Ich bin
der Sohn des Sonn.
Mein Name?
RE - ATUM - ATON
Bin ich
der Sohn des Sonn?
Liebe Leserin, lieber Leser,
vielleicht sind Sie ja erstaunt über dieses »Sonn« und fragen sich: Warum schreibt dieser Herr Nitzsche denn nicht »Sonne«, wie es sich gehört? Oder steht das etwa so im neuen Duden? Das andere Wort, dieses ATON, klingt ja sehr fremd, könnte ägyptisch sein, aber da kenne ich mich nun überhaupt nicht aus. Hoffentlich kommen jetzt keine Hieroglyphen! Aber Sonn im Deutschen, das geht doch nicht. Schlimm genug, wenn da einer von Mondin statt von Mond spricht. Also wirklich, also nein!
Zugegeben, Sonn ist ein wenig gewöhnungsbedürftig, aber unsere Sprache ändert sich ja ständig - oder wird geändert. »Rechtschreibreform«, fällt mir da ein. Früher schufen Dichter neue Worte, heute die Werbetexter. Für mich als Biologen ist unsere Sonne natürlich männlich, also spreche ich vom Sonn. Denn er befruchtet mit seinem Licht unsere Mutter Erde - sie, in deren Schoß das Leben entstand und wächst. Fast alles gegenwärtige Leben hängt über die Photosynthese der Pflanzen an diesem Energiestrom. Ohne sein Licht keine Pflanzen, ohne Pflanzen keine Tiere, also auch keine Menschen.
Nun aber zum Inhalt.
Versammelt sind in diesem Buch Taggeschichten, Gedanken und Träume, thematisch in sechs Kapitel aufgeteilt. Ausgehend von unseren Wohnungen und Häusern und Straßen der Stadt entfernen wir uns immer weiter über Gärten und Wiesen hin zu Wäldern und Bergen über Seen und Meere und Wüsten von den Menschenwelten und gelangen so zu den kleinen Göttern, die da irgendwo irgendwann ihre Göttergedanken träumen. Alles klingt ein, alles klingt aus.
Dazwischen findet sich wieder ein lockerer Rahmen. Diesmal ist es ein Penner, den wir schon aus dem Ruf der Mondin kennen, dem ersten Band meiner Nachtgeschichtentrilogie um die Mondin. Sie erinnern sich? Er war es, der den jungen Mann tot auf einer Bank im Park fand. Und es sahen wohl nur wenige Fernsehzuschauer vor langer Zeit in einer Landesschau* einen jungen Mann dort unter einer Platane sitzen, lauschten dabei wenigen Worten, nicht aus dem Mund, aber aus dem Geist des noch immer so unbekannten Autors, erblickten dann auch ihn, also mich, mit Vogelspinne** auf der Schulter lachend beim Betrachten eines Spinnenhorrorfilms.
Rainar Nitzsche,
Kaiserslautern im April 2017
*: Phantastische Welten in der Pfalz. SWF3 Landesschau Kultur, 28.09.96
**: eine baumbewohnende Vogelspinne der Gattung Avicularia, die inzwischen nicht mehr unter den Lebenden weilt.
Du erinnerst dich an den Penner? Nein?
Ich meine den alten Mann, der ...
Nein, der trinkt keinen Wein! Der liegt auch nicht so rum, der steht - auf Bier. Ja, diesen Alten mit dem grauen Vollbart, den meine ich.
Siehst du, jetzt siehst du ihn auch, doch nicht auf einer Bank im Park. Dort schläft er nicht, sondern im Obdachlosenasyl. Schau genau hin, komm näher ran, lass dich nicht abhalten von seiner Fahne. Schau genau hin. Da, seine Augen zucken hinter geschlossenen Lidern. Der Penner träumt. Willst du erfahren, wovon?
Geh noch näher ran!
Ja, so!
Du hast es geschafft. Jetzt bist du in seinem Traum. Jetzt siehst du, was er sieht, hörst du, was er hört, riechst du, was er riecht, fühlst du, was er fühlt. Jetzt bist du er.
Jetzt bist du in einem kleinen Park. Ach, es ist ja nur ein Platz, platanenumstanden, kreisrund. Aber seltsam ist die Perspektive doch. Du erblickst einen jungen Mann auf einer Bank, allein. Es ist Nacht, die Laternen verlöschen ohne Laut. Doch noch immer ist Licht, wacht über allem die Volle Mondin. Du siehst ihn von unten.
Aus tiefster Froschperspektive?
Nein, von noch tiefer, von unterhalb der Erdoberfläche aus! Dort siehst du ihn sitzen auf einer Bank unter Platanen und träumen im Licht der Mondin. Du schaust die Bank und den Mann von hinten, als Silhouette nur, dann wieder von der Seite, dann von vorne, als würdest du dich unter der Erde im Kreis bewegen. Niemals aber schaust du in sein Gesicht! So käme es dir seltsam vor, woher du weißt, dass er jung ist, wärest du wach. Doch du schläfst, doch du träumst. Also stellst du keine Fragen.
Aber du träumst nicht die Träume des jungen Mannes auf der Bank. Also hörst du niemals ihren Ruf, den Ruf der Mondin, also stirbst du nicht, noch nicht, also lebst du weiter. Du schläfst in der Nacht und bist wach am Tag. Denn du bist ein Kind deines Vaters. Der aber heißt Sonn. Jetzt aber bei Nacht ist er untergegangen, hinabgefahren unter die Erde, in die Unterwelt. Dort gleitet er auf einer Barke dahin durch schwarze Höllen. Doch es wird ein Morgen kommen. Dann geht er wieder auf im Osten, so strahlend hell gigantisch über dieser deiner Stadt.
Damals, als wir erwachten, zu werden begannen, vor Zeiten, damals öffneten wir Ohren und Augen und Nase und Mund, die Welt um uns zu fühlen. Wir atmeten ein das Leben.
So brachen auf Zunge und Geist. Und das Wort wurde. Und das Wort war Macht.
Auf ewig erwoben aber in den Träumen, die da wuchsen im Dunkel der Nacht, sind die Schreie unserer Brüder und Schwestern, sie alle: Opfer der fauchenden Dolche. So stiegen auf aus unseren Mündern Worte, die flogen von Ohr zu Ohr zu Mund und durch die Zeit, vom Vater dem Sohne gegeben.
Dann schrieben wir auf - aus Bildern wuchsen Zeichen - diese Worte. So wurde die Schrift in den Sand, auf Holz, in Tafeln aus Ton, in Steine geritzt. Papyrus, Papier.
Jetzt aber laufen die Bilder über Wände aus Stoff und finden sich wieder in Röhren und Chips. Und Worte schlafen auf Bändern und Scheiben, erwachen.
Ewig lauschen wir still den Klängen von fern - träumen in unzähligen Welten.
All dies: die Klänge und Bilder und Düfte, die meine Sinne mir spiegeln aus den Räumen dort draußen, und die Träume in mir, all dies, das eben noch war, und die Gedanken, dem Morgen entsprungen, aus Welten so weit von hier, das ALLes sind Fäden, die sich weben zu Worten in Sätzen, die da warten so still und geduldig gleich einer Spinne im Netz, auch dich zu fangen.