Ich will bei euch schlafen!
(Ein-)Schlafen mit Co-Sleeping
Für Daniel, André, Jérôme & Rémy
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Neuausgabe 2019
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2007
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Umschlaggestaltung: Chris Langohr Design
Umschlagmotiv: © Yuri_Arcurs/ iStock/ GettyImages
E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN 978-3-451-81606-2
Inhalt
Vorwort
Einführung
Schlafentwicklung
Kinder schlafen anders
Was bedeutet Durchschlafen?
Ist frühes Durchschlafen wirklich wünschenswert?
Die Schlafentwicklung verläuft wellenförmig
Die Bedeutung von Körperkontakt
Einschlafen an der Brust
Nächtliches Stillen
Was ist Stillen nach Bedarf?
Schreien
Schreien als Kommunikationsmittel
Schreienlassen bedeutet Stress
Eltern eines „Schreibabys“ brauchen Unterstützung
Die sichere Bindung
Schlafstörung oder falsche Erwartung?
Schliefen Kinder früher besser?
Schlafsituation
Der ideale Schlafplatz
Nächtliches Hin und Her
Das „Sichere Nest“ nach 1001kindernacht®
Was ist Co-Sleeping?
Co-Sleeping bewährt sich
Elternberichte zum Co-Sleeping
Gemeinsames Schlafen hat viele Vorteile
Co-Sleeping an die Familie anpassen
Vaternächte
Sexualität und Beziehung
Sicherheitsmaßnahmen für das gemeinsame Schlafen
Der plötzliche Kindstod
Schlafbegleitung
Jedes Kind ist anders
Die Auswirkung von Licht und Temperatur
Wenn das Einschlafen lange dauert
Brauchen Kinder einen festen Rhythmus?
Der Tagesschlaf
Entspannung ist das A und O
Kleinfamilien brauchen Unterstützung
In den Schlaf stillen
Nachts abstillen
Abstill-Plan nach 1001kindernacht®
Kindliche Schlafstörungen
Die Auswirkung digitaler Medien
auf den kindlichen Schlaf
Alleine schlafen
Wie wird ein Kind selbstständig?
Vorsicht vor dem „Schlafenlernen“
Die umstrittene Ferber-Methode
Wie funktioniert ein Schlaftraining?
Schreienlassen belastet die ganze Familie
Kinder sind keine Tyrannen
Die Entfaltung des eigenen Willens
Die Entwicklung von Mitgefühl
Eltern sind nicht unfähig!
Mythen der Schlaferziehung
Teddybär, Schnuller & Co
Die Auszeit-Methode
Negativerfahrungen von Eltern
mit Schlaftrainings
Ein Schlaftraining ist nicht empfehlenswert
Schlaf dient der Erinnerung
Schlafenlernen ergibt keinen Sinn
Expertenmeinungen zum Thema „Schlafenlernen“
Interview mit Dr. med. Rüdiger Posth
Interview mit Prof. Dr. Jürgen Zulley
Aus einem Gespräch mit Jane Daepp-Kerrison
Aus einem Gespräch mit Dr. Franz Renggli
Aus einem Gespräch mit Dr. Luciano Gasser
Nachwort
Dank
Verwendete und weiterführende Literatur
Hilfreiche Links
„Und, schläft Ihr Baby schon durch?“ Diese Frage, meist gedankenlos und ohne böse Absicht gestellt, vermag junge Eltern gehörig unter Druck zu setzen. Sie basiert auf gesellschaftlichen Erwartungshaltungen einer kinderfeindlichen Zeit. Methoden wie Schreienlassen und Schlaftraining missachten die natürlichen Grundbedürfnisse und den Entwicklungsstand des Kindes. Moderne Erkenntnisse aus der evolutionären Verhaltensbiologie, Anthropologie, Neurologie, Pädiatrie und Entwicklungspsychologie zur Reifung des menschlichen Schlafvermögens in der frühen Kindheit belegen, dass es beim verfrühten Erzwingen des Durchschlafens nur Verlierer geben kann. Zumindest einen großen Verlierer: das Kind.
Sibylle Lüpold trägt in ihrem Buch interdisziplinäres Wissen zusammen und eröffnet eine neue Sichtweise auf das Schlafverhalten unserer Kinder. Sie bietet Eltern eine Grundlage, sich gut informiert von überzogenen Erwartungshaltungen zu emanzipieren. Die praktischen Empfehlungen ermutigen die Eltern, ihre eigene Kompetenz zu entfalten und dabei die Individualität und Schutzbedürftigkeit des Kindes im Auge zu behalten.
Das vorliegende Buch kann als Plädoyer für einen liebevollen Umgang mit unseren Kleinsten verstanden werden. Das Baby und Kleinstkind erlebt alles unmittelbar und in seiner direkten Wirkung auf sein Seelenleben. Vorsprachliche Erlebnisse der ersten Lebensjahre werden später nicht durch bewusstes Erinnern abrufbar sein, sondern verankern sich als gefühlsmäßige Anteile unserer Persönlichkeit. Eltern tragen entscheidend dazu bei, welche emotionale Grundstimmung das eigene Kind in Zukunft mit sich tragen wird.
Das Kind in den Schlaf zu begleiten und es über die Nachtstunden hinweg zu betreuen gehört zu den sensibelsten Aufgaben der Eltern. Das Schlüsselwort hierbei lautet Feinfühligkeit und dies bedeutet, die Signale des Kindes wahrzunehmen, zu verstehen und sofort angemessen zu reagieren, das heißt dem Baby das zu geben, was es braucht. Nein, es wird dabei kein Haustyrann herangezogen, im Gegenteil. Es gilt heute als gesichert, dass die Feinfühligkeit der wichtigste Faktor zur Etablierung einer sicheren Bindung zwischen dem Kind und seinen Eltern ist. Langzeitstudien konnten eindrucksvoll belegen, dass sich sicher gebundene Kinder emotional und psychosozial bis ins Erwachsenenalter hinein günstiger entwickeln und zudem die größte psychische Widerstandsfähigkeit und Heilungskraft aufbringen können, falls sie von tragischen Schicksalsschlägen getroffen werden.
Durch das Bemühen, auf die Bedürfnisse des Kindes einzugehen und ihm die notwendige Reife- und Entwicklungszeit zu gewähren, unterstützen Eltern ihr Kind, sein Selbstwertgefühl und Urvertrauen aufzubauen. Das so in Geborgenheit aufwachsende Kind entwickelt sich psychisch und körperlich gesund und erlebt eine Liebe, die es versteht – das größte Geschenk, welches Eltern ihren Kindern geben können.
Theresia Herbst
Klinische und Gesundheitspsychologin
Wien, 2008
Seit der Erstausgabe dieses Buches sind gut zehn Jahre vergangen. Die große Beliebtheit bei ratsuchenden Eltern und Fachkräften, die zu mehreren Auflagen und nun zur Neuausgabe führt, freut mich sehr. Sibylle Lüpolds Hauptaussage bleibt indes gleich: Sie vertritt eine feinfühlende, individuell unterstützende Begleitung des Kindes beim Einschlafen und während des Schlafens unter Berücksichtigung der Kräfte der Eltern. Patentrezepte bietet sie keine an, aber viele praktische Bausteine, um individuelle Lösungen zu finden. Aus einem Jahrzehnt Schlafberatung und ihrer Kursleitertätigkeit kann sie nun noch mehr Erfahrung und Wissen in die Neuausgabe einfließen lassen. Es wird noch deutlicher hervorgehoben, dass Babys und Kleinstkinder gar nicht in der Lage sind, in kurzer Zeit schlafen zu lernen, wie manche Ratgeber suggerieren, sondern dass sie durch wiederholte gute Erfahrung das Vertrauen gewinnen können, dass ihre Eltern auch dann bei ihnen bleiben, wenn sie eingeschlafen sind. Angst ist kein guter Schlafbegleiter. Wie im Gegensatz dazu Vertrauen aufgebaut werden kann und warum es Sinn macht, dass das Kind von Anfang an Schlaf mit positiven Gefühlen verknüpft, wird anhand vieler konkreter Beispiele vorgestellt. Durch das Vertrauen in seine Eltern (und seine Umgebung) können kleine Kinder lernen, entspannt einzuschlafen – oder besser: Sie schlafen ein, weil sie entspannt und ihre überlebenswichtigen Grundbedürfnisse gestillt sind und sie sich sicher fühlen. Dabei wird gleichzeitig der Grundstock einer vertrauensvollen Eltern-Kind-Beziehung gelegt, welcher das Miteinander und das Selbstwertgefühl stärkt. Die Familie wird von Beginn an zu einem Ort liebevoller Zuwendung und Ermutigung.
Theresia Herbst
Klinische und Gesundheitspsychologin
Wien, 2018
Die Nächte mit einem kleinen Kind können sehr anstrengend sein. Die meisten Eltern suchen nach einfachen Möglichkeiten, um ihr Kind zum Ein- und Durchschlafen zu bringen. In unserer Gesellschaft gehen wir irrtümlicherweise davon aus, dass Kinder lernen müssen zu schlafen – und zwar schon früh. Ein Kind muss aber nicht lernen zu schlafen, vielmehr muss es das Vertrauen aufbauen, dass seine Eltern auch dann bei ihm bleiben, wenn es eingeschlafen ist. Wie Eltern diesen sensiblen Prozess liebevoll begleiten und gleichzeitig Erschöpfung und Enttäuschung vermeiden können, darum geht es in diesem Buch.
Bei aller Freude bleibt der Anfang des Familienlebens für Eltern eine große Herausforderung, auf die sie sich nicht wirklich vorbereiten können. Sie haben eine ungefähre Ahnung, was auf sie zukommen mag, aber sie wissen nicht, wie das Leben mit ihrem Kind sein wird.
Insbesondere die Nächte stellen eine Herausforderung dar. Hatten die Eltern in ihrem Beruf früher irgendwann Feierabend, sind sie nun oft gerade abends und nachts sehr gefordert. In den ersten Monaten neigen Babys in diesen Stunden zu vermehrtem Schreien, möchten lange gestillt oder getragen werden und lassen sich selten einfach hinlegen. Durch die Dunkelheit der Nacht und die dadurch verstärkten Trennungsängste benötigen kleine Kinder besonders viel Nähe und Geborgenheit. Sie sind auf Unterstützung beim Ein- und Durchschlafen angewiesen. Die Eltern fühlen sich nach einem langen Tag jedoch oft erschöpft und wünschen sich nichts sehnlicher als ein friedlich schlafendes Kind.
Die Vorstellung, die sich Eltern bereits in der Schwangerschaft von ihrem Kind gemacht haben, entspricht selten der Realität, was zu Enttäuschung und Erschöpfung führen kann. Zudem scheinen die Kinder der Nachbarn und Freunde alle wunderbar zu schlafen – nur das eigene Kind tut sich schwer damit. Diese verzerrte Wahrnehmung führt dazu, dass die Eltern befürchten, etwas falsch zu machen. In ihrer Verunsicherung vertrauen sie lieber den Ratschlägen von Außenstehenden als ihrer Intuition. Jungen Eltern mangelt es sowohl an Erfahrung als auch an guten Vorbildern. Dass die kindliche Schlafentwicklung ein biologischer und emotionaler Reifeprozess ist, der rund drei Jahre dauert, ist den wenigsten Eltern bewusst.
Seit ich die erste Auflage dieses Buches geschrieben habe, sind über zehn Jahre vergangen. Ich erzählte damals von der überaus schwierigen Zeit mit unserem ersten Sohn, der mit einem schweren Geburtsfehler zur Welt kam und die ersten drei Monate seines Lebens in der Kinderklinik verbringen musste. Heute ist er ein junger Erwachsener, der mich und meinen Mann längst an Größe überragt und mit beiden Beinen fest im Leben steht.
Unser Sohn hatte keinen einfachen Start: Zwei große Operationen, zahlreiche schmerzhafte Untersuchungen und beängstigende Erfahrungen hinterließen ein Trauma, das er in seiner frühen Kindheit erst nach und nach verarbeiten konnte. Etwas vom Schlimmsten war, dass wir ihn als Neugeborenen nachts alleine auf der Intensivstation zurücklassen mussten, da wir nicht bei ihm schlafen durften. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich in den Schlaf zu schreien. Erst als er auf die normale Abteilung kam, durfte ich rund um die Uhr bei ihm sein. Wir bangten in dieser Zeit um sein Leben und waren überglücklich, als wir ihn endlich nach Hause nehmen konnten. Unser Familienleben gestaltete sich anfangs jedoch sehr anstrengend und er schlief unglaublich schlecht. Es war für uns selbstverständlich, dass er bei uns im Bett schlafen durfte, damit er so viel Körperkontakt, Nähe und Geborgenheit nachholen konnte wie möglich.
Zudem stillte ich unseren Sohn, so oft er danach verlangte. Ich hätte ihn noch so gerne jeden Abend in den Schlaf gestillt. Das wollte er aber nicht, sondern schrie wie am Spieß, sosehr wir auch versuchten, ihn zu beruhigen. Wir trugen ihn herum und sangen ihm Lieder vor, bis er irgendwann erschöpft einschlief. Nachts erwachte er mehrere Male schreiend und ließ sich jeweils nur schwer beruhigen. Das dauerte ein ganzes Jahr. Die ersten Wochen seines Lebens waren so belastend gewesen, dass er unendlich lange brauchte, um entspannt schlafen zu können.
Die Erfahrung mit unserem Sohn war Fluch und Segen zugleich. Einerseits litten wir schrecklich mit ihm und waren durch die frühe Trennung auf unsere Weise traumatisiert. Andererseits war sein Überleben ein unwahrscheinlich wertvolles Geschenk, das uns die Augen öffnete: Auch in der modernen und medizinisch fortschrittlichen Welt ist ein gesundes Kind keineswegs selbstverständlich. Die Dankbarkeit für unseren Sohn gab uns die Kraft, schwierige Nächte zu ertragen, und ließ uns alltägliche Sorgen nebensächlich erscheinen.
Ich realisierte erst mit unserem zweiten Sohn, der gesund zur Welt kam und einen problemlosen Start hatte, dass meine Erfahrungen sich überhaupt nicht mit denen der meisten Eltern im westlichen Kulturkreis deckten. Jetzt erlebte ich endlich, wie schön es war, mein Kind abends an der Brust einschlafen zu lassen und von Anfang an neben uns im Bett zu haben. Unser zweiter Sohn schlief so entspannt, dass ich mich ständig vergewissern musste, ob er noch atmete. Ich konnte überhaupt nicht nachvollziehen, weshalb manche Eltern sich darüber beschwerten, dass ihr Kind nachts bei ihnen sein wollte, oder weshalb manche Mütter dachten, es dürfe nicht an der Brust einschlafen. Was – so dachte ich – gibt es denn Schöneres, als ein Kind, das ohne Schreien einschlafen kann oder das sich nachts friedlich an einen kuschelt?
Die gesellschaftliche Haltung zum Kinderschlaf und die Erwartung, dass bereits kleine Kinder nachts allein zurechtkommen müssten, irritierte mich so sehr, dass ich mich intensiv damit auseinandersetzte. Als Stillberaterin stellte ich zudem fest, dass es in den meisten Beratungen auch ums Schlafen ging. Auf viele Fragen fehlten mir aber zufriedenstellende Antworten, sodass ich alles las, was ich zu diesem Thema finden konnte. Irgendwann türmten sich auf meinem Schreibtisch so viele Bücher, Artikel und eigene Notizen, dass ich beschloss, ein Buch darüber zu schreiben. Damals wollte ich den Eltern zeigen, wie unnötig ihre Sorgen doch sind, und ihnen das Vertrauen vermitteln, dass auch ihr Kind eines Tages gut schlafen wird. Von den umstrittenen Schlaftrainings riet ich klar ab und zeigte deren Nachteile auf. Es war mein Ziel, die Leser dafür zu begeistern, auch nachts für ihr Kind da zu sein. „Co-Sleeping“ war damals noch kein verbreiteter Begriff und ich kannte nur wenige Eltern, die offen dazu standen, ihr Kind bei sich schlafen zu lassen. In meinen Beratungen gaben die Mütter nur zögernd zu, dass sie ihr Kind „hin und wieder“ zu sich ins Bett nahmen; erst nachdem sie die Sicherheit hatten, dass ich ihnen deswegen keinen Vorwurf machen würde. Heute, über ein Jahrzehnt später, erzählen mir viele Eltern ganz selbstbewusst, dass es für sie selbstverständlich sei, ihr Kind bei sich schlafen zu lassen.
Ich durfte unzählige Familien über einen längeren Zeitraum in ihrem Schlafprozess begleiten und bin nach wie vor vom ursprünglichen Ansatz dieses Buches überzeugt. Trotzdem habe ich in all den Jahren festgestellt, dass das Thema Kinderschlaf komplexer ist, als ich anfangs dachte. Co-Sleeping scheint in unserer modernen Gesellschaft nicht einfach die Lösung des Problems zu sein, denn die Nachfrage nach Schlafberatungen hat sich trotz besser informierter Eltern nicht reduziert – im Gegenteil. Auch – oder gerade auch – Eltern, die ihr Kind bei sich schlafen lassen, brauchen Unterstützung dabei, wie sie ihre individuelle Schlafsituation gestalten können.
Seit 2016 bilde ich Fachleute in Schlafberatung weiter und freue mich über die große Nachfrage an den Kursen. „1001kindernacht“ heißt unser Beratungs- und Weiterbildungsangebot, das stetig wächst. 1001 Nächte – das sind ungefähr drei Jahre: So lange dauert es durchschnittlich, bis ein Kind gut ein- und durchschlafen kann. Wie Eltern diese scheinbar lange Zeit möglichst gut begleiten können, damit die Nächte für die ganze Familie entspannt sind und es auch bleiben, möchte ich in diesem Buch aufzeigen.
Kinder schlafen von Natur aus anders als Erwachsene. Kenntnisse über den Ablauf der kindlichen Schlafentwicklung sind von großer Wichtigkeit für Eltern. Da frühes Durchschlafen oft mit einer erfolgreichen Erziehung assoziiert wird, geraten Eltern unter enormen Druck, wenn ihr Kind sich damit schwertut. Fundiertes Hintergrundwissen hilft, die Standardfrage „Schläft es denn schon durch?“ selbstsicher mit einem „Nein, natürlich noch nicht!“ zu beantworten oder ganz einfach zu überhören.
Nach der Geburt hat ein Baby noch keinen geregelten Schlaf-Wach-Rhythmus. Das heißt, es schläft und erwacht mehrmals rund um die Uhr. Erst nach einigen Wochen werden diese Schlaf- und Wachzeiten länger und regelmäßiger.
Der Schlaf beinhaltet verschiedene Phasen, die wir in unterschiedlich langen Abständen immer wieder durchlaufen. Man unterscheidet zwischen dem aktiven Traumschlaf (REM-Schlaf, Rapid Eye Movement = schnelle Augenbewegungen) und den verschiedenen Übergangs- und Tiefschlafphasen (Non-REM-Schlaf). Der Bedarf an REM-Schlaf sinkt mit zunehmendem Alter. Während sich das ungeborene Kind fast zu 100 Prozent im REM-Schlaf befindet, sind es beim Neugeborenen noch etwa 50 Prozent und beim Erwachsenen zwischen 15 Prozent und 20 Prozent. Über die Bedeutung des REM-Schlafs war man sich lange Zeit unsicher. Heute weiß man, dass das Gehirn in dieser Phase höchst aktiv ist, aktiver als im Wachzustand. Die Gehirndurchblutung und Atmung sind im Gegensatz zum Non-REM-Schlaf erhöht, während die periphere Muskulatur erschlafft.
Im Vergleich zu Tieren wird Folgendes deutlich: Je höher entwickelt ein Lebewesen ist, desto besser ist sein Gehirn ausgebildet und desto höher ist der Anteil an REM-Schlaf. Für die Entwicklung eines Kindes scheint es also von größter Wichtigkeit zu sein, sich möglichst viel in diesem aktiven Schlaf zu befinden. Ältere Kinder können wie Erwachsene direkt aus dem Wachzustand in eine Non-REM-Phase gelangen. Säuglingen fehlt diese Fähigkeit jedoch noch und sie durchlaufen zuerst eine zirka 20-minütige REM-Phase. Danach gelangen sie erst langsam in den Tiefschlaf. In diesen ersten 20 Minuten braucht es nur eine kleine Störung, damit sie wieder erwachen. Eltern, die ihr Kind in den Schlaf begleiten, wissen mit der Zeit ganz genau, was sie tun müssen, damit es tief schläft. Eine falsche Bewegung oder das Knarren des Bettes können bewirken, dass es wieder hellwach ist. Nur wenige Babys kann man einfach hinlegen und selbstständig einschlafen lassen; die meisten sind auf Unterstützung angewiesen.
Schläft ein Kind einmal tief, wird es zum Glück auch durch laute Geräusche nicht mehr wach. Bei den Übergängen zwischen Tiefschlaf und REM-Phase erwacht es jedoch wiederum leicht, was mehrmals pro Nacht geschehen kann. Beim Säugling dauern die Schlafzyklen etwa 50 Minuten und verlängern sich mit zunehmendem Alter, bis sie bei Erwachsenen schließlich 90 bis 120 Minuten lang sind.
Viele Eltern denken beim Stichwort Durchschlafen an eine ununterbrochene Schlafdauer ihres Kindes von zirka 8 Uhr abends bis 7 Uhr morgens. Sie stellen sich vor, dass sie ihr Kind abends in sein Bettchen legen können, wo es zufrieden einschläft und am Morgen fröhlich erwacht. Diese Erwartung ist sowohl unrealistisch als auch anfangs gar nicht wünschenswert. Wenn ein Kind bereits mit wenigen Wochen fähig ist, so lange am Stück zu schlafen, dann ist es eine große Ausnahme.
Der Begriff „Durchschlafen“ wird von den meisten Fachleuten als ununterbrochene Schlafphase bezeichnet, die von Mitternacht bis 5 Uhr morgens dauert; also bloß fünf Stunden am Stück. Dazu durchgeführte Studien fanden in einem Schlaflabor und mit Kindern statt, die alleine schliefen. Sie entsprachen also nicht unbedingt der Norm und sind somit weder wirklich aussagekräftig noch auf jede Familiensituation übertragbar. Da die kindlichen Teilnehmer dieser Studie höchstwahrscheinlich überwiegend flaschenernährte Babys waren, können wir davon ausgehen, dass das Resultat bei Stillkindern anders aussähe. Gestillte Kinder wachen aus verschiedenen Gründen nachts häufiger auf; Stillen nach Bedarf ist die Ernährungsform, die dem Bedürfnis eines Säuglings entspricht (siehe S. 40).
Tatsächlich schläft niemand die ganze Nacht durch: Erwachsene oder ältere Kinder sind sich der Wachphasen aber oft nicht bewusst und besitzen die Fähigkeit, selbstständig wieder einzuschlafen. Auch Erwachsene haben häufig Ein- und Durchschlafprobleme. Und Babys, die sich nachts nicht melden, schlafen nicht ohne Unterbrechung durch, können sich jedoch selbst beruhigen oder äußern ihre Bedürfnisse nicht.
Eltern empfinden das kindliche Schlafverhalten meist nicht als störend, weil ihr Kind nachts mehrmals aufwacht, sondern weil es nicht mehr alleine wieder einschlafen kann. Es ist auf ihre Hilfe und Nähe angewiesen. Da es in unserer Gesellschaft üblich ist, schon kleine Kinder alleine schlafen zu lassen, bedeutet dies für die Eltern, dass sie nachts (vielleicht mehrmals) aufstehen müssen, um ihr Kind wieder in den Schlaf zu stillen, zu wiegen oder zu tragen. Danach sind sie oft so wach, dass sie selbst nicht mehr in den Schlaf finden und unter großer Müdigkeit leiden. Gerade berufstätige Eltern können sich das verständlicherweise nicht leisten. Im schlimmsten Fall kann das nächtliche Gewecktwerden Aggressionen auslösen und zu Gewalttaten am Kind führen. Daher ist dieses Thema unbedingt ernst zu nehmen! Wenn nun aber die Idee entsteht, das Kind müsse sich in seiner Entwicklung den Erwartungen der Eltern anpassen, ist dies der falsche Ansatz. Gegen die Natur zu arbeiten kann niemals wirklich erfolgreich sein. Vielmehr geht es darum, die Rahmenbedingungen der Familie so zu verändern, dass sowohl Eltern als auch Kinder zu genügend Schlaf kommen, ohne dass dabei die kindlichen Bedürfnisse nach Nähe und Geborgenheit vernachlässigt werden.
Die meisten Eltern wünschen sich, ihr Kind möge so früh wie möglich die ganze Nacht durchschlafen. Aber ist das auch im Interesse des Kindes? Aus Sicht der kindlichen Entwicklung hat das Erwachen (verbunden mit dem Stillen) mehrere Vorteile: