

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.d-nb.de abrufbar.
1.Auflage
Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt, Copyright
© 2011 by Alina Gause
www.artists-way.de
Umschlaggestaltung und Satz: Anna Piro-Lauble, Freiburg
Printed in Germany
ISBN: 9783844852752
Für meine Mutter, mit der ich in den
letzten Wochen ihres Lebens noch die Entstehung der ersten
Kapitel teilen konnte
Vorwort
Einleitung
BLOSS NICHT NORMAL
Ein Blick auf die Forschung
Aus der Künstlerperspektive
Normal ist tabu
Anders sein – Chancen und Risiken
HAUPTSACHE AM RAND DER GESELLSCHAFT
Bettler der Neuzeit oder Modernisierungsavantgarde?
Wo sehen Künstler sich selbst?
Leben als Outlaw – Chancen und Risiken
SEIN ODER NICHTSEIN
Zwischen Beruf und Berufung
Der kleine Tod
Der große Tod
Die besondere Nähe – Chancen und Risiken
WENN SIE DICH WOLLEN, SCHNEIDEN SIE
DICH VOM GALGEN AB
Macht
Erfolg
Was ist gut?
Der Kettenbrief-Effekt
Image ist in – outen ist out
Warum haben Künstler keine Lobby?
Die besonderen Regeln des Business – Chancen und Risiken
COUNSELLING FOR ARTISTS – WARUM NICHT?
Counselling - was ist das überhaupt?
a.way – psychologische Beratung für Künstler
Zauberwort Resilienz
Das Ausbildungsergänzungskonzept
Das psychologisch-künstlerische Profil
WARUM KÜNSTLER DIE GLÜCKLICHEREN
MENSCHEN SEIN KÖNNTEN
Weil sie die besseren Erzähler sind
Weil Glücksempfinden Teil ihres Berufes ist
Weil sie sich selbst sehr gut kennen lernen können
Weil sie sich täglich selbst therapieren
Schlussbetrachtungen
Danksagung
Literatur
Neulich lehnte ich mich – wieder einmal – etwas zu weit aus dem Fenster und behauptete einer Schülerin gegenüber, sie solle als Künstlerin immer davon ausgehen, dass niemand, der ihr in diesem Metier begegne, sich ernsthaft für sie interessiere. Warum habe ich das gesagt? Weil die Schülerin mir am Herzen liegt und ich sehe, wie sie hofft, mit jedem Ton, den sie singt und mit jeder Zeile, die sie spricht, Kontakt herzustellen. Und furchtbar enttäuscht darüber ist, wenn sich die Art von Verbindung nicht herstellen lässt, nach der sie sich sehnt. Weil ich meine, dass ihre Entscheidung, Künstlerin zu werden, eine sehr persönliche war, deren Folgen – erfreuliche wie unschöne – sie alleine tragen wird. Und weil sie dabei in erster Linie auf sich selbst vertrauen können muss, um ihre Ziele zu erreichen. Ihre Person ist das Material, das es zu pflegen und zu schützen gilt, nach meiner Erfahrung öfter gegen äußere Einflüsse als es wünschenswert wäre.
Künstler vergleichen unfreiwillige Unterbrechungen ihrer Arbeit (durch Krankheit, Arbeitslosigkeit, Mutterschaft o.ä.) mit einem „kleinen Tod“. Welche Möglichkeiten des Missbrauchs sich eröffnen, wenn man es mit Menschen zu tun hat, die ihr persönliches Wohl so abhängig von ihrem Beruf machen! In den über zwanzig Jahren meiner Bühnentätigkeit hatte ich viele Gelegenheiten, Lebenswege im künstlerischen Metier zu beobachten. Ich habe Kollegen kennen gelernt, die an der Konfrontation mit der beruflichen Realität verzweifelt sind, aber auch andere, die sie als Herausforderung angenommen und in vollen Zügen gelebt haben. Was unterscheidet die einen von den anderen? Dieser Frage möchte ich in diesem Buch nachgehen. Und daraus Hilfestellungen ableiten.
Der oben erwähnten Schülerin werde ich jedenfalls bei der nächsten Gelegenheit meine Aussage etwas genauer erklären: dass sich niemand wirklich für sie interessiere, sollte nur pointiert ausdrücken, wie wichtig es ist, einen scharfen Blick und eine besondere Wertschätzung für die Ausnahmen von dieser Regel zu entwickeln. Ich wünsche ihr, dass sie lernt, sich so zu stärken, dass sie ihren ganz eigenen Weg gestalten kann.
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Berlin, 1.Juni 2011 |
Alina Gause |
Über Künstler weiß jeder Bescheid. Sie lieben es, sich entweder zu zeigen oder sich zu verstecken. Sie sind egozentrisch, d.h. sie bilden das Zentrum ihrer Wahrnehmung und hätten nichts dagegen, wenn ihre Umwelt sich dem anschließen würde. Sie sind eher selbstbewusst und freizügig – wer sonst würde sich gerne freiwillig vor Publikum präsentieren? Sie sind verrückt, zumindest das nötige Bisschen, denn wie schon Tabori sagte: “Ein guter Schauspieler ist nicht normal“ (1994, S. 41.)
Sie neigen zum Chaos und ihr Privatleben ist nicht von Beständigkeit geprägt. Sind sie abstinent gegenüber Genuss- und Suchtmitteln, ist es eher erstaunlich als erfreulich.
Wie kommt es, dass eine Berufsgruppe charakterisierbar erscheint, der man kaum persönlich begegnet? Sie wird zwar bei der Ausübung ihres Berufes beobachtet, man kann von ihr und über sie lesen und hören, aber als Privatmenschen sind Künstler doch weniger präsent für die Allgemeinheit als z.B. Ärzte, Bäcker, Taxifahrer, Lehrer oder Kfz-Mechaniker. Über die allgemeinen Klischees der reichen Ärzte, der unterforderten Lehrer oder der schlichten Kfz-Mechaniker hinausgehende psychologische Aussagen über deren Persönlichkeitsstruktur sind aber seltener, obwohl sie wegen der besseren Kenntnis sogar eher angebracht wären. Aussagen über „den Künstler“ hingegen werden getroffen, obwohl es ihn nicht gibt. Ein Grund dafür mag sein, dass es zwar großes Interesse an der Projektionsfläche Künstler gibt, aber wenig an der Person, die dahinter steht. Wie kommt das?
Zwischen der Kunst eines Künstlers und seiner Person scheint es keine Trennung zu geben. Viele Künstler bestätigen dies in ihren Aussagen. Aber daraus den Schluss zu ziehen, dass der Mensch hinter dem Künstler für jeden erkennbar ist, ist falsch. Im Gegenteil: Der Grund, warum sie bereit sind, gesellschaftliche Anerkennung, existenzielle Absicherung, Grundrechte als Arbeitnehmer, Gesundheit und in manchen Fällen ihre Würde aufzugeben, ist so persönlich, dass sie ihn gut vor dem Zugriff der Außenwelt schützen und manchmal nicht einmal sich selbst offenbaren wollen. Dieser Antrieb enthält aber den charakteristischen Kern ihrer Person, d.h. also, dass der Zugang zur Person eines Künstlers sogar in besonderem Maße erschwert ist. Sie treten nach außen, sind überall sichtbar und dennoch sind sie eine unbekannte Berufsgruppe geblieben.
Die Basis für das vorliegende Buch bildeten drei Quellen:
Vor allem gaben Tänzer, Schauspieler, Sänger und Musiker in Interviews einen Einblick in ihre Erfahrungen innerhalb ihres Metiers. Dann bilden Erkenntnisse der Psychologie einen weiteren Grundbaustein. Nicht zuletzt war es aber auch der Rückgriff auf meine eigene Bühnenerfahrung als Sängerin, Tänzerin und Schauspielerin der letzten 25 Jahre, innerhalb der meine Sicht darauf entscheidend gestaltet wurde.
In den Gesprächen wurde der eingangs erwähnte erschwerte Zugang zu den Privatpersonen deutlich. Je vertrauter sich Interviewte und Interviewerin waren, desto bereiter waren die Befragten, tiefer gehende Einblicke zu gewähren. Allgemein wird angenommen, Künstler wären bereit, ausführlich über sich zu sprechen. Das Gegenteil war der Fall. Zunächst bedurfte es der wiederholten Versicherung, dass tatsächlich ihre Person und ihre ganz persönlichen Erfahrungen im Zentrum des Interesses stünden. In manchen Fällen folgte schon der Eingangsfrage, wie der oder die Betreffende Künstler geworden sei die Gegenfrage: „Bin ich das?“. Es habe wohl den Wunsch gegeben, ein Künstler zu werden, ob man aber dieses Ziel erreicht habe, sei noch nicht geklärt. Dies sagten wohlgemerkt z.B. Schauspieler, die bereits seit über zehn Jahren von diesem Beruf leben! Ebenso wurde spürbar, dass die eigene Zugehörigkeit zu einer Gruppe - und sei es auch die Gruppe der Künstler - einerseits unangenehm empfunden wurde, eben, weil damit bereits auch die oben genannten Klischees aufgerufen werden würden, es andererseits aber als Ehre betrachtet wurde, wenn es sich um ein Künstlerbild handelte, das den eigenen Vorstellungen entsprach.
Offenbar schien die Frage nach dem Einstieg in das Künstlerdasein ebenso aufschlussreich zu sein wie es die Frage „Wie sind Sie ein Mensch geworden?“ gewesen wäre. Bei der großen Mehrheit der Befragten ging nämlich die Erinnerung an die besondere Liebe zur Musik, zum darstellenden Spiel, zum Gesang oder zur Bewegung ebenso weit zurück wie die Erinnerung überhaupt. Im weiteren Verlauf des Lebens schien dann im Mittelpunkt zu stehen, diese Leidenschaft gegen alle äußeren Hindernisse zu erhalten. Zu diesen äußeren Einflüssen gehörten die jeweilige künstlerische Ausbildung und dann die berufliche Realität.
Die befragten Künstler befanden sich zum Zeitpunkt der Gespräche an unterschiedlichen Punkten auf dem gleichen Weg, dessen Ziel die Passung zwischen persönlichem Umfeld, beruflicher Realität und künstlerischer Leidenschaft war. Wer in dieser Hinsicht weit gekommen war, gab gerne Auskunft über den Weg dorthin, auch besonders gerne über die Stolpersteine. Diejenigen, die dieses Ziel in weiter Ferne wähnten, sprachen darüber wie über eine tiefe Verwundung, die mit viel Scham verbunden war. Kein Einziger hat dieses Ziel aber aus den Augen verloren. Denn die Frage nach dem Ausstieg aus dem Künstlerdasein wäre eben auch gleichbedeutend gewesen mit der Frage „Haben Sie schon einmal versucht, etwas anderes als ein Mensch zu sein?“.
Dieses Buch gibt einen Einblick in das Leben darstellender Künstler. Es beschreibt die Vielfalt und Besonderheiten ihrer Persönlichkeiten und des Metiers, in dem sie sich bewegen und welche Mittel sie ge- oder erfunden haben, den damit verbundenen Schwierigkeiten zu begegnen. Der Blick hinter die Kulissen eröffnet eine Welt, die einerseits von Höhenflügen, Abstürzen, Machtmissbrauch, Träumen, Grenzüberschreitungen, Tabubrüchen und vom Aussteigen erzählt, andererseits aber geprägt ist von Normalität, Disziplin, Zeitmanagement und Haushaltsbüchern. Ulrich Khuon (2005) stellte einmal fest, der Versuch, über den Schauspieler zu reden, sei „einigermaßen sinnlos“. Zu vielfältig seien die Gefühlswelten, Erlebnis- und Energielagen, aber auch die Entwicklungen, Wege und Sehnsüchte, denen man im Kontakt mit darstellenden Künstlern begegnen würde. Dies gilt wohl für alle Genres. Dennoch lassen sich Gesetzmäßigkeiten aufzeigen, bestaunen und/oder problematisieren. Aussagen über „die Künstler“ in diesem Buch werden in der Annahme getroffen, dass sie sich auf einen großen Teil von darstellenden Künstlern beziehen lassen. Ausnahmen sind aber immer willkommen.
Die Künstler und Künstlerinnen, auf deren Erlebnisberichten dieses Buch unter anderem basiert, werden nicht namentlich genannt werden. Darstellende Künstler zeigen sich zwar gern auf der Bühne, ihr Privatleben muss aber gut geschützt sein, weil sich jede Aussage über die Privatperson eines Künstlers schädlich auf sein Arbeitsleben auswirken kann. Es trägt allerdings eine gewisse Komik in sich, dass ausgerechnet die, für die Namen von großer Bedeutung sind (nicht nur die eigenen, sondern auch die aller, mit denen sie beruflich zu tun haben), hier namenlos werden. Dies war aber die Voraussetzung dafür, dass sie einen tieferen Einblick in das gaben, was sie bewegt. Über die Klischees und publikumswirksamen Images, über Glanz und Schein hinaus und hinein in das wahre Künstlerleben, das manchmal so überraschend anders ist, als viele es sich vorstellen. Die Auszüge aus den Interviews werden in der Originalform wiedergegeben. Es war zwar notwendig, kleine Korrekturen oder Kürzungen vorzunehmen, um eine gute Verständlichkeit zu garantieren, inhaltliche Veränderungen der Aussagen sollten dabei aber nicht entstanden sein.
Künstler werden oft belächelt wegen ihrer “Verrücktheit”, ihres vermeintlich chaotischen Lebensstils, ihrer Unbeständigkeit oder ihrer Egozentrik und dabei wird übersehen, welche Kompetenzen sie sich erarbeiten (müssen), um das Leben zu meistern. Erst neuerdings, seitdem die Veränderung der Gesellschaft auch für besser sozial abgesicherte Berufsgruppen spürbar geworden ist, wird es für breitere Kreise interessant, sich danach umzusehen, wer heute in der Lage ist, mit der geforderten Flexibilität und Mobilität, mangelnder Vorhersagbarkeit der Zukunft und abnehmender Existenzsicherung umzugehen. Und hier stehen Künstler in der ersten Reihe. Sie haben sich daran gewöhnt scheitern und folgen dem Wort Samuel Becketts:
“Alles seit je. Nie was Andres.
Immer versucht. Immer gescheitert.
Einerlei. Wieder versuchen.
Wieder scheitern. Besser scheitern.“
AUS „AUFS SCHLIMMSTE ZU“, 1989, S. 7
Die gängige Vorstellung, dass Künstler mehr oder weniger verrückt sind, ist offensichtlich so verbreitet, dass die Forschung es offenbar bislang nicht für besonders interessant hielt, diese Annahme wissenschaftlich zu überprüfen. Wahrscheinlich ist man der Auffassung, dass ein normaler Künstler so wünschenswert ist wie eine stille Nachtigall oder ein schlanker Sumo-Ringer.
Einige – unter ihnen Schauspieler - haben sich dennoch dafür interessiert und festgestellt, dass kreative Menschen z.B. besonderen Wert auf Unabhängigkeit legen, dass sie sich lieber eigene Konventionen schaffen als allgemein gültigen zu folgen. Sie sind offen für neue Erfahrungen, risikobereit, flexibel und ihre Interessen sind weit gespannt (vgl. Funke, 2001). Eine Aussage darüber, wie verrückt Künstler sind, sucht man aber vergeblich. Zwar ist die Rede davon, dass Kreativität oftmals mit einem gewissen Grad psychopathologischen Verhaltens einhergeht, aber ebenso, dass pathologische Verhaltensweisen keine notwendige Voraussetzung für Kreativität sind. Es gibt Vergleiche zwischen Bühnenkünstlern und Nicht-Künstlern, die keinerlei psychische Auffälligkeiten auf Seiten der Künstler zeigten (Bunzel, 1975, zitiert nach Altweger, 1993). Offenbar muss auch unterschieden werden, von welcher Sparte gesprochen wird: Die Gruppe der Sänger zeigte sich nämlich zufrieden, psychosomatisch wenig gestört, belastbar, optimistisch, selbstvertrauend und anpassungsfähig. Die Schauspieler zeigten sich hingegen pessimistischer, reizbarer, depressiver, eher ängstlich und unruhig, dafür geistig wendiger und mehr auf abstraktes Denken hin ausgerichtet. Sie zeigten stärkere emotionale Reaktionen, standen eher zu ihren Fehlern und Schwächen, neigten aber mehr zu psychosomatischen Störungen. Außerdem erwiesen sie sich als größere Individualisten. Schauspieler leben einer Studie zufolge gesundheitsriskanter, sind eher bereit (z.B. für berufliche Vorteile) gesundheitliche Risiken auf sich zu nehmen und halten es überhaupt verstärkt für ihre Privatsache, wie sie mit ihrer Gesundheit umgehen (Kuppel, 1986, zitiert nach Altweger, 1993). Laut einer Studie aus dem Jahr 1993 sind sie insgesamt suizidgefährdeter als die Allgemeinbevölkerung (vgl. Altweger, 1993). Aber warum? Sind sie bereits anders, wenn sie in den Beruf hineingehen? Oder werden sie erst durch die hohen Anforderungen geprägt?
Es gibt Forschungsarbeiten, die belegen, dass Künstler in besonderer Weise geeignet sind, sich konstruktiv mit problematischen Situationen auseinanderzusetzen (vgl. Grube, 2002; Reis, 1997). Unter dem Fachbegriff Ambiguitätstoleranz z.B. wird die Fähigkeit verstanden, in einer problematischen und unübersichtlichen Situation zu existieren und trotzdem unermüdlich an deren Bewältigung zu arbeiten. Offenbar ist dies eine Voraussetzung für Kreativität und so konnte man auch wissenschaftlich bestätigen, dass Künstler über mehr Ambiguitätstoleranz verfügen als der Durchschnitt der Bevölkerung.
Aus der Literatur zu der Frage, wie weit Künstler in psychischer Hinsicht vom Durchschnitt der Allgemeinbevölkerung abweichen, ergibt sich letztendlich kein einheitliches Bild. Hinweise darauf, dass sie in einigen Bereichen abweichen, sind zu erkennen, aber durch die mangelnde Anzahl von Forschungsarbeiten zu ungenau. Auch die Widersprüchlichkeit der Ergebnisse in Bezug auf die unterschiedlichen Sparten lässt zu viele Fragen offen, als dass es sinnvoll wäre, Aussagen über die psychische Situation aller Künstler zu treffen. Es wäre im Gegenteil wünschenswert, ein Interesse dafür zu wecken, diese Berufsgruppe mit wissenschaftlichen Methoden zu untersuchen. Das könnte interessante Hinweise darauf ergeben, wie Persönlichkeiten geartet sein müssen, um sich heutzutage zurechtzufinden. Immer weniger können sich Menschen in der modernen Gesellschaft an einem vorgegebenen Rahmen orientieren, an so genannten Normalbiographien, die noch vor einigen Jahrzehnten die Regel waren. Biographien sind heute zunehmend geprägt von:
• Wiederholten Unterbrechungen der Arbeitsverhältnisse
• Der Notwendigkeit großer zeitlicher und örtlicher Flexibilität
• Existenzangst
• Der Chance und gleichzeitig der Bürde, das Leben selb zu gestalten
• Weniger Wohlstand
• Weniger Absicherung
All dies sind Themen, die den Alltag der meisten Künstler schon immer bestimmten. Daher sind sie sozusagen Fachleute auf diesem Gebiet und haben den „anständigen“ Berufszweigen viele Jahre Erfahrung im Umgang damit voraus. Es wäre also sicher aufschlussreich herauszufinden, welche Persönlichkeit es in einem solchen Klima zu Höchstleistungen bringt und welche eben genau die psychischen und physischen Auffälligkeiten zeigt, die aktuell beklagt werden, wie z.B. eine Zunahme an:
• Ängsten
• Depressionen
• Psychosomatischen Störungen
• Burn-out
• Belastendem Stress
VGL. ALBANI ET AL., 2008; BERTH ET AL., 2008; OETTING, 2008; RIGOTTI & MOHR, 2008; ULICH, 2008
Einerseits scheinen viele Künstler besonders verletzlich zu sein für eine belastende berufliche Situation (vgl. oben Altweger, Bunzel), andererseits aber besonders risikobereit und kompetent. Was kann man von ihnen lernen?
Alle Menschen verfügen zunächst einmal über einen inneren Antrieb. Künstler verfügen meist über einen besonders starken Antrieb, der in ihrer Leidenschaft für ihren Beruf begründet ist. Das gibt ihnen auch die Kraft, besondere Hindernisse - bei der Realisierung von Projekten, bei der materiellen Existenzsicherung - zu überwinden. Kommt dieser starke Motor zum Stillstand, sollte dies als ein alarmierendes Zeichen für zugrunde liegende massive Belastungen betrachtet werden.
Der Künstlerberuf weist sicher kleinere und größere Überschneidungen mit anderen Berufen auf, dies soll hier aber nicht von Interesse sein. Im künstlerischen Metier treten menschliche Schwächen und Stärken wunderbar bildhaft und meist stärker als anderswo hervor. Erkenntnisse, die daraus gewonnen werden, können beliebig auf andere Bereiche übertragen werden, in denen Menschen sich manchmal gewinnbringend, manchmal tragisch und manchmal brutal einander gegenüber verhalten. Künstler beschäftigen sich zwar (im besten Fall) mit dem Leben (und nicht nur mit sich selbst), dringen aber durch die künstlerische Form über andere Sinne in tiefere Gefilde vor, als es gemeinhin Angehörige anderer Berufszweige über ihre berufliche Tätigkeit tun können. Deshalb widmet sich dieses Buch den Künstlern und Künstlerinnen und zwar in der ihnen liebsten Weise: mit voller Aufmerksamkeit.
„Der Schauspieler ist oft überspannt.
Er findet sich wenig ab. (…)
Er bleibt oft unglücklich.
Er hat ganz wenig Sicherheit.
Er ist sehr abhängig.
Er möchte am liebsten geliebt sein.
Er ist eben ein besonders typischer Mensch.“
WALSER, MENSCHENKUNDE, ZITIERT NACH ALTWEGER, 1993, S.3
Wie stellen Künstler sich dar, wenn man sie nach ihrem Künstlerdasein fragt?
Zunächst einmal ist den meisten von ihnen schon der Begriff suspekt, denn er beinhaltet die Zugehörigkeit zu einer Gruppe und bedeutet damit bereits eine Einschränkung der Individualität. Keiner der Befragten bejahte die Frage, ob es eine bewusste Entscheidung gegeben habe, den Künstlerberuf zu ergreifen. Alle beschrieben entweder eine unbestimmte Berufung, die sich bereits in Kindertagen gezeigt hätte oder hätten sich auch heute noch nicht als Künstler bezeichnet.
CARINA (SCHAUSPIELERIN, 28): „ Ich hätte es gerne, mich auf ‚den Tag’ berufen und sagen zu können: ‚Ach, ich habe es deshalb gemacht.’ Aber irgendwie war es schon immer drin.“
NATALIE (SCHAUSPIELERIN, 36): „Ja, mit elf, da habe ich immer gesagt, das will ich werden, aber nie gedacht, dass ich es machen werde, weil ich aus einem ganz spießigen Elternhaus kam und dachte: ‚Bist du eben nicht, du kommst eben da her, wo du her kommst.’ Ich habe auch alle meine Entscheidungen wie eine Lehrertochter getroffen und nicht wie eine Künstlerin. Ich hätte mich nie, nie, nie als Schauspielerin oder Künstlerin bezeichnet, ich sag meistens, ich bin Sprecherin.“
INTERVIEWERIN: „Auch als du am Theater warst?“
NATALIE: „Ja, ich saß ganz oft abends in der Garderobe und dachte: ‚Wahnsinn, dass ich jetzt hier sitze und mich schminke.’“
BARBRA (SCHAUSPIELERIN, 42): „Mein Zugang kam über die Schwester eines Schulfreundes, die Schauspielerin war. Da habe ich zum ersten Mal erfahren, dass man das lernen kann. Ich hatte zwar schon als Kind im Zimmer alles nachgespielt, aber gedacht, man wird Schauspielerin durch Geburt. Dann habe ich gehört, dass jeder Mensch, wenn er das möchte, auf eine Schauspielschule gehen kann. Ich hab schon als Kind gedacht, ich bin etwas Besonderes, ich bin zu etwas berufen, ich wusste aber nicht wozu. Ich fühlte mich auch sehr zu Hause in diesem ganzen Spleenigen und Versponnenen. Und es war auch eine Ablösung vom Elternhaus, wo ich immer dachte, da gehöre ich nicht dazu. Meine kleine narzisstische Störung hat mir geholfen zu sagen, ich bin Schauspielerin und ich dachte immer, ich gebe damit total an.“
MATTEO (GITARRIST, 49): „Nein, nicht bewusst, ich habe nur gedacht, ich will Gitarre spielen, an die Musik denken und was dann kam, habe ich gemacht und auch gelitten, weil ich eben viele von diesen Kompromissen machen musste.“
SABRINA (PIANISTIN, 40): „Ich habe darüber nicht nachgedacht. Das war von Anfang an da, ein Teil von mir, gar nichts Besonderes, es war eher die Frage: wo finde ich Kraft?“
BJÖRN (OPERNTENOR, 36): „Ich habe es erst bei der Bundeswehr gemerkt, was mir fehlt: das Klavierspielen. Man kann sich nicht entscheiden, man kommt erst da hin.“
TIM (SCHAUSPIELER, 56): „Das war interessant. Das kam gar nicht von mir selbst. Ich bin nicht selbst drauf gekommen. Das kam von meiner Frau. Ich hatte ja erst Journalistik studiert und hab dann die Aufnahmeprüfung gemacht. Aber ich war ganz sicher, dass ich das schaffe - na ja, ein bisschen größenwahnsinnig. Dieses Undisziplinierte, dieses Ungeordnete, dieses Assoziative, dieses nicht so in einer Struktur drin hängen, das brachte die Schauspielerei.“
Die „Verrücktheit“ von Künstlern ist für sie selbst bestenfalls ein Mythos, der hinterfragt werden sollte. Was bedeutet verrückt? Ist es nicht vielmehr eine Zuschreibung, die von Menschen erfolgt, die sich ein nicht normkonformes Verhalten erklären wollen? Der Verrückte findet sich selbst möglicherweise nicht verrückt. „Ein Geisterfahrer? Hunderte!“
Viele Künstler haben keine Scheu davor, sich selbst in ihren Abgründen zu erkennen, die Persönlichkeitsanteile, die ungeklärt und unerklärbar sind, als solche zu akzeptieren und vielmehr zu nutzen, um individuelle Lösungen für individuelle Problemstellungen zu finden. Ein Künstler, dem diese Fähigkeit fehlt, wird es in seinem Beruf schwer haben. Möglicherweise verstört es Künstler sogar eher, wenn sie sich einer scheinbaren Klarheit über die Dinge des Lebens als einziger Wahrheit gegenüber sehen. Die eingangs erwähnte Ambiguitätstoleranz, also die Fähigkeit, in einer unübersichtlichen Situation zu existieren und unermüdlich an deren Bewältigung zu arbeiten, sich von einem dichotomen Schwarz-Weiß-Denken zu distanzieren, steht ihnen als Kompetenz zur Verfügung, um die Welt so zu sehen und zu nehmen, wie sie ist: nicht vollends erklär- und durchschaubar, zunehmend unübersichtlich. Es lohnt sich also, die Verrücktheit von Künstlern einmal genauer zu betrachten und möglicherweise davon zu lernen.