Edition BoD | |
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hrsg. von Vito von Eichborn |
Bücher für Entdecker
Books on Demand bietet Autoren ein neues Verlagskonzept. Viele Debütanten, etablierte Autoren und engagierte Verleger nutzen den Publikationsservice von Books on Demand und bereichern den Buchmarkt mit interessanten und außergewöhnlichen Titeln. Vito von Eichborn, einer der innovativsten Buchmacher Deutschlands, wählt als Herausgeber für die Edition BoD herausragende Neuerscheinungen aus. Lesen Sie selbst, welche Entdeckungen das Programm von Books on Demand möglich macht.
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Juckel Henke, 1954 in Bochum
• Kommunikationswirt
• Studium Germanistik und Philosophie
• 1988 Gründung des immer noch aktiven und somit ältesten Bochumer Kabaretts DUDELJÖH COMPANY (http://www.dudeljoeh.de)
• Autor von ca. 1.500 Radioglossen, (Heinz Kowallek, Kurt Gleisky)
• Mitautor der Internet-Soap „Kabulske“
• Veröffentlichung: 1997, Heinz Kowallek - Sonz war ja nix, ich bin weg!!! (999 Verlagsgesellschaft, Essen)
Vito von Eichborn war Journalist, dann Lektor im S. Fischer Verlag, bevor er 1980 den Eichborn Verlag gründete, dessen Programm noch heute ein breites Spektrum umfasst: Humor, Kochbücher und Ratgeber, Sachbücher aller Art, klassische und moderne Literatur sowie die Andere Bibliothek. Nach seinem Ausstieg im Jahre 1995 war er u.a. Geschäftsführer bei Rotbuch / Europäische Verlagsanstalt und sechs Jahre Verleger des Europa-Verlags. Seit 2005 ist Vito von Eichborn selbständig als Publizist tätig und fungiert u.a. seit März 2006 als Herausgeber der Edition BoD.
Ja, das hört sich gut an. Freche Frauenromane gehen ja immer noch, seit zwanzig Jahren. Aber dieser provokante Titel irritiert mich. Worum geht’s denn?“
„Unsere Ich-Erzählerin Sylvia wird Fleisch- und Wurstwarenfachverkäuferin. Eine Kollegin begrüßt sie: Willkommen bei den Frauen, die nach Schinken stinken. Und Lebensmittel spielen durchgehend eine Rolle in …“
Meine Buchhändlerin unterbrach mich, wie sie es immer tut: „Oje, ist das etwa so ein sozialkritisches Ding über die Unterschicht? Ich will die Handlung wissen.“
„Also gut. Sylvia bekommt eine Stelle bei der Sparkasse. Sie empfiehlt Geldanlagen. Nach ein paar Jahren wird sie Filialleiterin. Dann geht das Börsenfieber am Neuen Markt los. Sylvia rettet mit dem Tipp, an der Börse auszusteigen, das Geld von Metzgermeister Mosek. Sie wird gefeuert. Ihr – erotisch übrigens sehr begabter – Ehemann Klaus jedoch verliert das gemeinsame Vermögen bei der Pleite einer Internet-Gesellschaft. Er hängt sich auf. Nach ein paar Jahren Arbeitslosigkeit und vergeblichen Bewerbungen wird sie nun Verkäuferin …“
„Da ist ja richtig was los …“
„Aber dies war erst der Anfang. In Wirklichkeit geht es um eine weltweite Verschwörung. Der größte Nahrungsmittelkonzern macht im großen Stil Geschäfte mit verbotenen BSE-Abfällen und ist ein Verbrecherunternehmen. Sylvias Freund Roman, der mit seinen Büchern Skandale enthüllt, hat die Formel für die Weltherrschaft in einer Konservendose versteckt. Er recherchiert rund um den Globus und ist jahrelang auf der Flucht. Sylvia bekommt vom BND eine neue Identität. Sie landet in Sri Lanka, Glasgow, Liechtenstein, Belgien und einem schottischen Schloss. Ein schwuler Professor wird vergiftet. Unsere Heldin schläft mit einer scharfen Frau vom britischen Geheimdienst, bis es mal wieder mit Roman zur Sache geht. Metzger Mosek taucht immer wieder auf – und hat eine lange Stasi-Vergangenheit. Als Sylvia nach Bochum zurückkommt, lebt ihre Katze noch. Andere aber leben nicht mehr lange – der Showdown findet in der Kühlkammer des Schlachthofs statt.“
„Mein lieber Mann“, entfuhr es meiner Buchhändlerin, „ist das alles nicht ein bisschen dick aufgetragen?“
„Aber nein, das ist ja das Besondere an diesem turbulenten Roman: Hier wird mit vielerlei Versatzstücken gespielt. Die sogenannten Chic-lit-Romane haben sich seit den Anfängen von Heller, Lind und Hauptmann in den Achtzigern weiterentwickelt. Nicht nur die Erotik ist unverblümt. Hemmungslos werden Stile gemischt, wird die Handlung geschnitten und gespiegelt. In diesem Buch gefallen mir besonders viele kleine Begebenheiten, die präzise beobachtet und ungeheuer witzig aufgespießt werden. Und das Ganze plustert sich nicht auf, sondern ist voller Selbstironie …“
„Da hätte ich gerne mal ein Beispiel“, meinte meine Buchhändlerin. Ihre Skepsis war offener Neugierde gewichen.
Ich schlug auf: „Welch ein Arschloch, dieser Klammroth. C & A-Anzug von der Stange, Einfamilienhaus, zwei Frauen, drei Kinder und ein Hyundai auf Leasingbasis …“
Meine Buchhändlerin nahm mir das Buch aus der Hand. „Geldanlagen, Geldeinlagen, Geldwäscherei. In Polen brach die Schweinepest aus und in Bochum eine Welt zusammen, sagte leise Servus und fiel tot vom Stuhl – ja, sowas wollen meine Kundinnen, das hat ja wirklich viel Witz!“, rief sie aus.
„Stimmt, so zu schreiben, da gehört viel Mut dazu, so lebendig mit Alltagssprache und …“
Mir hörte niemand mehr zu. Es hatte geklingelt, und meine Buchhändlerin war schnurstracks zur Tür geeilt.
Da bleibt mir nur, bei dieser Lektüre voller Drive und Überraschungen befreites lautes Lachen zu wünschen.
Wohl bekomm’s.
Vito von Eichborn
Mir war kalt. Und da saß ich, Sylvia Stuben, geborene Flieg, nun inmitten der ehemaligen Sozialisten. Ich stand noch einmal auf, klopfte Karl Marx auf die Schulter, sah Friedrich Engels in die Augen, ging an Rosa Luxemburg vorbei, grüßte Karl Liebknecht kurz und setzte mich anschließend erschöpft neben Willy Brandt auf die Bank. Direkt gegenüber stand Fidel Castro aufrecht neben Che Guevara.
Jetzt konnte mich eigentlich nur noch ein Wunder retten. Ich spürte, dass es nicht mehr lange dauern würde. Ich war am Ende meiner Kräfte. Wie konnte es nur dazu kommen? In meinem Kopf lief ein Film ab.
Frau Stuben, können Sie bitte mal in mein Büro kommen“, rief Abteilungsleiter Klammroth.
Mir schwante nichts Gutes, denn einer unserer zahlungskräftigsten Kunden, Metzgermeister Mosek, hatte aufgrund meiner Anlagetipps in den vergangenen sechs Monaten nahezu 325 000 DM in den Sand gesetzt. Dumm gelaufen!
„Frau Stuben“, sagte Klammroth ernst, „setzen Sie sich. Ich glaube, es ist an der Zeit, Ihnen klarzumachen, dass wir es uns nicht leisten können, auch noch die Kleinanleger zu vergraulen. Was, zum Teufel, hat Sie geritten, Herrn Mosek polnische Wertpapiere zu empfehlen? In unserem letzten Meeting haben wir ausdrücklich darauf hingewiesen, dass osteuropäische Werte nicht angesagt sind. Und in einen Fonds zu investieren, der zu 60 Prozent in Wurstwaren, zu 10 Prozent in Rentierfleisch, zu 3 Prozent in Messerschlifftechnik und zu 27 Prozent in Sonstiges setzt, das ist vollkommen out! Und was machen Sie, Frau Stuben? Genau das! Und das geht nicht! Noch so ein Ding und Sie können gehen.“
Welch ein Arschloch, dieser Klammroth. C&A-Maßanzug von der Stange, Einfamilienhaus, zwei Frauen, drei Kinder und ein Hyundai auf Leasingbasis. Vorsitzender des Kegelclubs „Die Pudelkönige“ und Blutspender beim Deutschen Roten Kreuz. Hauptsächlich wegen der Tafel Schokolade danach. Klammroth, der Anwärter zum Ohrfeigengesicht des Monats. Eines jeden Monats.
Fräulein Flieg, nehmen Sie doch bitte Platz“, sagte Klammroth und bat mich in einen überdimensionalen kleinen Sessel, in dem ich versank und er mir von oben in die Augen schaute.
„Fräulein Flieg, nun seien Sie doch nicht so nervös, es ist doch nur ein Vorstellungsgespräch.“
Er drehte sich um, ging ans Fenster, schaute hinaus und sagte: „Wer abends Fisch essen will, muss morgens früh aufstehen.“
Einfach so. Der Satz sollte mich bis heute verfolgen.
Aber anscheinend hatte ich mich gut verkauft, denn nur eine Woche später erhielt ich die Zusage für den Job in der Sparkasse. Und ich war hochzufrieden. Das Kreditinstitut hatte mich erstanden. Ohne Ausgabezuschlag und Managementgebühr. Zu einem Festpreis.
Mein erster Arbeitstag war genau so, wie ich ihn mir vorgestellt hatte. Klammroth begrüßte mich, stellte mich im Schnelldurchgang den Mitarbeitern in allen Abteilungen vor und verschwand anschließend in sein Büro im dritten Stock.
Da saß ich nun, 25 Jahre alt, blondbraune Haare, 1,72 Meter groß, 60 Kilogramm schwer und kerngesund. Ich fühlte mich allein in meiner neuen Welt. Um mich herum herrschte eine gewisse ruhige Unruhe. Ich schaute automatisch auf die Füße meiner neuen Kollegen. Trugen hier alle Pantoffeln? Nahezu lautlos huschten Hinz und Kunz von Pontius nach Pilatus, vom Kopierer zum Fernschreiber, von der Toilette zur Kantine – meistens war es jedoch umgekehrt. Acht Stunden am Tag – und das von Montag bis Freitag.
Nach meinem ersten Monat kannte ich außer Klammroth immerhin schon fünf Kollegen, deren Namen ich mir merken konnte. Irgendwie war alles noch sehr fremd für mich.
„Morgen, Mahlzeit und tschüss!!“
Der Sommer 1988 war heiß, doch dann verwandelte monsunartiger Regen die Schlossallee in eine Badstraße. 17.00 Uhr, ich musste los. Direkt am Gefängnis vorbei ging ich ins Gebäude der Stadtwerke, um meine Gasrechnung zu begleichen.
Bis zum Westbahnhof waren es von dort nur noch 200 Meter. Vollkommen durchnässt hetzte ich auf Bahnsteig 6. Karl, mein dünner Vetter aus Paderborn, sollte um 17.45 Uhr mit dem Intercity „Cornelia Frohbös“ ankommen. Aus der Ferne hörte ich das typische Geräusch einer Diesellokomotive. Mit einer Minute Verspätung fuhr der Zug in den Bochumer Hauptbahnhof ein. Dummerweise hatte ich es versäumt, mir für 10 Pfennig eine Bahnsteigkarte aus dem Automaten zu ziehen. Von links und rechts sah ich jeweils einen Kontrolleur auf mich zukommen.
„Na, mein Fräulein“, nuschelte mich der von rechts kommende Bundesbahnmitarbeiter an. „Darf ich bitte einmal Ihre Bahnsteigkarte sehen?“
Mir wurde übel. Wie konnte ich mich auch nur ohne Bahnsteigkarte auf einem deutschen Bahnhof aufhalten? Nachdem ich mich bereits im Gefängnis sah, sprang Gott sei Dank ein gut aussehender Mittvierziger vom Bahnsteig aufs Gleis und wurde vom einfahrenden Intercity überrollt, der dadurch nicht wie geplant, laut Wagenstandsanzeiger, im Abschnitt D hielt.
Ich begrüßte Karl kurz, fuhr mit ihm in einem Taxi zu meiner Mutter, die bereits leckere Toastvariationen vorbereitet hatte, speiste kurz mit ihnen und verschwand danach in meine Mansardenwohnung in der Gustavstraße in Bochum-Hamme.
Am nächsten Tag ging ich wieder zu meiner Arbeitsstätte.
Unser Büro wurde durch Paravents getrennt. Geldanlagen, Geldeinlagen, Geldwäscherei – im dritten Stock. Nichtrauchergroßraumbüros rechts und links. Ein Raucherbüro am Ende des Ganges rechts oder links – je nach Laufrichtung. Damentoiletten links, Herrentoiletten rechts, Eingang links, Ausgang links (es gab nur diese eine Tür).
Nach zwei Jahren hatte ich schon vieles in den Griff bekommen. Auch Klammroth schien mit meiner Arbeit zufrieden zu sein.
Er hatte sich 1990 endlich dazu durchgerungen, mir den Bereich Anlagen bis 500 000 DM anzuvertrauen.
Bereits um 9.00 Uhr an diesem verschneiten Januarmontag hatte ich meinen ersten eigenen Kunden. Metzgermeister Mosek, staatlich vereidigter und konzessionierter Fleischer. Erste Adresse in Bochum und Metzger des Vertrauens vieler Mitbürger. Er nahm Platz, ohne dass ich ihn dazu aufgefordert hatte und lümmelte sich auf dem Kundensitzplatz aus Ebenholz, griff in seine Jackentasche, suchte und fand eine Fehlfarben-Zigarre aus Havanna. Er grinste mich an wie ein Rind aus seiner Zucht und frönte seiner Sucht. Sei letztes Zündholz zündete nicht und er bat mich um Feuer.
Ich nahm das Feuerzeug mit der Aufschrift: „Sparst du heute, freut es dich morgen – deine Sparkasse“, gab ihm die Flamme und schenkte ihm das Feuerzeug.
Genussvoll sog er an seinem Tabakgewächs und blies den Rauch in die Klimaanlage, die plötzlich, so schien es, zu husten begann. Welch ein Anblick. Mosek und die Zigarre in seinem Maul. Ich schaute zweimal hin. Tatsächlich, bereits bevor es Piercings gab, lernte ich eines kennen.
Der Metzgermeister trug einen Nasenring, winzig, aber groß genug und ich musste unweigerlich an meinen letzten Urlaub vor 15 Jahren im Sauerland denken. Alma, die Kuh mit dem großen Euter, trug einen ähnlichen Nasenring. Was wäre, wenn ich Mosek in ein Kundenbindungsprogramm einbinden, beziehungsweise anbinden würde? Würde er Milch geben, begänne er zu muhen oder …
Mosek schien meine Gedanken erahnt zu haben.
„Fräulein Flieg“, sagte er und blies mir den Qualm seines kubanischen Stinkers ins Gesicht, „wir sind hier nicht im Sauerland und mein Nasenring geht Sie überhaupt nichts an.“
Nachdem ich Mosek überzeugt hatte, in Bundesschatzbriefe mit sechsjähriger Laufzeit, jederzeit verfügbar, zu investieren, verließ er frohen Mutes mein Büro, nicht ohne seine Havanna in der Erde meiner Yuccapalme zu versenken.
Das Telefon klingelte. „Hier ist Klammroth. Fräulein Flieg, kommen Sie doch bitte einmal in mein Büro.“
1991 fühlte ich mich sehr wohl in meiner kleinen Welt. Die Spatzen pfiffen von den Dächern, ein Dachdecker stürzte von dort herab, die Rosen blühten in ganzer Pracht und es war Sommer. Peter Maffay hatte zum 14. Male versucht, sich seine Warze über der linken Lippenpartie entfernen zu lassen. Es war sinnlos! Alle Versuche schlugen fehl. Daraufhin komponierte er meinen Lieblingssong. Ich weiß bis heute noch nicht warum und wie er heißt.
Es war heiß. Ein sehr heißer Julifreitag. Das alljährliche Sommerfest der Sparkasse war angesagt. Auf dem Vorplatz, direkt vor dem Eingang der Schalterhalle, ließ Klammroth eine kleine Glamourwelt errichten. Würstchenbuden, Bierstände, Hüpfburgen und Dixie-Klos. Es gab Preisausschreiben, Infostände, Feuerschlucker, Jongleure und Affen, die lippengetreu Heino-Lieder im Playback nachäfften. „Heile, heile Gänschen“, heile Sparkassenwelt.
Ich saß am Infostand, direkt neben der Würstchenbude. Schon von weitem sah ich, dass ein Mann von einem Mann, ein Mann also, auf mich zukam. Geraden Schrittes lief er mir entgegen und ließ sich in einen weißen Plastikstuhl fallen. Er zog an seinem Joint und sang böhmische Volksweisen. Ich musste lauthals lachen.
„Mein Name ist Schreiber, Roman Schreiber“, lallte die lustige Person mit der großen Zahnlücke. Er erzählte mir einige Schwänke aus seinem Leben. Zugedröhnt wie er war, eines musste man ihm lassen, es waren herrlich poetische Schwänke. Nachdem er grußlos hinfortschritt, war es mir klar. Dieser Roman Schreiber konnte nur Schriftsteller sein.
Wir hatten unser beliebtes Montagsmeeting. – Jour fixe – Klammroth zog mal wieder richtig vom Leder. Ein verbaler Rundumschlag. Chefkassierer Hasselmanns roter Kopf drohte zu platzen. Mir schien, als käme bereits Dampf aus seinen Ohren. Sollte er jetzt auch noch anfangen zu pfeifen?
„Kaffee ist fertig!“, rief Suse, meine neue Praktikantin. Suse war in der Jahrgangsstufe 12 der Goethe-Schule und absolvierte bei uns ihr erstes Praktikum. Eigentlich wollte sie Mechatronikerin werden, obwohl es diesen Beruf offiziell noch gar nicht gab. Aber wenn der Vater sagt, die Tochter solle etwas Anständiges lernen, dann doch bitte schön was Ordentliches und möglichst bei einem Kreditinstitut. Darauf kann man eine Bank setzen. Allein der Name „Kreditinstitut“ ließ mittlerweile meine Nackenhaare hochsprießen. Nach drei Jahren wusste ich sehr gut, was in so einem Institut alles abgeht. Und mein nächster Kunde wartete bereits seit einer geschlagenen Stunde.
Metzgermeister Mosek war wieder einmal da. Mein Tipp mit den Bundesschatzbriefen hatte ihn überzeugt. Aufgrund seiner ungewöhnlich guten Umsätze mit Bio-Fleisch hatte er jetzt noch Kohle übrig, die er zusätzlich anlegen wollte. Ich empfahl ihm, Anleihen auf russische Traktorenmotoren zu zeichnen. Und bereits nach drei Monaten erzielte Mosek tatsächlich eine Rendite von sagenhaften 13,7 Prozent. Mosek war zufrieden, ich war zufrieden und selbst Klammroth war hochzufrieden. Friede, Freude, Eierkuchen.
Durch mein glückliches Händchen im Anleihengeschäft wurde ich im Oktober zur Mitarbeiterin des Monats gewählt. Klammroth bat mich in sein Büro. Ab Januar 1993 sollte ich die kleine Filiale in der Fischerstraße leiten.
„Ich, Sylvia Flieg, ich, ich, jaaaa, ich werde Filialleiterin!!!“
Und mit dieser Tatsachenentscheidung sollte sich mein Leben grundlegend ändern. Und wie wir alle wissen: „Alles verändert sich, wenn du dich veränderst!“
1993 war ich gerade einmal 30 Jahre alt und Filialleiterin. Karriereherz, was willst du mehr? Natürlich hatte ich mich outfitmäßig etwas verändert. Nicht mehr ganz so konservativ wie bisher. Ein roter Lederrock, schwarze Nappastiefel, ein Kaschmir-Pullover mit V-Ausschnitt und ein dezentes, rotes, dem Sparkassen-Design angepasstes Rouge ließen mich beim ersten Anblick im Spiegel zwar erschrecken, aber man gewöhnt sich an alles.
Als ich am ersten Arbeitstag im Januar meine Filiale betrat, wurde ich überfreundlich von meinen zukünftigen Untergebenen begrüßt. Es war nur eine kleine Zweigstelle, trotzdem arbeiteten außer mir noch vier Mitarbeiter in Vollzeit und eine Schwangerschaftsvertretung in Halbzeit vor Ort. Kurz nachdem ich mich vorgestellt hatte, fuhr Klammroth in seinem Cabrio vor, um mich den Mitarbeitern vorzustellen.
„Stellen Sie sich vor, Herr Klammroth, ich habe mich bereits vorgestellt, nicht dass Sie mich jetzt nachstellen.“
„Mir“, sagte Klammroth und alle brachen in schallendes Gelächter aus, während er kurz darauf schon wieder verschwand.
Der erste Monat verlief genau so, wie ich ihn mir vorgestellt hatte. Das Kreditgeschäft florierte, die Mitarbeiter waren gut drauf und ich kaufte daraufhin Blumen für die gesamte Filiale. Mir war einfach danach. Das Betriebsklima stimmte und im Februar wurde unsere Zweigstelle zum ersten Mal überfallen. Die Täter erbeuteten eine fünfstellige Summe. Peanuts! Kassierer Blum erlitt einen Schock, fuhr für zwei Monate zur Kur, die Überwachungskamera wurde modernisiert, und alles lief wie gewohnt weiter.
Am 1. Mai begab ich mich bestens gelaunt in die Filiale. Ich wunderte mich, dass keiner meiner Mitarbeiter da war, bevor ich registrierte, dass der 1. Mai ja Tag der Arbeit heißt, weil man an diesem Tag nicht arbeiten muss. Also fuhr ich wieder zurück nach Hause, ließ das Wasser in meiner Badewanne überlaufen und reichte den dadurch entstandenen Schaden bei meiner Versicherung ein.
In der Bank gab es weitere vier Überfälle und drei neue Kassierer. So langsam wurde es langweilig. Mittlerweile kannte man die Täter schon, nur die Polizei tappte weiterhin im Dunkeln.
1994 freute ich mich auf meinen Urlaub.
Lang war es her, dass ich auf Wangerooge meinen letzten Urlaub genossen hatte. Genau genommen, zwölf Jahre. Ich verbrachte meinen Urlaub damals mit meiner zweiten großen Jugendliebe. Klaus Stuben.
Klaus lernte ich damals während meines WiWi-Studiums an der Ruhruniversität Bochum kennen und lieben. Wie könnt ich nur den kleinen Klaus vergessen? Er wollte immer nur nachts und beim ersten Male nahm er mich direkt von hinten. Klaus kam aus guten Familienverhältnissen. Sein Vater war Lokomotivführer, seine Mutter war Chefsekretärin bei Krupp in Essen.
Was haben wir uns damals die Nächte um die Ohren geschlagen. Im Club Liberitas bei Theo an der Theke, in der Jobsiade, bei Karl Voigt, dem Mann mit den tausend Tieren, auf der Brückstraße, im Drugstore auf der Brüderstraße und am Milchhäuschen im Bochumer Stadtpark. Oben, am höchsten Punkt von Bochums grüner Lunge.
An einem lauen Sommerabend 1982 trafen wir uns dort gegen 21.00 Uhr. Wir wollten noch einmal über unsere Zwischenprüfung sprechen.
Ein höchst interessantes Thema: „Cashflow und Geldverschwendung im Öffentlichen Dienst unter Berücksichtigung des Hebeleffekts bei Minus-Wachstum.“
Klaus hatte sich an diesem Abend den Mini-Cooper seines Vaters geliehen und fuhr damit bis an den Rand des Sandkastens am Spielplatz, wo um diese Zeit kein Kind mehr spielte. Auch die Parkwächter hatten längst Feierabend gemacht.
Gut sah Klaus aus, als er sich aus dem Mini zwängte, während ich mich vor einer Stunde mühsam in meinen Minirock gequält hatte.
Wir sprachen kurz über das Klausurthema, dann zwängten wir uns gemeinsam in seinen Mini, ich mich aus meinem Mini – es wurde eine Maxi-Nacht! Wie gesagt, Klaus war nachtaktiv wie eine Eule und ausdauernd wie ein Karnickel.
Die Klausur hatten wir beide in den Sand gesetzt und das Semester war verschenkt. Zu meinem 20. Geburtstag bekam ich ein Sparkassenbuch von meiner Patentante geschenkt. Jeden Monat lang, seit meiner Geburt, hatte sie für mich 5 DM gespart. 20 Jahre lang. Feierlich überreichte sie mir an meinem Jubeltag mein erstes kleines Vermögen.
„Mit Zinsen, mein Kind, mit Zinsen sind im Laufe der 20 Jahre daraus 1.248,93 DM geworden. Und die gehören jetzt dir. Alles Liebe zum Geburtstag, meine kleine Sylvia“, sagte meine Patentante.
Innerlich jubelte ich, äußerlich gab ich ihr einen dicken Kuss auf die Wange, bedankte mich artig und rief Klaus an.
Zwei Tage später saßen wir bereits in der Fähre, die uns von Carolinensiel nach Wangerooge bringen sollte.
Doch vorher musste ich ja noch arbeiten.
„Frau Flieg“, wurde ich aus meinen Träumen gerissen, „Frau Flieg, Herr Semmler möchte Sie sprechen.“
Semmler war einer meiner besten Kunden, daher hatte mich Klammroth aus meiner kleinen heilen Filialwelt in die Hauptstelle geholt, um Semmler die große, weite Welt der Sparkasse und nicht nur eine kleine, unscheinbare Filiale zu zeigen.
Nicht umsonst sollten im nächsten Jahrhundert potenzielle Sparkassenkunden mit Hubschraubern kreuz und quer durch die Welt geflogen werden.
Semmler wusste genau, was er wollte. Ich wusste genau, dass er zwar was wollte, aber nichts mehr hatte. Also mussten wir, als seriöses Kreditinstitut, ihm das auch noch wegnehmen.
Nach drei Monaten wurde Semmlers Haus versteigert. Einen Monat später konnte man das Anwesen über unsere Immobilienabteilung günstig erwerben.
Wie ich später erfuhr, gehörte dieses Haus seit 35 Jahren nur uns, mit häufig wechselnden Schicksalen.
Nun war es so weit. Ich hatte mich ertappt. Mein Arbeitgeber war „uns“. Und ich war plötzlich er! Wer bin ich, wo bin ich, was bin ich? Ich hatte einen kleinen Trost. Nur noch heute arbeiten, diese acht Stunden und dann …
Dann 14 Tage lang raus, raus ans Meer, ans blaue Meer.
Zu Hause angekommen, schaltete ich zuerst mein Handy ab. Sicherheitshalber zog ich auch noch die SIM-Card heraus und ließ meine Badewanne mit Wasser voll laufen, achtete aber darauf, dass es ja nicht mal wieder überlief. Derweil brannte der IKEA-Tisch in der Küche an, weil ich nicht auf die brennenden Kerzen achtete. Ich meldete den Schaden meiner Hausratversicherung.
Ich schlief tief.
6.15 Uhr. Der Wecker gackerte. Normalerweise hasste ich diesen Wecker in Form eines Hühnervogels. Dieser Wecker piepste nicht, sondern er gackerte, wenn die voreingestellte Weckzeit erreicht war. Aber heute schien mir das Gegacker ausgesprochen gut zu gefallen.
„Kickeriekie, Kickerikie, puttputtputt“, dröhnte es aus der Uhr. Ich war hellwach und begann, sofort zu singen.
„Ich wollt’ ich wär’ ein Huhn und hätt’ nicht viel zu tun!“
Jawoll, so war es! Mein erster Urlaubstag. Schnell noch frühstücken, Koffer packen und ab in den hohen Norden.
Gegen Mittag erreichte ich Carolinensiel. Ich stellte mein Auto auf dem Parkplatz direkt am Hafen ab, trennte mich von meinem Gepäck und begab mich an Bord der Fähre. Während der Überfahrt sammelten Matrosen – in Donald-Duck-Kostümen – Geld in Dosen für die tapfere Seenotrettungsgesellschaft mit beschränkter Haftung. Der Kahn war gut gefüllt. Kegelclubs, Singles, Doubles und Familien mit und ohne Kinder. Alle hatten beste Laune mit an Bord gebracht und auch etwas zu trinken. Ich bekam Hunger und kaufte mir eine Bockwurst für 1,85 DM und kurze Zeit später legten wir auch schon an. Der Leuchtturm leuchtete nicht und der Wind blies von Nordwest nach West. Die Uraltinselbimmelbahn, betrieben von der Deutschen Bahn AG, stand bereit. Bereit für mich und zirka 198 – 201 andere Urlauber und einheimische Rückkehrer, die bereit waren, sich die frische Seeluft um Hals, Nasen und Ohren pfeifen zu lassen.
Am Bahnhof Wangerooge angekommen, wurde es zum ersten Male lustig. Das Gepäck, welches separat transportiert wurde, wurde ausgeladen. Wie auf dem Flohmarkt gingen ungefähr 198 – 201 Menschen auf die geöffneten Container zu, um ihr Gepäck zu identifizieren und abzuholen. Dreimal schritt ich die Container ab, ohne meine Koffer zu finden. Ich sprach einen freundlichen Bahnmitarbeiter an, der mich beruhigte und mir sagte, dass das völlig normal sei. Dann würde das Gepäck eben mit der nächsten oder übernächsten Fähre, spätestens aber morgen früh hier ankommen.
Was nun, Frau Flieg? Auf dem Bahnhofsvorplatz standen mehrere Menschen vor Bollerwagen und hatten Schilder mit Aufdrucken wie: „Cafe Pudding“, „Haus Ohnesorge“, „Vadda Abraham“ und „Zum Deutschen Haus“ dabei.
Gott sei Dank erkannte ich auch einen Mann, der ein Schild mit der Aufschrift „Seemöwe“ hoch hielt. Er stand vor einem Bollerwagen, hatte eine Zigarette im Mundwinkel hängen und schien seelenruhig auf Gäste zu warten. Mein „Seemöwe“-Abholer war ein Friese von Mensch. 1,92 Meter groß, muskulös, kariös und friesisch herb.
„Na, mein Frollein, zeigen Sie mir doch mal Ihre Reservierungsbestätigung“, sagte er.
Ich erklärte ihm, dass alle meine Unterlagen noch im Gepäck, das noch nicht da war, steckten.
„Datt macht ja nix, geben Sie mir Ihren Gepäckschein, 5 DM und ich bring Ihnen dann alles zur Seemöwe. Sie können schon mal vorgehen. Richtung Café Pudding, dann direkt an der Promenade entlang, rechts, zweite Straße wieder rechts, dann die dritte links, über den Zebrastreifen, dann das fünfte Haus auf der rechten Straßenseite, rechts Südwest 134 Grad Fahrenheit, hähähä, Frollein, wir sehen uns später“, sagte er und spuckte die Zigarettenkippe direkt in den Papierkorb, der am Straßenrand stand.
Wir sahen uns tatsächlich später wieder. Nachdem ich im Hotel angekommen war, schaute ich alle zwei Stunden in den Flur. Und tatsächlich: Mit der letzten Fähre war auch mein Gepäck sicher am Bahnhof angekommen und die Koffer standen vor meiner Zimmertür.
Am nächsten Morgen genoss ich mein Frühstück. Stück für Stück. Es war kurz nach 9.00 Uhr. Müsli, Obst und Orangensaft aus der Glaskaraffe, frisch aus dem Tetrapack umgefüllt, standen, zum sofortigen Verzehr empfohlen, auf dem Tisch. Nach dem Frühstück ging ich zurück auf mein Zimmer.
Die Sonne blinzelte durch die halb heruntergelassenen Jalousien, ich blinzelte zurück und freute mich auf meinen ersten Tag in der Freiheit. Ich bereitete mich auf den Strandgang vor. Mit meinem türkisfarbenen, knappen Bikini, der Armani-Sonnenbrille, Strandmatte und Sonnenöl bewaffnet, ging ich die 125 Meter zu Fuß zum Strand.
Welch ein Anblick. Sand links, Sand rechts, Meer geradeaus. Außer mir waren um diese Uhrzeit nur zehn bis 15 Menschen an diesem Strand. Noch! Denn gegen 11.00 Uhr wurde es merklich lebhafter. Die ersten Familien mit Kindern, Förmchen, Schaufeln und Luftmatratzen engten meinen Strandplatz ein.
Eine Horde pubertierender Jugendlicher setzte sich, ausgestattet mit vier Kisten Bier, drei Radiorekordern und 15 Frisbeescheiben, direkt neben meine Strandmatte.
Ich beschloss, weiter in Richtung Westen zu ziehen. Nach ungefähr vier Kilometern hatte ich es geschafft. Immer weniger Menschen säumten den Strand.
Kein Wunder, denn ein Schild stand plötzlich mitten im Sand: „FKK-Strand – Zutritt nur nackend!“
Ich musste mich entscheiden. Entweder nackend oder Frisbeescheiben und Förmchen am Kopf. Keine Frage.
Ich zog mich aus, begab mich an den äußersten Rand in Richtung der Dünen, cremte mich ein, setzte meine Sonnenbrille auf und fühlte mich rundum wohl.
Nach ein paar Bahnen im aufgewühlten Nordseewasser trocknete ich mich ab, legte mich auf meine Strandmatte und döste ein.
„Entschuldigung“, hörte ich jemanden sagen. Ich blickte auf und sah einen Mann vor mir stehen, der ein Muttermal am Sack hatte.
Ein riesengroßes Muttermal, fast so groß wie sein linker Hoden. Das sagte mir etwas.
Ich konnte es kaum glauben, aber er war es wirklich. Klaus Stuben, meine zweite große Jugendliebe. 1982, nach unserem gemeinsamen Urlaub, hier auf der schönen Insel Wangerooge, hatte ich ihn zum letzten Mal während eines Galamensaessens in der Ruhruniversität zu Bochum getroffen. Danach verloren wir uns irgendwie aus den Augen. Aber dieses Muttermal am Sack; es konnte nur Klaus sein.
„Klaus?“, fragte ich.
„Sylvia?“, fragte er.
Tatsächlich, er war es. Ganz und gar, leibhaftig und nackend, wie auch ich.
Wir plauderten über alte Zeiten, erzählten uns unser Leben, gingen in sein 4-Sterne-Hotel, gingen direkt ins Bett und liebten uns so heftig wie in alten Zeiten in seinem Mini-Cooper.
Es war so, als wäre in all den Jahren dazwischen nichts passiert. Dazwischen, welch ein Wort, ähnlich blöd wie Übergangsmantel oder Verlegenheitslösung. Ja, die deutsche Sprache ist schon ziemlich bescheuert. Schön bescheuert.
Die 14 Tage vergingen wie im Flug. Ich war verliebt, verliebt in einen Jemand, in den ich schon einmal verliebt war, bevor sich alles verflüchtigte.
Wir turtelten wie die Tauben, schnäbelten wie die Spatzen und vögelten wie die Berserker, obwohl wahrscheinlich nur ein Berserker weiß, wie Berserker vögeln.
In Carolinensiel angekommen, stiegen wir in unsere Automobile, nicht, ohne vorher unsere persönlichen Daten wie Name, Straße, Postleitzahl, Ort, Telefonnummer, Handynummer, persönliche URL und E-Mail-Adressen ausgetauscht zu haben.