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Inhaltsverzeichnis

1 Die Begegnung

2 Treffen am Abend

3 Gespräch im Park

4 Fortsetzung folgt

5 Der Brief und seine Folgen

6 Der Tag der Freiheit

7 Hannover

8 Auf der Straße

9 Auf dem Weg nach Paris

10 Paris und weiter

11 Die Begegnung

12 Lourdes

13 Neue Pläne

14 Wieder in Deutschland

15 Im Übergang

16 Hamburg

17 Was Energie so alles bewirken kann

18 Zwei sind eins

19 Zeit

20 Umkehr

21 Wiedersehen

22 Weihnachten

23 Nur noch wenige Schritte

24 Die Reise beginnt

25 Indien

26 Im Ashram

27 Der Swami

28 Goa

29 Coole Tage in Goa

30 Im Ashram vom Guru

31 Das Gespräch

32 Der heilige Berg

33 Umkehr

34 Wieder im Ashram

35 Deutschland

36 Kontakte

37 Britta

38 Der Gesprächskreis

39 Satsang

40 Berlin

41 Anna-Sophie

42 Die Wohnung

43 Fülle

44 Angst

45 Der tiefe Fall

46 Graue Tage

47 Bad Schandau

48 Der umgekehrte Milarepa

49 Die Wende

50 Verarbeitung

51 Zurück auf Start

52 Eine bedeutsame Begegnung

53 Soll ich oder soll ich nicht?

54 Frankreich

55 Liebe

56 Und nun?

57 Tantra

58 Alltag

59 Alles wird gut?

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Die Begegnung

Ja, wie soll man eine Geschichte beginnen, die schon so oft erzählt worden ist? Vielleicht beginne ich sie mit meinem Vater. Als dieser noch lebte, sagte er immer: „ Der Anfang ist der Anfang und das Ende ist das Ende.“ Das kam mir immer so banal vor, aber wenn man selber etwas älter wird, merkt man, dass viele Dinge, die einem in der Jugend banal vorkamen, es irgendwann nicht mehr sind. Die Geschichte beginnt an einem schönen Sommertag, den ich mit Freunden am Strand verbringe. Ich komme aus dem Wasser und will mich gerade wieder auf mein Handtuch legen, da sehe ich sie. Wie beschreibt man eine Vision, wenn man sie hat, ohne sich der Lächerlichkeit hinzugeben und ohne all die Plattheiten zu wiederholen, die andere bereits darüber geschrieben haben? Macht nichts, ich wiederhole sie einfach. Mir stockt der Atem, denn kurz nach mir verlässt eine junge Frau das Meer, sie beugt sich zur Seite, um ihr langes Haar auszuwringen, dann hebt sie den Kopf und sieht mich an. Es ist kein kurzer verschämter Blick. Sie schaut nicht weg, sondern lächelt mich an, um dann zu ihren Freundinnen zu gehen. Aus der Ferne, ihr nachblickend, höre ich sie lachen und reden. Was sie reden, klingt nicht deutsch, sondern französisch. Was macht eine Gruppe von Französinnen in Norddeutschland am Strand? Mein Freund Max sagt, geh hin und sprich sie an, aber ich kann nicht. Ich habe Angst vor einer Abfuhr und ich traue meinem Französisch nicht. So bleibe ich liegen und beobachte sie aus der sicheren Distanz. Meine Freunde gehen baden und ich bleibe allein am Strand. Da die letzte Nacht kurz gewesen ist und ich gleich gearbeitet habe, bin ich sehr müde und schlafe ein. Wenn man tagsüber am Strand einschläft, hat das oft etwas Unwirkliches. Genau in diesem Moment erlebe ich einen wilden Traum, aus dem ich durch eine Berührung an der Schulter herausgerissen werde. Ich öffne meine Augen und blicke in spöttisch blickende braun-grüne Augen. Ich höre eine Frage, die ich nicht verstehe. Das fremde Mädchen lächelt mich an und wiederholt die Frage in gebrochenem Englisch.

«Sie will Feuer», sagt Max, der gerade aus dem Wasser kommt. «Etwas, das du auch brauchst, so schwerfällig, wie du gerade bist. Siehst du überhaupt, wer da vor dir steht?»

Erst durch die Worte von Max wird mir klar, dass es eine der Französinnen ist, die sich im knappen Bikini über mich beugt. Wie mit einem Knall kommt die Welt zu mir zurück. Ich höre die Wellen an den Strand schlagen, das Kreischen der Möwen, sehe meine Freunde nass aus dem Wasser kommen, sehe die Gruppe von Französinnen, die kichernd beobachtet, wie ihre Freundin mit dem immer noch im Sand liegenden Deutschen klar kommt und ich sehe sie. Ja, es ist die altbekannte Geschichte, aber wenn sie dir passiert, dann ist sie weder alt noch bekannt, dann ist es wie die Geburt des Universums, ein Urknall, der aus dem Nichts Alles in Erscheinung bringt. Mein Herz schlägt wie wild, mein Blut rauscht, meine Stimme zittert, als ich zu ihr sage: «Non, je ne fume pas!»

Wie gut, dass ich in der Schule französisch gewählt hatte und nicht Latein und das ich mich daran erinnere, was rauchen heißt. Sie wendet sich Max zu, aber es ist Sven, der ihr Feuer gibt. Sie zieht an der Zigarette, wie es nur unerfahrene Raucher tun und unerwarteter Weise wendet sie sich wieder mir zu und sagt, dass sie Annelore heißt. Sie dreht sich um und geht sie zu ihren Freundinnen, die sie sofort umringen, albern lachen und französisch durcheinander reden.

«Du musst da jetzt rübergehen.», schnauzt mich Max an.

«Hast du ihre Figur gesehen, du Depp?»

So darf nur mein bester Freund mit mir reden und auch nur, wenn er tatsächlich Recht hat. Ein Teil von mir hat ihre Figur gesehen, aber in Erinnerung geblieben sind mir nur ihre Augen und ihr braunes Haar, das ihr immer wieder ins Gesicht gefallen ist und die Bewegung ihrer Hand, mit der sie es zurückgestrichen hat. Nein, ich bin eigentlich nicht der romantische Typ und ja, ich bemerke gut gebaute hübsche junge Frauen in der Regel, wenn sie vor mir stehen, aber irgendwie ist das jetzt eben ein Sonderfall. Ich bin normal schüchtern wie andere auch, aber ich bin auch mutig, wenn es darauf ankommt. Ich stehe auf, schüttele und streiche mir den Sand vom Körper und gehe zum Erstaunen meiner Freunde zu der Gruppe der jungen Frauen. Als sie merken, dass ich auf sie zukomme, bilden sie einen Halbkreis und Annelore steht in deren Mitte. Ich nenne meinen Namen und begrüße sie auf französisch. Sie lachen über meine Akzent und vielleicht über den einen oder anderen Fehler, den ich mache, sind aber auch erfreut, dass ich ihre Sprache spreche. Eine kleine Dunkelhaarige mit dem Namen Virginie tritt zu mir, gibt mir je zwei Küsse abwechselnd auf jede Wange und sagt, dass sie es in Bordeaux eben so machen, wenn sie sich begrüßen. Jedes der fünf Mädchen kommt zu mir und begrüßt mich auf diese durchaus angenehme Weise. Nicht unbedingt zufällig kommt Annelore als Letzte auf mich zu. Mit ihrem nahezu nackten Körper tritt sie nah an mich heran und küsst mich auf die Wangen. Mir scheint, dass sie bei jedem Kuss länger verweilt, als es sein müsste und obwohl sie den Tag am Strand verbracht hat und bestimmt schon im Wasser war, riecht sie gut, rein und süß und nach irgendetwas, das ich nicht einschätzen kann, wofür ich kein Wort weiß, wofür es aber Empfindungen gibt. Max, Jens und Simon kommen jetzt auch dazu und es kommt zu einer Reihe von Küssen und Begrüßungen, was hier in Norddeutschland am Strand etwas Bizarres hat. Nach und nach erfahren wir, dass sie zum Studienaustausch hier sind und noch mehrere Tage bleiben werden. Eines der Mädchen scheint dringend los zu müssen und drängt darauf, den Strand zu verlassen. Ich finde das sehr schade, denn immer wieder treffen sich Annelore`s und meine Blicke und so bin wieder ich es, der den Anstoß gibt und fragt, ob wir alle uns nicht vielleicht treffen wollen. Nach kurzer in drei Sprachen geführter Konversation verabreden wir uns für den Abend.

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Treffen am Abend

Zur Zeit wohne ich allein. Ich bin aus einer Wohngemeinschaft ausgezogen, weil ich durch meine Arbeit und das damit verbundene Schichtsystem zu unterschiedlichen Zeiten schlafen und aufstehen muss. Außerdem, und da bin ich ganz ehrlich, hat es mich oftmals genervt, den Inhalt meines Kühlschrankes teilen zu müssen. Jeder Mensch hat seine ganz speziellen Eigenarten und eine der meinen ist es, dass ich wie ein Hamster lebe. Ich kaufe mir zum Beispiel ein paar Jogurts auf Vorrat ein, um sie dann nach einer anstrengenden Schicht im Altenheim genüsslich zu verzehren. Da kann ich mich schon Stunden vorher darauf freuen; im Kopf sehe ich mich vor dem Fernseher sitzen und einen meiner Hamster-Jogurts verdrücken. In der Wohngemeinschaft konnte ich um die Uhrzeit nicht mehr den Fernseher einschalten und die Wahrscheinlichkeit war groß, dass einer meiner lieben Mitbewohner meine Jogurts aufgegessen hatte. So gesehen fühle ich mich sehr wohl damit, allein zu wohnen.

Nun sitze ich in meiner Wohnung und bin total aufgeregt. Immer wieder sehe ich das Gesicht von Annelore vor mir, und auch ihr Geruch scheint sich mir eingebrannt zu haben. Irgendwo habe ich einmal gelesen, dass der Geruch der am weitesten ins Unterbewusstsein reichende Sinn sein soll und in uns oftmals archaische Gefühle anspricht. In meinem Fall ist es jetzt absolut so. Ich bin nicht übertrieben eitel, aber für diesen Abend gebe ich alles. Ich dusche und rasiere mich ausgiebig und ziehe mein Lieblingshemd an. Im Spiegel gefällt mir, was ich sehe, obwohl ich mich immer auch irgendwie wundere, dass ich die Person sein soll, die ich im Spiegel sehe. Meine innere Wahrnehmung von mir selbst passt nicht unbedingt zu dem, was ich dort erblicke. So, als wäre die Person im Spiegel jemand anderes. Ähnlich geht es mir auch, wenn ich mich beim Sprechen oder beim Singen aufgenommen habe und das hinterher abhöre. Es klingt schon nach mir, aber bin ich das? Max meint, ich neige zum Grübeln. Also reiße ich mich mehr von meinen Gedanken als vom Spiegel los und lege Musik auf. Mir ist nach Soul und ich tanze ein wenig im Zimmer herum, als mein Handy klingelt. Es ist Max. Er will mich abholen.

Kurz darauf sind wir bereits unterwegs. Weil wir bestimmt etwas trinken werden, fahren wir mit dem Fahrrad. Es ist Sommer und der Abend ist genau richtig. Der Himmel ist leicht rot gefärbt, die Luft ist süß und lau, die Amseln singen, ein leichter Lufthauch ist spürbar. Ich bin gut drauf und als ich Max ansehe, ist mir klar, er auch. Der Abend kann kommen, hoffentlich kommen die Mädchen auch. Wir haben uns in einem Biergarten im Norden der Stadt verabredet, dort ist es schön und auch ein bisschen unverbindlich, denn wir kennen uns ja noch gar nicht. Bei diesem Wetter ist der Laden doch recht voll. Ich sehe einige Leute, die ich kenne und grüße noch vom Rad herunter. Wir sind früh dran und schlendern ein wenig herum, nachdem wir die Räder abgestellt haben. Natürlich treffe ich meine Ex-Freundin Catrin mit ihrem neuen Freund. Ich muss zugeben, dass sie extrem gut aussieht. Sie ist leicht gebräunt, trägt die Haare offen und neu getönt. Ja so etwas fällt mir sofort auf, obwohl ich ein Mann bin. Das war bei mir schon immer so, ich weiß auch nicht warum. Meine Mutter hat immer mich gefragt, was sie anziehen solle oder ob sie richtig geschminkt sei und nicht meinen Vater oder meine Schwestern. Außerdem, wenn man mit zwei Schwestern aufwächst, dann weiß man einfach mehr von Frauen als andere und wenn ich ganz ehrlich sein soll, es interessiert mich auch irgendwie. Nicht, dass es mir nicht doch einen kleinen Stich versetzt, wenn ich Catrin so sehe. Sie hat ein wenig abgenommen und trägt ein T-Shirt, das viel kürzer echt nicht sein dürfte. Auch irgendwie gut, dass es bei uns im Norden am Abend nicht immer so heiß ist, denn dann werden die Shirts auch schnell wieder länger.

«Redest du mit dir selbst?», fragt Max mich, schaut mich an, grinst blöd und meint: «Nee, du sabberst!», und lacht.

Ich boxe ihn auf die Schulter und gehe zu dem Tisch, an dem

Catrin, ihr neuer Freund und einige andere sitzen. Ich begrüße alle und sage ihr, dass sie gut aussieht. Sie schiebt sich das Haar hinter die Schultern, schaut mir tief in die Augen und sagt: «Du auch.» Dann gehe ich wieder und sehe noch, wie sie sich mit ihrem neuen Freund intensiv bespricht. Geschieht ihr recht, denke ich. Es ist schon merkwürdig, wie zerbrechlich und wandelbar unser Gefühl ist. Jede Kleinigkeit kann es verändern, nur wenn wir selbst es verändern wollen, wenn wir einfach gut drauf sein wollen, dann ist das nicht so einfach.

Max und ich begeben uns zum vereinbarten Treffpunkt. Viele Menschen strömen an diesem schönen Abend in den Biergarten. Als Erste trudeln unsere Freunde ein. Alle haben sich schick gemacht, Simon hat ein äußerst penetrantes Aftershave aufgelegt und schon meldet sich mein Heuschnupfen. Nach dreimaligen Niesen in Folge stelle ich mich einfach weiter weg. Genau in diesem Moment kommen sie. Wir hören sie, bevor wir sie sehen. Sich in die Höhe schraubende weibliche Stimmen in Französisch und lautes Lachen kündigen sie an. Wir hören, dass die Mädchen ausnehmend guter Laune sind. Dann stehen sie vor uns und für einen Moment weiß keiner, was er tun soll. Dann gehen wir aufeinander zu und umarmen uns in einer Art, als würden wir uns schon eine Ewigkeit kennen und alle bekommen die obligatorischen Küsse. Nur Annelore scheint plötzlich schüchtern zu sein, kaum blickt sie mich an, lächelt nicht, steht eng bei ihren Freundinnen und spricht nicht. Dabei hat auch sie sich besonders hübsch gemacht. Sie hat ihr Haar geflochten und trägt ein weißes Top, das ihren klaren Teint und ihre gebräunte Haut gut zur Geltung bringt. Ich schaue zu Virginie, die meinen Blick erwidert, mit den Schultern zuckt und Annelore einen kleinen Klaps gibt. Wir gehen zu unserem Tisch. Schon bald geht es hoch her. Englische, deutsche und französische Satzfetzen fliegen hin und her, es wird viel gelacht und mit der Zeit bilden sich Pärchen. Ähnlich wie Annelore bin auch ich an diesem Abend eher still, beobachte das Treiben, nippe gedankenverloren an meinem Bier und warte auf das, was da kommen mag oder auch nicht. Von den Nachbartischen wird zum Teil neidisch auf uns geblickt und immer wieder versuchen andere junge Männer bei uns anzudocken.

Dann nehme ich meinen Mut zusammen und setze mich direkt neben Annelore. Ihr Blick ist so süß, dass ich sie am liebsten in den Arm nehmen möchte, was ich aber natürlich nicht tue. Ich versuche es mit den Rudimenten meiner Kenntnisse in Französisch und frage sie, wie es ihr geht. Sie antwortet mit „ganz gut“. Ich bestelle ihr ein weiteres Bier und mühe mich um ein Gespräch. Sie trinkt einen großen Schluck, nimmt mich an die Hand und zieht mich hinter ihr her. Während ich den Tisch verlasse, sehe ich noch, wie Virginie uns lächelnd nachschaut. Annelore zieht mich weiter, wir verlassen den Biergarten und gehen in den Park, bis wir allein unter einer Eiche stehen. Sie legt die Arme um mich und küsst mich. Ich lege meine Hände an ihre nackten Hüften und streichele ihre sonnenwarme Haut. Leidenschaft braust auf, die uns beide erschreckt. Wir halten inne, lösen uns voneinander und stehen für einen Moment wie hilflos da. Sie lächelt mich an, gibt mir einen lauten Kuss auf den Mund und meint so etwas wie «alles ist gut». Wir gehen Hand in Hand zurück zu den anderen, die natürlich mit lauten Sprüchen unser Wiederkommen kommentieren. Der Abend hat es in sich, wir trinken viel, lachen, flirten und genießen unser Leben. Ich beobachte, dass sich die Bildung von Pärchen fortsetzt. An der einen oder anderen Ecke wird bereits geküsst. Auch Annelore und ich küssen uns immer wieder und in mir steigt die Sehnsucht empor, allein mit ihr sein zu können. Ich sage es ihr. Sie reagiert mit einem Lächeln, wirkt aber auch verunsichert. Sie will mit mir reden. Vorsichtshalber verabschiede ich mich, was wiederum einige Sprüche nach sich zieht und ich hoffe, dass Annelore und die anderen nicht gut deutsch verstehen.

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Gespräch im Park

Hand in Hand, aber schweigend gehen wir vom lauten Biergarten in den stillen Park. Es ist eine sternenklare Nacht und immer noch so warm, dass man keine Jacke braucht. Wir setzen uns auf eine Parkbank. Unser Gespräch besteht wie immer aus französischen und englischen Phrasen und manchmal muss ich mehrfach nachfragen, bis ich wirklich verstehe, was sie eigentlich meint. Sie gibt mir zu verstehen, dass sie mich richtig gut findet und auch gern mit mir allein wäre, aber sie hat auch Angst, denn im letzten Jahr wurde sie nach einer ähnlichen Situation schwanger und hat dann abgetrieben. Mit großen braunen Augen schaut sie mich an, als sie mir das erzählt. Ich weiß zuerst gar nicht, was ich fühlen soll. Sie tut mir leid, ich bin eifersüchtig auf den Fremden, der sie geschwängert hat und uns den Abend verdirbt. Dann finde ich mich selber blöd, weil ich solche Gedanken habe. Letztlich bin ich verwirrt und weiß gar nichts mehr. Intuitiv erfasst sie sofort, was mit mir los ist und meint, dass wir doch nichts überstürzen müssen und alles gut ist. Ist es im Prinzip ja auch, aber meine Gefühle überrollen mich. Irgendwie bin ich gereizt und zunehmend genervt von der Situation, mit der ich in Wirklichkeit nicht gut umgehen kann. Ich sage erstmal gar nichts mehr. Annelore schaut mich an, lächelt traurig, nimmt ihr Handy und redet dann so schnell auf französisch, dass ich gar nichts mehr mitbekomme.

«Lass uns zurückgehen», sagt sie, «Virginie ist noch da». Tatsächlich sitzt Virginie als letzte an unserem Tisch, nur ein angetrunkener Typ ist auch noch da. Ich kenne ihn nicht, er hat sich wohl Hoffnungen gemacht. Annelore und Virginie begrüßen sich, als hätten sie sich seit Jahren nicht gesehen, dabei waren wir gar nicht so lange weg. Ich stehe herum wie bestellt und nicht abgeholt. Wir drei bleiben tatsächlich noch einen Moment im leer gewordenen Biergarten und wissen nicht recht weiter. Um es nicht noch schlimmer zu machen, als es ohnehin schon ist, wage ich mich vor, küsse beide zum Abschied und gehe davon. Ich spüre dabei Annelore`s Blick in meinem Rücken, drehe mich aber nicht um. Dann bin ich ganz allein. Soll ich nun traurig sein? Mich grämen? Warum eigentlich? Gut, wir sind nicht im Bett gelandet, aber das hatte ich ohnehin nicht angestrebt und dass sie mich mag, ist ja offensichtlich. Mit diesen Gedanken gehe ich nach Hause und ins Bett.

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Fortsetzung folgt

War es das jetzt schon mit Annelore und mir? Natürlich nicht, denn bereits am nächsten Tag sehen wir uns wieder. Der Sommer lässt uns nicht im Stich und so treffen wir uns alle am Nachmittag am Strand. Ich habe gehofft, dass sie wieder an den gleichen Strandabschnitt fahren würde und in gewisser Weise ist das auch eine Art Gottesurteil für mich. Ist sie am Strand, dann geht etwas zwischen uns, wenn nicht, dann eben nicht. Tatsächlich bin ich viel nervöser als am Abend zuvor und zuerst ist es auch irgendwie merkwürdig zwischen uns. Plötzlich schüchtern, küssen wir uns zur Begrüßung fast wie Fremde und es dauert eine ganze Weile, bis das Eis zwischen uns bricht. Letztlich hilft uns das Wasser. Denn wir gehen gemeinsam baden und das gegenseitige Nass machen und Rumtollen hilft uns, etwas unverkrampfter mit der Situation umzugehen. Im Wasser zieht sie mich plötzlich an sich, so dass ich ihren nahezu nackten Körper an meinem spüre und schon bald liegen wir knutschend am Strand. Und wir sind nicht die einzigen. Auch mein Freund Max hat es auf eine der Französinnen abgesehen und ist ebenfalls nicht ganz erfolglos.

Die nächsten Tage verfliegen wie im Wind. Wir erleben eine unbeschwerte Zeit und es passt, dass ich Urlaub habe und wir einen der schönsten Sommer der letzten Jahre haben. Annelore und ich schlafen nicht miteinander, auch wenn ich von Max erfahre, dass es ihm und anderen in dieser Hinsicht ganz anders ergeht. Aber Annelore und ich verstehen uns immer besser und häufig unternehmen wir abends auch mal etwas allein. In den Gesprächen mit ihr verbessert sich mein Französisch immer mehr und aus meiner Faszination wird ein immer stärkeres Gefühl. Obwohl wir es wissen und innerlich die Tage zählen, kommt der Moment des Abschieds viel zu schnell und viel zu früh. In der Nacht davor verbringen Annelore und ich die Nacht miteinander und beinahe passiert es dann doch, dass wir miteinander schlafen. Wir erleben gemeinsam den Sonnenaufgang. Ich bringe sie zum Bahnhof, wo wir all die anderen wieder sehen. Von meinen Freunden ist am frühen Morgen nur Max da. Annelore und ich versprechen uns einander zu schreiben und ich sage ihr, dass ich sie in Frankreich besuchen werde. Es ist sehr traurig und etwas verloren bleiben Max und ich stehen, als der Zug um die Ecke biegt und uns allein zurück lässt.

In den folgenden Tagen holt mich der Alltag schnell wieder ein. Ich muss wieder zur Arbeit, denn auch mein Urlaub ist vorbei. Jeden Tag denke ich an sie. Es fällt mir so schwer wie nie zur Arbeit zu gehen und mich den Menschen zu widmen, die auf mich angewiesen sind. Es ist in diesen Zeiten sehr hart, als Altenpfleger zu arbeiten. Die Stelle wird schlecht bezahlt, dazu habe ich meistens geteilten Dienst, manchmal sogar Nachtwachen und bin ständig von Alter, Krankheit, Leiden und Tod umgeben. Der Buddha hat gesagt, dass es niemanden erspart bleibt, diesen Dingen zu begegnen. Der Buddha ist der Sage nach als Königssohn geboren worden. Ihm wurde bei seiner Geburt geweissagt, dass er entweder ein Weltenführer oder ein Sannyasin, ein der Welt Entsagender, werden würde. Sein Vater fürchtete die zweite Möglichkeit und versuchte alles Leid von seinem Sohn fern zu halten. An seinem 29. Geburtstag ergab es sich, dass der künftige Buddha vier verschiedene Ausfahrten aus dem behüteten Palast unternahm. Dabei sah er einen alten, einen kranken und einen toten Menschen. Bei seiner vierten Ausfahrt sah er einen Mönch. Da reifte in ihm der Entschluss es dem Mönch gleich zu tun und noch am selben Abend verließ er den Palast und seine Familie und wurde zum Entsagenden. Im Prinzip ergeht es mir ähnlich wie Gautama, denn ich bin von alten, kranken und oftmals toten Menschen umgeben, aber wie ein Buddha fühle ich mich dann doch nicht. Ich habe meine Gefühle, meine Bedürfnisse und meine Sehnsüchte noch lange nicht überwunden. Ganz im Gegenteil würde ich am liebsten kündigen und nach Frankreich fahren, um Annelore wieder zu sehen.

«Träumen sie junger Mann?», fragt mich da Frau Schmidtke, der ich wie jeden Abend ihre Medikamente bringe. Es sind eine Menge Pillen, etwas fürs Herz, etwas gegen die Magenbeschwerden, und etwas zur Beruhigung, obwohl sie das meistens gar nicht bräuchte und noch weitere mehr. Frau Schmidtke kann sehr klar und weise sein oder zu anderen Zeiten auch total abgetreten.

«Ich habe nur nachgedacht.», antworte ich ihr, doch sie lässt nicht locker.

«Sie sollten nicht träumen oder nachdenken, sondern ihr Leben genießen, vielleicht mit einem jungen Mädchen!»

Während sie das sagt, sieht sie selber aus wie ein junges Mädchen. Ein junges Mädchen, das sie ja einmal gewesen ist, auch wenn das nahezu achtzig Jahre zurück liegt. Ich weiß, dass sie zwei Söhne bereits verloren hat und kaum einmal Besuch bekommt. Es geht leider vielen der alten Menschen hier so.

Da sie es am nächsten Tag wieder vergessen haben wird, erzähle ich ihr beim Bett ausschütteln von Annelore und meiner Sehnsucht ihr nachzureisen. Und wieder überrascht sie mich, indem sie sagt: «Machen Sie das doch. Sie sind noch jung. Ich laufe ihnen schon nicht weg und diesen Job», - sie sagt tatsächlich Job -«bekommen Sie doch immer wieder!»

Was soll man da noch sagen? Ich danke ihr und sage, dass ich darüber nachdenken werde.

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Der Brief und seine Folgen

Erst spät komme ich an diesem Tag nach Hause. Ich bin körperlich und seelisch ausgelaugt, aber gleichermaßen geistig unterfordert. Fast schon automatisch schaue ich in meinen Briefkasten und finde dort zu meiner großen Freude einen Brief von Annelore. Ich mache es mir gemütlich, um den Brief in Ruhe lesen zu können. Am Ende hat sie auf deutsch geschrieben „Ich liebe dich.“ Der ganze Brief drückt Liebe aus. Sie schreibt, dass sie mich bewundert, ein Begriff, den ich so für mich nicht benutzt hätte und dass sie es kaum erwarten kann, mich wieder zu sehen, am liebsten bei sich zu Hause. Lange Zeit sitze ich mit diesem Brief in der Hand auf meinem Balkon und träume vor mich hin, bis mich ein Anruf aufschreckt.

Es ist ein guter Freund von mir, der mir mitteilt, dass Jens am Abend auf dem Motorrad von einem Auto erwischt worden und noch am Unfallort gestorben ist. So schnell kann das gehen. Ich bin total geschockt. Auch wenn Jens nicht der Beste meiner Freunde war, so kannten wir uns doch gut und er war bei einigen Gelegenheiten mit dabei. Noch vor einigen Minuten war ich nur voller Liebe und jetzt hat mich die Realität eingeholt. Der Mensch ist das einzige Lebewesen, von dem wir wissen, dass es weiß, dass es sterben wird und doch verdrängen wir diese Grundtatsache des Lebens perfekt. So sind wir geschockt, wenn es jemanden erwischt, den wir kennen. Ich weiß nicht, wohin mit mir und rufe Max an. Kurz darauf treffen wir uns. Wir trinken und reden über Jens, indem wir uns an gemeinsame Erlebnisse mit ihm erinnern. Die Gegenwart des Anderen tröstet uns. Erst sehr spät erzähle ich Max auch von dem Brief von Annelore und meinem Wunsch, sie unbedingt wieder sehen zu wollen und dass mich der Tod von Jens noch mehr darin bestärkt hat, keine Zeit mehr zu verschwenden. Wie gesagt sind wir trotz besseren Wissens davon überzeugt, selber unsterblich zu sein. Immer passieren die schlimmen Dinge anderen Leuten, aber nicht uns. Erst, wenn es Menschen in unserer Nähe erwischt, wachen wir ein wenig auf. So ergeht es mir mit Jens. Sein unerwarteter Tod zeigt mir, dass es auch mich jederzeit treffen kann und dass es keinen Zweck hat, Dinge zu verschieben. Andererseits gibt es in uns auch eine Art von Selbstschutz, die es uns möglich macht, schlimme Ereignisse und Dinge zu verdrängen, so dass sich das alte Gefühl der persönlichen Unsterblichkeit meist sehr schnell wieder einstellt.

Die nächsten Tage vergehen wie in Trance. Ich verrichte meine Arbeit und bin viel zu Hause. Als wenn das Kollektiv mit uns um Jens trauern würde, ist auch das Wetter schlechter geworden. Nahezu jeden Nachmittag regnet es und so sind aus mehreren Gründen die Strandtage vorbei. Am Freitag in dieser Woche findet die Beerdigung statt. Es ist nicht meine erste Beerdigung. Drei Jahre liegt es inzwischen zurück, dass eine Freundin an Krebs gestorben ist. Ähnlich wie damals ist auch heute die Kapelle gerappelt voll. Fast jeden Zweiten kenne ich vom Sehen. In der ersten Reihe sitzen die Eltern von Jens und seine jüngere Schwester. Sie weint und weint. Ich sehe viele Menschen schon vor dem Beginn der Trauerfeier mit feuchten Augen. Der Pfarrer spricht über Jens und das Unverständnis darüber, dass ein junger Mensch mitten aus seinem Leben gerissen wird. Er spricht über Trauer und darüber, dass wir alle irgendwann diesen Weg zu gehen haben. Ich schalte ein wenig ab und träume vor mich hin. Ich werde aber wieder wacher, als der Pfarrer die tiefe Bedeutung von Freundschaft anspricht und davon, wie wichtig es ist, dass wir einander beistehen. Dann kommt er zum Ende und bevor der Chor seinen Part übernimmt, sagt er etwas, was mich lange nicht mehr loslässt.

«Wir wissen nicht, welchen Plan Gott mit jedem von uns verfolgt, aber vielleicht gibt Gott uns auch den freien Willen, damit wir erkunden, was unser Weg in diesem Leben ist. Möge er ein gottgefälliger sein.»

Gut, lassen wir den letzten Satz weg, aber der Anfang scheint auf mich und meine momentane Lage zu passen. Was mag mein Weg im Leben sein?

Dann ist die Beerdigungsfeier zu Ende, ich kondoliere den Eltern und der Schwester, die am Ausgang stehen und gehe davon. Max folgt mir.

«He, willst du nicht mit ins Gemeindehaus zu Kaffee und Kuchen?»

Ich will nicht, gehe dann aber doch mit. Das Gemeindehaus liegt ganz in der Nähe und Max und ich gehen schweigend dorthin. Davor steht Catrin. Natürlich steht ihr schwarz, sie ist allein und raucht.

«Seit wann rauchst du?», will ich von ihr wissen und sie antwortet karg: «Nur heute!»

Bevor wir reingehen können, packt sie mich am Arm, schaut mir tief in die Augen und sagt: «Wusstest du, dass ich mit Jens mal geknutscht habe?»

Wusste ich nicht, interessiert mich auch nicht, aber irgendwie muss ich trotzdem fragend ausgesehen haben, denn sie fährt fort: «Mehr war aber nicht, denn ich fand ja schließlich dich gut!», dabei zwinkert sie mir zu.

Ich weiß wirklich nicht, was das jetzt soll, aber es ist mir auch egal. Irgendwie geht das Kaffeetrinken vorbei und als ich den Raum verlasse, bin ich richtig deprimiert. Ich weiß überhaupt nicht, wo ich mit mir hin soll. Meistens fahre ich an den Strand, wenn ich in dieser Stimmung bin, dort befindet sich eine meiner Lieblingslokalitäten. Es ist eine urige Kneipe mit Meerblick. Die Jungs haben auch im Winter und bei Regen auf, auch wenn keiner kommt, aber es gibt immer so Leute wie mich, die hier gerne abhängen. Obwohl es noch nicht einmal Abend ist, trinke ich ein Bier, setze mich ans offene Fenster, sehe auf das graue Meer, schaue den Möwen beim Fliegen zu und beobachte den Regen, der mit einer Regelmäßigkeit fällt, als wolle er mir sagen, „ich kann viel besser weinen als du“. Aus einem werden schnell viele Biere und es ist klar, dass ich den Wagen stehenlassen muss. Wieder denke ich an Annelore und daran, dass ich morgen schon wieder zur Arbeit muss. Trotz des Alkohols formt sich ein Entschluss in mir. Der Tod von Jens drängt mich, und die Liebe zu Annelore motiviert mich, etwas grundlegend in meinem Leben zu ändern. Die Idee, die ich habe, muss noch richtig durchdacht werden und ganz plötzlich bin ich wieder nüchterner und auch ein wenig euphorisch, weil es sich so richtig anfühlt. Gleichzeitig ist da aber auch Angst in mir, was mich zaudern lässt. Es hält mich nicht mehr in der Kneipe. Mit einem Moin verlasse ich sie und stürme hinaus in den Regen. Dieser hat sich ein wenig beruhigt und fällt mäßig aber regelmäßig. Es sind keine Menschen unterwegs und der Regen dämmt alle Geräusche, so dass ich ein wenig das Gefühl habe, der letzte Mensch auf Erden zu sein. Ich laufe bestimmt fast eine Stunde, bis ich die Haltestelle der Buslinie finde, die auch am Sonntag fährt und eine weitere Stunde später bin ich zu Hause.

6

Der Tag der Freiheit

Am nächsten Morgen springe ich voller Elan und Energie aus dem Bett. Ich habe meinen Plan klar vor Augen und bin gewillt, ihn in die Tat umzusetzen. Ich rufe bei der Arbeit an und melde mich krank, dann rufe ich meinen Arzt an. Da dieser mich seit meiner Kindheit und vor mir meine Eltern behandelt hat, bekomme ich einen schnellen Termin und bin kurz darauf in der Praxis. Dr.Volkbert wird wohl bald sechzig sein, sieht aber 10 Jahre jünger aus. Ich weiß aus eigener Beobachtung, dass er Marathon läuft und gut drauf ist. Ich erzähle ihm meine Lage, dass es so nicht weiter geht in meinem Leben, dass ich jetzt unbedingt nach Frankreich muss und nicht mehr in dieser Art arbeiten kann und ob er mich nicht länger krankschreiben kann.

«Gegen diese Krankheit gibt es kein Mittel.», sagt er, als ich mit meinem leidenschaftlichen Dialog fertig bin.

«Welche Krankheit?», will ich wissen und fühle mich wie bei der Telekom, weil ich eine so lange Leitung habe.

«Liebeskummer!»

Und er fährt fort: «So lange kann und will ich dich nicht krankschreiben, aber deinen Impulsen solltest du trotzdem nachgeben. Nur baue dein neues Leben nicht auf Lügen auf, sondern mache es richtig.»

Vielleicht war genau das der Anstoß, den ich noch brauchte. Auf dem Weg von der Praxis rufe ich Max an und verabrede mich mit ihm im nächstgelegenen Café. Manchmal muss ich einfach nur Kaffee trinken und in Ruhe nachdenken und ein guter Freund kann mir beim Nachdenken sicherlich behilflich sein. Seine Neugier bringt es mit sich, dass Max sehr schnell ins Café kommt. Zuerst läuft richtig coole Ibiza Musik, aber zeitgleich mit Max Erscheinen haben sie Sting aufgelegt.

«Na, hast du Sting mitgebracht?», frage ich ihn bei unserer Begrüßung. «Hä?», antwortet er, aber ich erkläre es ihm nicht weiter, sondern unterbreite ihm meinen Plan.

«Ich werde kündigen und nach Frankreich fahren!», bringe ich es gleich auf den Punkt. Nun ist Max weder mein Vater, noch ein Lehrer von mir, sondern er ist mein Freund und so schaut er zwar zuerst etwas betreten, umarmt mich dann aber und meint nur: «Wird aber auch Zeit, dass du aufwachst und mal was machst!» Mit seiner Bestätigung und der fachkundigen Meinung von Dr. Volkbert bleibt mir keine Ausflucht mehr. Nun habe ich mich in diese Lage gebracht und auch wenn noch etwas Angst in mir aufsteigt, spüre ich doch auch den Hauch von Freiheit. Viel zu lange arbeite ich nun schon in diesem Altenheim und auch wenn mich manche der Alten vermissen werden, muss ich mich doch um mich und um mein Leben kümmern.

Am nächsten Tag spreche ich bei meiner Chefin im Altenheim vor. Ich erkläre ihr die Umstände meines Lebens, die es notwendig machen, etwas zu verändern. Es spricht für sie, dass sie mich verstehen kann, mir keine Steine in den Weg legt und mir sogar anbietet, mich wieder bei ihr zu melden, sollte ich erneut in diesem Beruf arbeiten wollen.

Das habe ich schon oft beobachtet. Das Universum oder das Leben unterstützten uns, wenn wir auf dem richtigen Weg sind. Aber was ist der richtige Weg? Don Juan, der Meister von Carlos Castaneda würde sagen, „es ist ein Weg mit Herz“. Es ist der Weg, der uns vorgegeben ist. Wenn wir auf diesem Weg sind, dann fühlt sich das richtig an, ist stimmig und die Türen öffnen sich. Genau das ist es, was ich erlebe. Ich kündige offiziell bei der Sekretärin des Heims. Verrechnet mit meinen restlichen Urlaubsansprüchen habe ich nur noch wenige Tage zu arbeiten und dann bin ich frei. Kurz darauf rufe ich meine jüngere Schwester Hanna an und melde mich zum Besuch an. Hanna ist mir von meinen beiden Schwestern die Vertrautere, mit ihr habe ich mich immer gut verstanden. Sie freut sich, mich zu sehen und heißt mich herzlich willkommen. Darüber freue ich mich auch, denn zum Ersten wohnt sie in Richtung Bordeaux und zum Zweiten kann ich dann meinen Neffen wieder sehen. Plötzlich wird es mir noch deutlicher, dass das Universum auf meiner Seite ist und mir helfen möchte. Lächelnd fahre ich mit dem Rad durch unsere Stadt und hier und da wird mein Lächeln sogar erwidert. Die Welt reagiert immer auf uns. Was wir in sie hineinstecken kommt auch irgendwann und irgendwo wieder heraus. Beim Bahnhof hole ich eine Fahrkarte nach Hannover, denn dort wohnen meine Schwester und ihr Sohn.

7

Hannover

Ohne mich groß zu verabschieden, sitze ich einige Tage später im Zug nach Hannover. Es ist doch immer wieder interessant zu beobachten, wie schnell etwas gehen kann, wenn man sich entscheidet und in eine Richtung bewegt. Die moderne Forschung hat im Bereich der Entscheidungsfindung festgestellt, dass erst der Impuls zum Handeln da ist und im Nachhinein der mentale Befehl dazu kommt. Wenn wir also beispielsweise unseren Arm bewegen, bewegt sich erst der Arm und dann denken wir daran, den Arm zu bewegen. Wenn diese Forscher Recht haben, sind wir mit unserem Kopf immer zu langsam. Ja und außerdem kann daraus gefolgert werden, dass wir keinen freien Willen haben. Damit wäre alles vorherbestimmt, festgelegt, determiniert. Somit wäre es jetzt schon klar, ob und wann, unter welchen Umständen, und mit welchem Ergebnis für die Zukunft ich Annelore wiedersehen werde. Irgendwie ist diese Vision beruhigend und andererseits ist sie auch erschreckend. Sind wir nur Marionetten eines bereits geschriebenen Drehbuchs? Obwohl, wenn wir nicht wissen, dass alles vorherbestimmt ist, ist es das für uns ja auch nicht. Wenn der Schauspieler nur die Szene kennt, die er gerade spielt, sind die nächsten Szenen für ihn unbekannt, auch wenn diese schon im Drehbuch stehen. Genauso ergeht es dem freien Willen. Wenn ich nicht weiß, dass ich keinen freien Willen habe, habe ich diesen ja, zumindest subjektiv gesehen. Das ist alles schon ganz schön verwirrend. Kann ich mich also total entspannen, da ja ohnehin bereits feststeht, wohin der Weg führt? Obwohl ich mich wiederum nur dann entspannen kann, wenn es vorgesehen ist, dass ich mich entspanne. Oder wie ein Weiser mal gesagt hat: „Es gibt keinen Weg - gehe ihn“.

Bei all diesen tief schürfenden Gedanken habe ich gar nicht gemerkt, dass der Zug schon fast Hannover erreicht hat. Ich bin sehr gespannt, ob mich Hanna und Emil abholen werden. Das wäre sehr schön. Und tatsächlich stehen sie am Bahnsteig. Der kleine Emil winkt schon, ohne dass da jemand ist, den er kennt. Obwohl es fast ein Jahr her ist, dass wir uns gesehen haben, rennt er auf mich zu und springt mir in die Arme. Hanna lächelt, scheint sich ebenso zu freuen, dass ich da bin. Fast sofort habe ich meiner Schwester gegenüber ein vertrautes Gefühl. Wir steuern ein nahe gelegenes Café an und trinken etwas. Emil rennt herum, krabbelt unter den Tisch und stört die Bedienung. Er ist aber so süß dabei, dass ihm keiner wirklich böse sein kann.

«Begrüßt er alle immer so enthusiastisch?», möchte ich von Hanna wissen.

«Na, liegt vielleicht daran, dass er keine männliche Bezugsperson mehr hat, seitdem Benno weg ist.», erklärt sie mir.

Benno ist der Vater von Emil. Er und Hanna waren ein paar Jahre zusammen, aber vor zwei Jahren haben sie sich getrennt und Benno lebt jetzt hauptsächlich in Spanien und kümmert sich nur sehr sporadisch um Emil. Diese Situation ist nicht einfach für Hanna, aber mit viel Energie, Selbstbewusstsein und Humor meistert sie ihr Leben ganz gut.

Später fahren wir in die Wohnung, in der sie mit Emil inzwischen lebt. Auch wenn die Wohnung nur klein ist, hat es Hanna doch geschafft, ihr Atmosphäre zu verleihen. Es riecht ein wenig nach Wäsche, aber auch frisch und sauber. So riechen in der Regel immer nur Wohnungen von Frauen. Ich habe es nie hinbekommen, dass es bei mir ähnlich frisch riecht. Das ist vielleicht auch der Grund, warum es mir so auffällt. Jedenfalls fühle ich mich dort gleich wohl und Emil geht es anscheinend genauso, denn er will sofort mit mir spielen, aber in Wirklichkeit will er mit mir ins Gespräch kommen.

«Hast du kein Auto?», will er zuerst wissen, während wir dabei sind, ein Auto aus Lego zu bauen.

«Doch, aber ich wollte lieber mit dem Zug fahren.»

Ich verschweige Emil, dass mir das Geld fehlt und ich auch dem Wagen nicht soweit vertraue, um mit ihm nach Frankreich zu fahren. Er scheint zumindest mit der Antwort zufrieden zu sein, aber noch nicht befriedigt, was das Stellen von Fragen anbelangt.

«Hast du keine Frau?», ist seine nächste Frage. Was soll ich nun darauf antworten, aber dann versuche ich es mit der Wahrheit. Das soll ja bei Kindern ganz gut funktionieren.

«Doch, ich habe eine Frau. Sie lebt in Frankreich. Das ist ganz weit weg. Aber da will ich jetzt bald hin, und sie wiedersehen.»

Da bleibt ihm der Mund offen stehen und für einen Moment lang habe ich Angst, dass sich eine Fliege dort hinein verirrt.

«Mami und ich sind jetzt allein!», stellt er ganz nüchtern fest, schaut mich dabei aber an, als könne ich mit einer Zauberantwort diesen Zustand beenden. Da erlöst mich Hanna mit dem Ruf aus der Küche, dass es etwas zu essen gibt. Wir essen Nudeln und Salat dazu und Emil findet es offensichtlich richtig gut, dass er nicht allein mit seiner Mutter ist. Auch Hanna freut sich und lächelt mich immer wieder an. Emil darf aufstehen und spielen, während Hanna und ich allein mit dem dreckigen Geschirr am Tisch sitzenbleiben. Ich ermuntere sie, von sich und ihrem Leben mit Emil zu erzählen. Es ist nicht leicht ohne Vater für ihn und Mann für sich und obwohl es sehr wohl Angebote gibt, denn meine Schwester ist sehr hübsch, kann und will sie sich jetzt nicht wieder so schnell binden.

«Außerdem ist Emil ein Problem. Ich kann ihm ja nicht ständig neue Männer vorstellen.», sagt sie. Auf meine Nachfrage hin bejaht sie, dass es schon Leute, wie eine gute Freundin gibt, die mal auf ihn aufpassen, aber irgendwie sei sie noch nicht wirklich frei für eine neue Beziehung. Und dann geht der schwarze Peter an mich. Ob ich denn wirklich nach Frankreich will und wie es dann weitergehen soll?

«He, vergiss nicht, dass du meine Schwester bist und nicht meine Mutter!», stoppe ich sie und erkläre ihr, dass ich gar nicht die Wahl habe, sondern dass es mich regelrecht gen Süden treibt.

«Ich muss diesem Impuls nachgehen, sonst werde ich das mein ganzes Leben bedauern!»

Ich biete ihr an, den Abwasch zu machen, während sie Emil ins Bett bringt. Mein Plan ist es, von Hannover aus zu trampen, denn ich will mein weniges Geld so gut wie möglich zusammenhalten. Früher ist es total „in“ gewesen zu trampen, heutzutage macht das kaum noch ein Mensch, aber ich will es trotzdem probieren. Wenn es nicht funktioniert, nehme ich eben einfach den Zug. Den Abend verbringen wir zu dritt. Hanna, ich und eine gute Flasche Rotwein.

8

Auf der Straße

Schon seit zwei Stunden stehe ich am Autobahnzubringer Richtung Süden und kein Auto will halten. Es hat leicht angefangen zu nieseln und ich frage mich zum wiederholten Male, warum ich das ehrlich gemeinte Angebot von Hanna und Emil nicht angenommen habe, noch ein paar Tage zu bleiben, aber ich muss das jetzt durchziehen, auch wenn es mir im Moment nicht gerade leicht gemacht wird. Als ich innerlich schon fast bereit bin aufzugeben, hält doch ein Wagen. Der Typ meint, er wird bis Aachen fahren und ich kann mitkommen. Ich erzähle ihm, wie schwer es ist, mitgenommen zu werden, und das ich bis nach Südfrankreich will.

«Früher war trampen in, heutzutage gibt es das kaum noch.», meint er.

«Vieles hat sich verändert und das Wenigste zum Positiven!», fügt er dann noch hinzu.

Es riecht in seinem Auto nach Zimt und ich suche vergebens ein vergessenes Stück Kuchen. Er heisst Rolf, hat längere Haare, die gut mal wieder gewaschen werden könnten und ist Student. Ewiger Student, wie er selbst sagt. Er studiert Philosophie und das Studium endet nie.