. Die meisten hatten sie weiterverschenkt. Über eine gute Flasche Wein oder Sekt, vielleicht einen Prosecco freute sich jeder – nur sie nicht. Sie starrte die Weinflasche an. Es war ein Rioja, angeblich trocken. Sie kannte den Geschmack nicht. Weshalb hatte sie die Flasche ausgerechnet jetzt aus dem Keller geholt? Kummer ließ sich nicht ertränken, Gedanken nicht betäuben. Oder vielleicht doch? Wurde der Schmerz weniger, wenn der Alkohol seine Wirkung tat? Sie kannte die Antwort. Sie berührte die Flasche mit den Fingerspitzen. Kühl und glatt fühlte sie sich an. Eine Erinnerung kam in ihr hoch, wie sie einst eine Flasche vom Boden aufgehoben hatte, daneben hatten die Scherben eines Glases gelegen, kleine Splitter, überall auf dem Teppich verstreut. Der Geruch des Alkohols stieg ihr in die Nase. Sie schloss die Augen. Genau solche Flaschen hatte sie zum Glascontainer an der Ecke getragen, Woche für Woche, manchmal jeden Tag. In vielen war noch ein Rest Wein gewesen. Rote, stinkende Flüssigkeit, die vor ihren Augen ins Spülbecken lief, auf den Boden tropfte, überall Flecken hinterließ. Bei dem Gedanken daran wurde ihr übel. Sie griff nach der Flasche, sprang auf, rannte in die Küche und schlug den Flaschenhals gegen die Spüle. Grüne Scherben, roter Wein und der verdammte vertraute Geruch. Ihr Magen drehte sich um, und sie musste sich übergeben. Würgte, weinte, dann schnitt sie sich auch noch am Glas.
Nie wieder hatte Hanna die Stimme ihrer Mutter hören wollen. Rau, verlebt, klagend, oft leise, dann wieder laut. Heute hatte sie verletzlich geklungen, unsicher. Tränen tropften in die Spüle und vermischten sich mit den Resten des Rotweins. Hanna schlug mit der Hand auf die Arbeitsplatte. Fünfundzwanzig Jahre. Warum heute? Warum jetzt? Für mich warst du doch längst tot.
Sie atmete tief durch. Ihr Finger brannte. Sie riss ein Haushaltspapier von der Rolle, wickelte ihn darin ein und ging zurück ins Wohnzimmer. Es war drei Uhr morgens. Das Telefon lag auf dem Tisch. Daneben ihr Handy, mit der WhatsApp-Nachricht von Christina, dass sie gut gelandet war. Christina – ihre Mutter wusste nicht einmal, dass es sie gab. Solche Dinge mussten Mütter doch wissen. Doch Hamburg war ihr neues Leben, fernab von dem alten Haus am Ende der Straße, in dem sie aufgewachsen war. Es hatte kein Zurück mehr gegeben.
Auf dem Boden neben dem Tisch stand ein bunt beklebter Schuhkarton, gefüllt mit Erinnerungen der Vergangenheit. Vorhin hatte Hanna ihn vom Dachboden geholt. Sie sank neben den Karton auf den Teppich, lehnte sich mit dem Rücken gegen das Sofa und öffnete ihn. Alte Fotos lagen obenauf. Sie selbst, etwa drei Jahre alt, auf einem Dreirad. Ihre Einschulung. Erstkommunion. Bilder unterm Weihnachtsbaum. Sie auf dem Schoß ihres Vaters, nicht älter als sechs Jahre. Ihre Mutter, die lächelnd den Tisch deckte. So hübsch war sie damals gewesen. Langes blondes Haar, leuchtende blaue Augen. Die perfekte Familie. Klassenfotos zeigten spätere Jahre. Familienbilder wurden weniger, verschwanden irgendwann ganz. Irgendwo zwischen all den Fotos lag ein Briefumschlag mit ihrer Handschrift darauf. Sein Anblick versetzte ihr einen Stich.
Alex, dachte sie mit einem Lächeln. Plötzlich sah sie sein Gesicht vor Augen. Seine blauen Augen, die Bartstoppeln an seinem Kinn, die an ihrer Wange kratzen, wuscheliges braunes Haar, in das sie so oft ihre Hände vergraben hatte. Wehmütig las sie die sonderbare Adresse auf dem Umschlag, die niemand finden würde.
Alexander Kaufmann, abzulegen im Briefkasten am Ende des Griesinger Sees. Eine Postleitzahl, der Ortsname. Der Brief wäre niemals angekommen.
Dieser Brief stand für das Versprechen, das sie sich damals am See gegeben hatten. Ein Versprechen, das sie gebrochen hatte. Sie musste schlucken. Sie drehte den Umschlag um, öffnete ihn und las ihre eigenen Zeilen.
Mein liebster Alex,
so viele Monate sind vergangen. Eine Ewigkeit, wie mir scheint. Ich hoffe, ich kann unser Versprechen halten, und dieser Brief erreicht sein Ziel. Auf unserem Steg am See haben wir es uns gegeben, und die Erinnerung an diesen Tag trage ich tief in meinem Herzen. Wie Deine Stimme, Deine Nähe und Wärme. Niemals werde ich unsere Nächte im Bauwagen vergessen. Weißt du noch, wie wir dem Rauschen des Regens lauschten? Der Sommerregen duftete so herrlich. Ich wünschte, ich könnte jetzt mit Dir auf einer Decke unter dem Sternenhimmel liegen, den Grillen zuhören und Dich lieben. Danach würden wir bestimmt schwimmen gehen, wie wir es so oft taten.
Ich vermisse den See so sehr. Am liebsten würde ich gerade jetzt auf dem Steg sitzen, um mit Dir gemeinsam das Licht des Sommers zu genießen, das bald wiederkommen wird. Doch das wird nicht möglich sein. Ich spüre es. Ich weiß, dass ich nicht traurig sein soll. Ich habe es versprochen. Doch so oft bin ich es. Ein Happy End scheint nicht vorgesehen zu sein.
Ich sehe Dich vor mir. Dein Gesicht im Licht der Sonne. Erst als ich hier angekommen bin, fiel mir auf, dass ich kein Bild von Dir besitze. Vielleicht legst Du mir eines Tages eines in unseren Briefkasten, und ich werde es finden.
Umarmung, Kuss.
Ich vermisse Dich
Deine
Hanna
Hanna ließ den Brief sinken. Alex. Ihre erste große Liebe. Wenige Wochen waren ihnen vergönnt gewesen, damals, in diesem Sommer am See, der alles verändern sollte. Was für ein verrücktes Versprechen. Einmal im Jahr sollte jeder für den anderen einen Brief mit einer Erinnerung an ihre gemeinsame Zeit in dem alten Briefkasten am Ende des Sees hinterlassen. Sie lächelte. Heute wäre ihre Idee von damals undenkbar. In einer Zeit, in der es noch Ferngespräche und Brieffreundschaften gab, war sie nicht ganz so abwegig. Alex’ Mutter besaß damals nicht einmal ein Telefon. Sie war eine etwas chaotische Frau. Realitätsfremd, hätte Maurice sie genannt. Eine Mittvierzigerin in flatternden Kleidern, die auf einem alten Bauernhof lebte und sich als Heilpraktikerin durchschlug. Moderne Kommunikationsmittel wie ein Telefon hatten in ihrer Welt keinen Platz, weshalb Alex immer zu der gelben Telefonzelle am Ende der Straße lief. Der Vorschlag mit den Briefen war natürlich von ihm gekommen.
Hanna faltete den Brief zusammen und steckte ihn zurück in den Umschlag. Wahrscheinlich waren inzwischen sowohl der alte Bauwagen als auch der Briefkasten verschwunden. Der Gedanke schmerzte. Dieser Ort war so herrlich unvollkommen gewesen. Sommerblumen zwischen Efeu und Brennnesseln, das vom Schilf umrandete Ufer, der Steg und das Ruderboot. In dieser Zeit war sie abends kaum nach Hause gegangen. Alex war ihr Zufluchtsort, mehr brauchte sie nicht. Hanna wickelte sich in ihre Strickjacke und dachte daran, dass es in ihrer Ehe mit Maurice ganz anders gewesen war. Wenn sie Probleme hatte, ging er stets sachlich damit um, erwachsener. Alex hatte sie damals einfach in den Arm genommen, um sie zu trösten. Er hatte ihre Nasenspitze geküsst und sie angelächelt. Und jedes Mal wenn er das tat, schaffte sie es, die Sorge um ihre Mutter zu vergessen. Erneut fiel ihr Blick auf das Telefon. Und wenn sie einfach anriefe? Ihre Mutter hatte keine Nummer genannt. Lebte sie noch in dem alten Haus am Waldrand? Der Garten mit den Kirschbäumen, ihr großes Gemüsebeet, das sie so sehr geliebt hatte. In diesem letzten Sommer war es von Unkraut überwuchert gewesen. Einmal lag ihre Mutter schlafend mitten im Rhabarber.
Hanna griff zum Telefon. Sie tippte die Nummer ein. Nach all den Jahren waren ihr die Zahlen noch vertraut. Doch dann drückte sie nicht auf die Wählentaste. Was sollte sie sagen? Sie ließ das Telefon sinken. Was für ein Irrsinn. Es war so lange her, vorbei, für immer. Was würde es bringen, noch einmal in der Zeit zurückzugehen? Die alten Wunden waren abgeheilt, die Erinnerungen tief vergraben. In einem Karton versteckt auf dem Dachboden. Entschlossen legte sie das Telefon auf den Tisch zurück. Schluss mit den Sentimentalitäten. Sie würde nicht anrufen, schon gar nicht um drei Uhr morgens. Alex’ Brief wanderte zurück in den Karton, und sie schloss den Deckel. Es fühlte sich falsch an. Sie öffnete ihn wieder, starrte auf den Umschlag und nahm ihn wieder an sich. Mit ihm in der Hand lief sie die Treppe nach oben. Im oberen Flur piepte ihr Handy. Es war Christina, die ihr ein Selfie schickte, auf dem sie unendlich fröhlich aussah. Hanna antwortete mit einem lachenden Smiley und wenigen Worten des Grußes. Ihr Weg führte sie erneut in das Zimmer ihrer Tochter, wo sie sich unter die Decke verzog, den Brief an Alex noch in der Hand. In der Geborgenheit des Kinderzimmers fühlte sich der Gedanke an die Vergangenheit plötzlich gut an. Sie schaltete die Lichterkette ein und strich mit den Fingern über den Umschlag, las die Adresse und lächelte wehmütig. Vielleicht wäre er ja doch angekommen – hätte irgendwann in dem alten Briefkasten am Ende des Sees gelegen, der warum auch immer dort stand. Sie drehte sich auf die Seite und legte den Brief neben sich auf das Kopfkissen. Was wohl aus Alex geworden war? Ob er in den Jahren danach noch an sie gedacht hatte? So wie sie an ihn?
Der Gedanke ließ sie aufmerken. Was dachte sie sich eigentlich dabei? Gerade war ihr Mann gestorben, und sie lag hier und dachte an seinen Vorgänger. War es nicht verwerflich, sich an eine alte Liebe zu erinnern, wenn es doch die Beziehung danach war, die ihr Leben ausgemacht hatte? Der vertraute Kloß in ihrem Hals kam zurück. Sie schluckte. Maurice war fort, tot, er käme niemals wieder. Und doch schien er überall zu sein. In diesem Haus, auf der Straße, an jeder Ecke in dieser gottverdammten Stadt. Ihre Liebe zu ihrem Mann hatte genauso geendet wie die mit Alex – abrupt, ohne Vorwarnung, ohne Sinn. Ihre Geschichte hätte noch nicht vorbei sein dürfen. Tränen stiegen in ihre Augen.
Maurice. Gewiss würde es ihm nicht gefallen, wenn sie an einen anderen dachte. »Stimmt doch«, sagte sie laut. »Du wärst eifersüchtig. Ganz sicher.« Sie lauschte in die Stille. Nie wieder würde er ihr Antwort geben. Sie wurde verrückt, dachte sie plötzlich. Sprach mitten in der Nacht mit einem Toten. Sehnte sich nach ihm. Sie war die trauernde Witwe, die nicht ins Leben zurückfand und sich an Vergangenes klammerte, und da half auch ein alter Brief aus einem Schuhkarton nichts. Eine erste Träne fiel aufs Kissen. Sie schob den Brief von sich, und er rutschte über die Bettkante zu Boden. Dort war er besser aufgehoben. Nicht mehr in ihrem Blickfeld. Alex, der Sommer am See, die Gefühle zu ihm, all das sollte in der Vergangenheit bleiben. Morgen würde sie den Brief zurück in den Karton stecken, oder besser noch, vernichten. Sie würde die einzige Erinnerung an ihn und diese längst vergangene Liebe zerreißen.
Maurice hatte nie davon erfahren. So vieles hatte sie ihm verschwiegen. Gerade jetzt wünschte sie sich, er würde sie im Arm halten und sie könnte ihm alles erzählen.
Hier in Hamburg fand ihr Leben statt – sie hatte ihrer Tochter versprochen, es auf die Reihe zu kriegen, und das würde sie auch. Die Vergangenheit, der See mit seinem Briefkasten und das alte Haus am Ende der Straße gehörten zu einer anderen Welt, in eine andere Zeit. Daran würde auch die Stimme ihrer Mutter auf dem Anrufbeantworter nichts ändern. Hanna wickelte sich noch fester in die Decke, nahm Paola in den Arm und starrte so lange auf das Puzzle an der Wand, bis sie einschlief.
MAI, 1990
Hanna befestigte die letzte Girlande an einer der Vorhangstangen und kletterte erleichtert von dem wackeligen Hocker, der ihr als Leiter diente, aber keinen besonders vertrauenerweckenden Eindruck machte.
»Ich denke, so hängen die Girlanden gut«, wandte sie sich an ihre Freundin Isa, die damit beschäftigt war, die Theke mit Luftschlangen und Ballons zu dekorieren. Isa war diese Woche sechzehn geworden und feierte diesen freudigen Anlass mit einer großen Geburtstagsparty, die ihr der neue Freund ihrer Mutter spendierte. Sie hatte den Partyraum des Gemeindezentrums angemietet und unglaubliche fünfzig Freunde eingeladen, die später mit Familienpizzen und Salaten von einem Caterer verköstigt werden sollten. Überall lagen Chipstüten und anderer Knabberkram, der noch verteilt werden musste. Unmengen von Getränkekisten stapelten sich in einer Ecke, und Isas Mutter hatte zwei große Erdbeerbowlen gemacht, alkoholfrei natürlich. Immerhin waren viele der Gäste erst fünfzehn oder sechzehn, niemand volljährig. Nach einigen Ermahnungen hatte sie ihre Tochter allein gelassen und war mit ihrem dauergrinsenden Karsten, angeblich ein BMW-Manager, verschwunden. Hanna hatte ihn auf den ersten Blick nicht gemocht. Der Typ war aalglatt, mit zurückgegelten Haaren und Boss-Sonnenbrille, die seine Geheimratsecken nicht überdecken konnte. Aber immerhin hatte er die Beleuchtung gut hingekriegt und auch eine Discokugel aufgehängt, das musste man ihm lassen. Durch das gedimmte Licht und die bunten Strahlen wirkte der kahle Raum um einiges freundlicher. Isa begutachtete Hannas Werk kurz und nickte. »Sieht super aus. Hast du spitze gemacht.« Sie öffnete eine der Chipstüten und beförderte deren Inhalt in eine der vielen Schüsseln. Hanna beobachtete sie dabei. Sie hatte ihre Freundin seit einer Weile nicht gesehen. In den letzten Monaten schien sie noch hübscher geworden zu sein, wenn das überhaupt noch möglich war. Isa hatte ihr kastanienbraunes Haar am Hinterkopf hochgedreht und mit Haarnadeln festgesteckt, einzelne Strähnen ringelten sich auf ihre Schultern herab. Sie war geschminkt, was sie älter erscheinen ließ. Selbstverständlich trug sie ihr Geburtstagsgeschenk, eine Levi’s-Jeans von ihrem Vater. Dazu ein Chiemsee-T-Shirt. Auf einmal redete sie viel von den Marken der Klamotten, die sie trug. Seitdem sie in Gröbenzell wohnte, schien das wichtig geworden zu sein. War Hanna ihre beste Freundin fremd geworden? Sie kannten sich schon seit dem Kindergarten. Jeden Morgen waren sie die ersten Kinder im katholischen Kindergarten St. Martin gewesen, denn ihre Väter fuhren mit derselben S-Bahn zur Arbeit. Allzu viele Erinnerungen an diese Zeit hatte Hanna nicht mehr, doch Isa war Teil jeder einzelnen. Ob bei der Weihnachtsbäckerei oder dem Adventsbasteln, beim Um-die-Wette-schaukeln oder der Schlammschlacht im schmelzenden Schnee – sie war immer da gewesen. Ihre beste Freundin, der sie alles sagen konnte, mit der sie jede freie Minute verbrachte. Die strahlende Isa immer vorneweg, gefolgt von der stilleren Hanna. In der Schule hatte Isa stets die besseren Noten. Sie lief schneller im Sportunterricht, konnte das perfekte Rad schlagen, später sogar einen Salto. Isa benötigte keine Zahnspange, während Hanna mit einem fürchterlichen Drahtgestell vor dem Mund herumlaufen musste. Sie hatte zuerst Brüste, worum Hanna sie so beneidete. Auch der erste Kuss war ihr vorbehalten gewesen. Mit Michi, dem schönsten Jungen des Dorfes, den alle anhimmelten. Hanna wusste noch, wie Isa ihr bis ins Detail erklärte, wie es sich anfühlte, die Zunge eines Jungen im Mund zu haben. Als sie es erzählte, klang es so aufregend, doch als Hanna ein halbes Jahr darauf selbst Gelegenheit hatte, es auszuprobieren, fand sie es einfach nur eklig. Im Nachhinein musste sie sich eingestehen, dass sie zu Thomas, ihrem Versuchsobjekt, ungerecht gewesen war. Der arme Kerl verstand damals die Welt nicht mehr. Einen ganzen Nachmittag knutschte sie mit ihm, und dann würdigte sie ihn keines Blickes mehr. Ihr war alles zu schnell gegangen. Das Küssen, das Anfassen, seine Kalbsaugen. Er hatte ihr nicht verziehen, dass sie auf Distanz gegangen war, und hatte inzwischen mit Franzi eine feste Freundin.
Selbstverständlich tröstete Hanna ihre Freundin, als sie herausfand, dass Michi es mit der Treue nicht so genau nahm. Beste Freundinnen machten so etwas. Sie waren füreinander da und gingen miteinander durch dick und dünn. Jedenfalls in Hannas Augen. Doch als wenig später ihre Welt mit dem Auszug ihres Vaters zusammenbrach, hatte Isa anderes im Sinn gehabt. Zuhören war noch nie eine ihrer Stärken. Dabei hätte Hanna ob der abrupten Veränderung in ihrem Leben mehr denn je eine beste Freundin gebraucht. Einen Menschen, der zuhörte, wenn sie von Weinflaschen auf dem Tisch sprechen wollte, die Stille im Haus nicht ertrug oder ihr der Dorfklatsch zu viel wurde. Aber damals war Isa nach Gröbenzell umgezogen. Ein Telefonat mit ihr war nun ein Ferngespräch. Einige Male war Hanna noch mit der S-Bahn nach Gröbenzell gefahren, was ewig dauerte. Schon bald waren ihre Fahrten seltener geworden, schließlich ganz ausgefallen. Sie hatte sich damit arrangiert, ihre Gefährtin aus Kindertagen verloren zu haben.
Die Tür öffnete sich, und eine Gruppe junger Leute betrat den Raum, die Hanna nicht kannte. Zwei Jungs und drei Mädchen. Die beiden Jungs hatten einen Kasten Bier dabei, die Mädels zwei Flaschen Sekt.
»Getränkeservice«, sagte einer von ihnen grinsend, während sie die Bierkiste hinter der Theke abstellten. Eines der Mädels fiel Isa überschwänglich um den Hals, während die andere, ein blondes Mädchen, etwas hilflos mitten im Raum stehen blieb. Der Anhang, dachte Hanna. Artig gratulierte auch sie dem Geburtstagskind, das sich gleich daranmachte, die Sektflaschen zu öffnen, und den Inhalt in die Erdbeerbowle beförderte. Mit einem breiten Grinsen erklärte Isa: »Kindergarten war gestern.«
Die beiden Jungs hatten sich bereits ein Bier aufgemacht und stießen auf Isa an. Einer von ihnen begann sich an der Stereoanlage zu schaffen zu machen. Wenige Minuten später erfüllte Matthias Reims Stimme den Raum. Das blonde Mädchen trat näher an Hanna heran. Sie musste schreien, um sich verständlich zu machen.
»Ich heiße Sabine, und wer bist du?«
Hanna nannte ihren Namen und lächelte.
»Woher kennst du denn die Isa?«, fragte Sabine arglos.
»Von früher«, antwortete Hanna knapp.
Die Tür öffnete sich, und weitere Jugendliche strömten in den Raum. Hanna kannte keinen von ihnen. Geschenke begannen sich auf einem Tisch in der Ecke zu stapeln. Isa wurde umarmt und geküsst. Hanna schien sie vollkommen vergessen zu haben. Sie hatte nur noch Augen für ihre neuen Freunde, die alle irgendwie gleich aussahen. Die Mädels trugen durchweg Levi’s-Jeans und Marken-T-Shirts. Einige hielten mit einem Jungen Händchen. Auch um Isa legte ein dunkelhaariger Typ wie selbstverständlich seine Arme. Er zog sie eng an sich und küsste sie eine halbe Ewigkeit. Isa hatte ihr gar nichts von einem Freund erzählt, dachte Hanna. Wie sollte sie auch. Seit Monaten hatten sie sich nicht mehr gesehen. Nur ab und an kurz telefoniert. Die Einladung zur Party war mit der Post gekommen. Hanna hatte sich ehrlich darüber gefreut. Stunden hatte sie damit zugebracht, die Klamotten für den heutigen Tag auszuwählen. Am Ende waren es eine kurze Jeans und ihre karierte Wickelbluse geworden, die aus einem Grafinger Secondhandladen stammte. Zu Hause hatte sie sich in dem Outfit wohlgefühlt, jetzt hatte sie das Gefühl, damit vollkommen fehl am Platz zu sein. Kein anderes Mädchen trug kurze Hosen oder gar einen Rock, obwohl draußen die Luft stand und es einer der ersten heißen Tage des Jahres war. Bestimmt kaufte hier auch niemand im Secondhandladen ein. Früher hatte sie das auch nicht tun müssen. Doch seitdem ihre Mutter ihre Anstellung bei der Versicherung verloren hatte, war das Geld knapp. Eine Levi’s-Jeans oder sogar ein Chiemsee-T-Shirt waren undenkbar.
Matthias Reim wurde von Alannah Myles mit »Black Velvet« abgelöst. Immer mehr Gäste kamen, und schon bald war der Partyraum gut gefüllt. Weitere Sekt- und Weinflaschen wurden auf der Theke abgestellt. Sogar Wodkaflaschen und Red-Bull-Dosen waren darunter. Es würde eine feuchtfröhliche Nacht werden. Der Junge an der Stereoanlage drehte die Musik noch lauter und zündete sich eine Zigarette an. Die Erste Allgemeine Verunsicherung trällerte ihr »Ding Dong«. Unablässig wurden Getränke eingeschenkt und die Bowle probiert. Isa war umringt von ihren Freunden, lachte und amüsierte sich. Hanna sank auf ein altes Sofa in der Ecke. Sie fühlte sich überflüssig. Wieso hatte Isa sie überhaupt zu ihrer Party eingeladen? Ihr Blick wanderte durch den Raum, und sie dachte an ihren eigenen Geburtstag, der nur zwei Wochen zurücklag. Zum ersten Mal hatte sie diesen nicht gefeiert. Es war kein leichter Tag gewesen. Kurz bevor sich der Wecker einschaltete, hatte sie noch gehofft, dass ihre Mutter gleich kommen und »Happy Birthday« singen würde, wie sie es all die Jahre getan hatte. Sie war nicht gekommen. Das Piepen des Weckers, ein alltägliches Geräusch, an diesem Tag hatte es weh getan. Wie immer war sie auf dem Weg ins Bad am Schlafzimmer ihrer Mutter vorbeigelaufen. Sie hatte die Tür aufgeschoben und in den abgedunkelten Raum geblickt. Ihre Mutter hatte mit dem Rücken zu ihr im Bett gelegen. Der übliche Alkoholgeruch schwängerte die Luft. Wie lange war der Rollladen nicht mehr hochgezogen, das Fenster nicht mehr geöffnet worden? Sie wusste es nicht mehr. Wie so oft in letzter Zeit hatte sie auch an diesem Morgen die leeren Flaschen zusammengesammelt, um sie auf dem Weg zur Schule zum Glascontainer zu bringen. Der Küchentisch war leer. Keine Geschenke, keine Pfannkuchen, wie sonst an ihrem Geburtstag. Ohne Frühstück hatte sie das Haus verlassen. Wenigstens die Sonne schien zu wissen, dass heute ein besonderer Tag war. Sie strahlte von einem wolkenlosen Himmel wie eigentlich immer an Hannas Geburtstag. Ein sanfter Wind rüttelte an den Zweigen der vielen Kirschbäume im Garten. Unter ihnen standen Gartenbank und Tisch, umgeben von weißen Blütenblättern im Gras. Heute würden sie nicht wie sonst im Garten feiern, es würde kein Fest unter den Kirschbäumen mit Schokoladenkuchen, Zitronenlimonade und Blütenblättern im Gras geben. Sie würden gar nicht feiern. Ihr Geburtstag war zu einer Unwichtigkeit verkommen. Irgendwo im Meer der Glasflaschen verschwunden, umnebelt von Alkoholgeruch, vergessen in einem abgedunkelten Zimmer.
Neben Hanna setzte sich ein junges Pärchen, das keine Notiz von ihr nahm und heftig zu knutschen begann. Andere Pärchen hatten inzwischen zu den Klängen von Roxette zu tanzen begonnen. Hanna mochte die Musik der schwedischen Band. Sie hatte sogar ein Poster von ihnen über ihrem Bett hängen. Auch Isa tanzte eng umschlungen mit ihrem Freund. Ihren Kopf hatte sie auf seine Schulter gelegt, die Augen geschlossen, ein sanftes Lächeln umspielte ihre Lippen. Sie sah glücklich aus. Ihr Geburtstag war ja auch ein Grund zum Feiern, dachte Hanna, anders als der ihre. In Isas Leben gab es keine abgedunkelten Räume, keine Geldsorgen, keinen Dorfklatsch und keine mitleidigen Blicke. Hanna spürte Tränen in ihren Augen. Sie sprang auf. Was wollte sie überhaupt hier? Das war nicht ihre Welt, hierher gehörte sie nicht. Isa war irgendwo zwischen Levi’s-Jeans- und Marken-T-Shirt-Freundinnen verschwunden, sie war eine Freundin aus einer anderen Zeit, und die war vorbei. Ihr neues Leben fand in Gröbenzell statt, Hanna spielte keine Rolle darin. Die Einladung aus Höflichkeit hätte sie sich schenken können. Ohne sich von Isa zu verabschieden, verließ Hanna den Raum. Draußen empfingen sie stickige Schwüle und Zigarettengeruch. Einige der Jungs gammelten auf den Bänken vor dem Eingang herum. Sie überhörte ihre spaßigen Bemerkungen und lief zur Straße. Nur noch fort von hier, zurück nach Hause, in ihr Zimmer, wo sie sich verkriechen konnte. Als sie die S-Bahn-Station erreichte, war erstes Donnergrummeln zu hören. Sie blickte zum Himmel. Am Horizont hatten sich schwarze Wolken aufgetürmt. Kein Wunder bei der schwülen Hitze, dachte sie und stieg in die S-Bahn. Schon in Pasing begann es zu regnen. Sturmböen rüttelten an den Bäumen, Blitze zuckten, Donner krachte. Am Ostbahnhof blieb die S-Bahn eine Weile stehen. Hanna lehnte den Kopf gegen die Scheibe und beobachtete, wie der Regen auf den Bahnsteig prasselte. Ein vollkommen durchweichter Fahrradfahrer stieg ein. Ihm folgte eine ältere Dame mit Schirm, die Hanna gegenüber Platz nahm. »Was für ein Sturm«, begann sie ein Gespräch mit ihr. »In Grafing sollen sogar Bäume umgestürzt sein.« Hannas Augen weiteten sich. »Wollen wir hoffen, dass die S-Bahn durchfährt. Ich muss nur bis Trudering. Das wird noch zu schaffen sein. Wo müssen Sie denn hin, Kindchen?«
»Nach Griesing«, antwortete Hanna.