Der neue Landdoktor 42 – Was geschah in jener Nacht?

Der neue Landdoktor –42–

Was geschah in jener Nacht?

Henriette hatte alles gesehen ...

Tessa Hofreiter

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74091-744-9

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Die Morgennebel über den Wiesen hatten sich gelichtet, und die hügelige Landschaft mit ihren Wäldern leuchtete in einem satten Grün. Die junge Frau, die auf der Terrasse des Forsthauses von Bergmoosbach saß, seufzte zufrieden. »Was für ein schöner Tagesbeginn«, sagte sie zu den drei Hunden, die sich neben ihr ausgestreckt hatten. »Genau das Richtige für meinen ersten Tag als Vertretung in der Tierarztpraxis Wagenfurth.«

Die hübsche junge Frau mit den kurzen, hellblonden Haaren und den grünlichen Augen hieß Henriette, und sie war die Schwester der Tierärztin Doktor Friederike Wagenfurth, die seit einiger Zeit in Bergmoosbach praktizierte. Friederike hatte den Förster Lorenz Breitner geheiratet, und das Paar befand sich auf seiner nachgeholten Hochzeitsreise, zu der vorher nicht die Zeit gewesen war. In diesen Wochen waren sie auf einem Segeltörn auf der Ostsee unterwegs. Henriette, die ebenfalls Tierärztin war, hatte in dieser Zeit die Praxisvertretung übernommen und wohnte im Forsthaus.

Die junge Frau sprang auf, räumte Müslischale und Kaffeebecher in die Küche und verabschiedete sich von den Hunden, die zum Haushalt ihrer Schwester gehörten. »Macht’s gut, ihr Rasselbande, und hütet mir Haus, Hof und die Auffangstation für Wildtiere. In der Mittagspause bin ich wieder bei euch.«

Henriette fuhr voller Vorfreude auf ihre Arbeit nach Bergmoosbach hinein. Sie war nicht völlig fremd hier, denn seit der Hochzeit von Rieke und Lorenz kannte sie das Dorf und seine Bewohner. Ihre Schwester hatte ihre Praxis am Marktplatz in einem weißen Haus mit dem typischen hölzernen Balkon im oberen Stockwerk, vor dem rote Geranien und dunkelblaue Lobelien leuchteten. Henriette parkte ihren Wagen in einer Seitenstraße und ging rasch zur Praxis zurück. Ehe sie die Haustür aufschloss, blieb sie auf den Eingangsstufen stehen und ließ den Blick über die Nachbarschaft schweifen.

Es war ein idyllischer, mit Kopfsteinen gepflasterter Platz, in dessen Mitte sich ein alter, quadratischer Springbrunnen befand. Etliche Läden umgaben ihn, es gab ein kleines Eiscafé, einen Kiosk, und am Wochenende war Markttag. Dieser Platz in der Mitte des Dorfes war ein beliebter Treffpunkt, der von Einheimischen und Touristen gleichermaßen geschätzt wurde. Dort durften tagsüber und nachts keine Autos fahren, und wegen des holprigen Pflasters waren nur wenig Radfahrer unterwegs.

Jetzt allerdings war es früh am Morgen, die umliegenden Geschäfte und Restaurants mussten beliefert werden, und auf dem Marktplatz waren etliche Autos unterwegs. Kurz vor Unterrichtsbeginn nahmen auch etliche Schüler auf ihren Rädern diesen Weg, und es herrschte reger Betrieb.

Plötzlich nahm Henriette einen silbergrauen Weimaraner wahr, der neben den Eingangsstufen aufgetaucht war und sie abwartend anschaute. »Hallo, du«, sagte Henriette freundlich zu ihm, »willst du zu mir? Es sieht so aus, als ob du mein erster Patient bist.« Sie schaute sich suchend nach dem Besitzer um, sah aber niemanden, der sich der Tierarztpraxis näherte oder zu dem der Hund gehören könnte. Der einzige, der ihr ins Auge fiel, war ein Mann auf der anderen Seite des Marktplatzes. Er war groß und dunkelhaarig, trug eine hellgraue Jeans und einen leichten, schwarzen Pullover mit V-Ausschnitt über einem weißen T-Shirt. Um die Schultern hatte er lässig eine lederne Hundeleine liegen, die zu dem Lederhalsband des Weimaraners passte. In der Hand hielt er ein Smartphone, dem seine ganze Aufmerksamkeit galt.

Und dann geschah alles im Bruchteil eines Augenblicks: auf der anderen Seite des Marktplatzes schaute der Mann von seinem Smartphone hoch, rief befehlend: »Fargo! Hierher!«, der Hund setzte sich sofort mit großen Sprüngen in Bewegung und lief mitten in den Verkehr. Er kollidierte mit einem Fahrrad, das sich von der Seite näherte. Man hörte eine panische Mädchenstimme »Nein!« schreien, ein herzzerreißendes Aufjaulen und das metallische Scheppern, mit dem das Rad auf dem Pflaster aufschlug.

Für eine Sekunde herrschte lähmende Stille, dann rief eine entsetzte Stimme: »Jesses, es ist das Doktormadl!«

Henriette rannte auf das Chaos zu, das sich auf den Pflastersteinen ausbreitete: ein blutendes junges Mädchen, ein jammernder Hund, Schulbücher, die aus dem Rucksack gefallen waren, und aufgeregte Erwachsene.

»Hast du dich am Kopf verletzt?«, war ihre erste Frage an das Mädchen, dem Blut über das Kinn lief.

Emilia Seefeld schüttelte leicht den Kopf. »Nein, Lippe gebissen«, nuschelte sie.

»Hier, nimm das.« Der Mann, der den Hund gerufen hatte, war leichenblass und drückte Emilia ein Paket Taschentücher in die Hand. »Es tut mir so leid, es tut mir so unendlich leid.«

Eine ältere Frau legte den Arm um die Schultern des jungen Mädchens. »Dein Vater ist schon unterwegs, Madl, alles wird gut.«

»Afra, es wäre eigentlich gar nicht nötig gewesen, dass Papa kommt«, antwortete Emilia undeutlich. Ihre Unterlippe war schon stark geschwollen und blutete. »Ich kann doch in die Praxis laufen.«

»Das lass mal den Papa entscheiden«, antwortete Afra resolut. Sie half dem jungen Mädchen, das Blut von den aufgeschlagenen Knien und der aufgeschürften Hand zu tupfen, und hielt gleichzeitig Ausschau nach Doktor Seefeld.

Henriette sah, dass das menschliche Unfallopfer gut betreut wurde und konnte sich dem Hund zuwenden. »Na, mein Guter, wo hat es dich erwischt?«, fragte sie mit ruhiger Stimme. Der Weimaraner stand auf allen vier Pfoten, offensichtlich war keines seiner Beine gebrochen. Aber er atmete flach, und Bewegung schien ihn zu schmerzen.

»Wenn das Mädchen in ärztlicher Obhut ist, gehen wir in meine Praxis. Ihr Hund muss sofort geröntgt werden«, sagte sie zu dem Mann, der Fargo gerufen hatte.

»Was?« Er schaute sie irritiert an. Seine ganze Aufmerksamkeit galt dem verletzten Mädchen. »Das ist nicht mein Hund.«

Henriette runzelte die Stirn. »Aber haben Sie ihn nicht zu sich gerufen?«

»Ja, schon, aber Fargo gehört einem Freund von mir. Ich passe heute nur auf ihn auf.«

»Das haben Sie ja ganz toll hingekriegt.« Henriette schaute ihn finster an. »Sie lassen einen fremden Hund von der Leine, verlieren ihn aus den Augen und rufen ihn dann spontan zu sich? Ohne auf die Straße zu achten? Glauben Sie, der Hund guckt vorher nach links und rechts, um zu prüfen, ob ein Auto kommt?«

Der Mann wollte antworten, aber in diesem Augenblick hielt das Auto des Landdoktors, und Sebastian Seefeld stürzte zu seiner Tochter. »Emilia! Was ist passiert?« Er war sehr blass, und man konnte dem Vater seinen Schrecken ansehen.

Seine Tochter sah tatsächlich sehr mitgenommen aus. Da sie noch keine Gelegenheit gehabt hatte, das Blut vom Kinn und den Schürfwunden abzuwaschen, hatte das Wischen mit den Papiertüchern rote Schlieren hinterlassen. Emilia lächelte schief. »Nicht aufregen, Papa«, nuschelte sie. »Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht.«

»Ich kann gar nicht sagen, wie leid es mir tut«, wandte sich der Mann an den Arzt. »Es war mein Fehler, ich hätte den Hund nicht rufen dürfen.«

»Schon gut, darüber sprechen wir später«, wehrte Sebastian ab. »Jetzt kümmere ich mich um meine Tochter.«

Schnell hatte er sich davon überzeugt, dass Emilia nur Hautverletzungen durch Abschürfungen erlitten hatte. Das konnte in seiner Praxis behandelt werden und würde problemlos heilen.

»Wir fahren jetzt nach Hause, dann kannst du versorgt werden und dich umziehen. Für heute schreibe ich dir eine Entschuldigung für die Schule«, sagte Sebastian. Er sammelte die verstreuten Bücher in den Rucksack und legte ihn in seinen Wagen.

»Und der arme Hund? Ich habe ihn doch angefahren«, erwiderte Emilia besorgt.

»Um den kümmere ich mich, du musst dir keine Sorgen machen«, beruhigte Henriette sie.

»Sie sagen mir Bescheid, was mit ihm ist? Sie kümmern sich gleich um ihn?«, erkundigte sich Emilia, während ihr Vater sie ins Auto schob.

»Natürlich, und um deine Sachen auch«, antwortete Henriette freundlich.

Das Auto des Landarztes fuhr vorsichtig über den geschäftigen Marktplatz, und die junge Tierärztin schaute sich unter den Menschen um, welche den Unfallort umstanden. »Sie bringen jetzt bitte das Fahrrad zum Doktorhaus«, sagte sie energisch zu dem Mann, der ihr am nächsten stand.

»Was, ich?« Der Mann schaute sie perplex an. Er trug Jeans und ein gemustertes Hemd, das zu eng für seine leicht dickliche Figur war. Die dunkelblonden Haare waren im Nacken zu einem dünnen Pferdeschwanz zusammengebunden. Alles in allem wirkte er neugierig und nicht besonders sympathisch, aber er war in Reichweite. Seine hellblauen Augen starrten die Tierärztin überrascht an. »Wieso denn ich?«

»Wieso denn nicht? Hier kennt doch jeder jeden, und eben haben Sie sehr interessiert zugeschaut, dann können Sie sich auch nützlich machen. Emilia braucht ihr Rad, also bringen Sie es ihr, oder haben Sie jetzt keine Zeit?«

»Was? Ich, doch, ich kann das machen«, stotterte er und hob das Rad vom Pflaster auf.

»Das ist recht, Wendelin, dann weißt du mit deiner Zeit etwas Sinnvolles zu tun«, warf die Kioskbesitzerin Afra ein.

»Und nun zu Ihnen«, wandte sich Henriette an den Mann mit dem Weimaraner. »Ihr Hund muss in die Praxis, sie liegt direkt gegenüber. Bitte geben Sie mir die Leine.« Vorsichtig führte Henriette den Hund über den Marktplatz, wobei sie genau beobachtete, wie er sich bewegte und reagierte. Er hatte eindeutig Schmerzen beim Gehen und beim Atmen.

Der Mann folgte ihr betreten. Er hatte ein sehr schlechtes Gewissen, weil seine Unachtsamkeit der Grund für den folgenreichen Unfall gewesen war. Schweigend schaute er zu, wie Henriette den Hund untersuchte. Ein wenig hilflos sagte er: »Ich, also der Hund heißt Fargo.«

»Ja, das habe ich schon mitbekommen«, war die knappe Antwort. »Ist er bereits in dieser Praxis bekannt? Vielleicht habe ich schon alle wichtigen Daten über Fargo im System. Wie heißt der Besitzer?«

»Er heißt Bernhard Lenz.«

Henriette schaute im Computer nach und hatte Fargos Patientendatei schnell gefunden. »Ja, der Hund und sein Besitzer sind bekannt, das macht es mir leichter, Fargo mit den entsprechenden Medikamenten zu versorgen.«

Als sie kurz aufschaute, stellte der Mann sich vor. »Ich heiße Leo Siebenhühner.«

Der witzige Name entlockte der jungen Frau kein Lächeln. »Ich bin Henriette Wagenfurth, die Urlaubsvertretung für Frau Doktor Friederike Wagenfurth«, antwortete sie kühl. »Wir werden Fargo jetzt röntgen, um festzustellen, ob er einen Bruch oder innere Blutungen erlitten hat.«

Sie rief ihre Mitarbeiterin Amrei, und beide verschwanden im Röntgenraum. Leo war beunruhigt, denn die Worte der Tierärztin hatten sehr ernst geklungen. Sollte Fargo schwere innere Verletzungen erlitten haben?

Als Henriette mit dem Tier ins Zimmer zurückkehrte, konnte Leo ihrem Gesicht nichts ansehen. Ebenso kühl wie vorhin erkundigte sie sich: »Sie haben also den Hund in Ihrer Obhut? Nur heute oder über einen längeren Zeitraum?«

»Nur für heute.«

»Das ist gut. Ich werde Herrn Lenz anrufen und mit ihm Fargos Behandlung besprechen. Kriegen Sie es hin, das Tier heute ruhig zu halten und ihm seine Medikamente zu verabreichen?«

Leo spürte, wie sich in seinem empfindlichen Magen die vertraute, schmerzhafte Hitze ausbreitete, die er bei Ärger und Stress empfand. Und nun war er ärgerlich! Zwar hatte sein Verhalten den Unfall verursacht, aber musste die Tierärztin ihn deshalb so eisig behandeln? Sie kanzelte ihn ja geradezu ab wie einen dummen Jungen.

»Reden Sie immer so mit anderen?«, fragte er hitzig. »Von oben herab oder im Befehlston wie vorhin, als Sie die Sache mit Emilias Fahrrad angeordnet haben?«

Henriette zuckte unbeeindruckt mit den Schultern. »Jemand musste sich um das Rad kümmern. Dieser Mann stand die ganze Zeit dabei und hatte offensichtlich Zeit. Ich bin nicht der Typ für blumige Worte.«

Leo starrte sie wütend an. »Zwischen blumigen Worten und Unfreundlichkeit gibt es noch viele andere Möglichkeiten«, sagte er streng. Henriette mit ihren strahlenden, grünlichen Augen und dem hellblonden, witzigen Kurzhaarschnitt hätte ihm normalerweise sehr gut gefallen, aber jetzt empfand er nur Abneigung.

Henriette starrte ebenso wütend zurück. »Fargo hat durch den Zusammenstoß eine Rippenprellung erlitten, was für das Tier sehr schmerzhaft ist. Er hat schon Medikamente bekommen, aber sie müssen über einen längeren Zeitraum zweimal täglich gegeben werden. Fargo muss absolut ruhig gehalten werden, es gibt keine langen Spaziergänge, kein Toben, kein Springen, kein Rennen, vor allem kein Zug auf der Leine. Sollten sich die Schmerzen trotz der Medikamente verstärken oder der Hund Schwierigkeiten beim Atmen bekommen, rufen Sie oder der Besitzer sofort an. Ich bin Tag und Nacht übers Diensthandy zu erreichen, hier ist meine Nummer.« Sie gab ihm die Visitenkarte der Praxis. »War das freundlich genug, Herr Siebenhühner?«

Leo schüttelte den Kopf. »Nein, war es nicht, aber das ist auch egal. Sollte heute noch etwas mit Fargo sein, melde ich mich selbstverständlich, aber ansonsten wird der Besitzer sich an Sie wenden. Wir beide werden einfach nicht warm miteinander.«

»Das ist auch nicht meine Absicht«, erwiderte Henriette spitzt. »Haben Sie noch weitere Fragen zu Fargos Behandlung?«

»Nein, vielen Dank, verehrte Frau Doktor Wagenfurth«, entgegnete Leo übertrieben höflich und verabschiedete sich mit einer spöttischen, kleinen Verbeugung. Er hoffte, dieser unfreundlichen Ärztin nie wieder begegnen zu müssen.

»Amrei, bitte rufen Sie den nächsten Patienten auf. Ich glaube, es ist eine Frau Müller mit ihrem Rauhaardackel Sepp? Ihr bin ich gestern oben beim Forsthaus begegnet, sie kann sehr gut mit ihrem Hund umgehen. Das ist etwas ganz anderes als eben bei diesem Mann, der einfach keine Ahnung hat«, sagte Henriette zu ihrer Helferin. »Hoffentlich fügt er Fargo keinen weiteren Schaden zu.«

In der Zwischenzeit war nicht nur der Hund gut versorgt wurden, auch Emilias Wunden sahen nach der Behandlung durch ihren Vater schon nicht mehr so schlimm aus. Am auffälligsten war die geschwollene Unterlippe, in die sie sich beim Aufprall gebissen hatte. »Jetzt geh dich waschen und umziehen und dann setz dich einen Moment zur Traudel auf die Terrasse. Ich glaube, sie ist von uns am meisten erschrocken und es wird sie trösten, wenn sie sieht, dass du alles in allem recht wohlbehalten neben ihr sitzt«, sagte Sebastian liebevoll und verabschiedete seine Tochter mit einem Kuss. Wie eisig sein eigenes Erschrecken gewesen war, als der Anruf kam, musste Emilia nicht unbedingt erfahren.

»In Ordnung, Papa«, antwortete sie und griff nach ihrem Schulrucksack. »Ich zieh mich jetzt um und dann gehe ich zu Traudel. Sie hat etwas von Germknödeln zum Mittagessen gesagt, ich könnte dafür die Pflaumen pflücken.«

»Aber vorsichtig auf der Leiter, ein Sturz am Vormittag ist genug.«

»Jawohl, Herr Doktor«, neckte Emilia ihn liebevoll und ging hinüber ins Wohnhaus.