Klaus Körner (Hrsg.)
Es kommt darauf an, die Welt zu verändern
Ein Karl-Marx-Lesebuch
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
Klaus Körner, Jahrgang 1939, studierte Jura und Politikwissenschaft in Berlin, Bonn und Kiel. Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politische Wissenschaft der Universität Hamburg und ist seit 1976 freier Autor. Mitarbeit an zeitgeschichtlichen Ausstellungen und zahlreiche Veröffentlichungen zur Geschichte politischer Verlage in der Bundesrepublik, mehrere Bücher, u. a.: ›Karl Marx‹ (in der Reihe ›dtv portrait‹); ›»Wir zwei betreiben ein Compagniegeschäft«. Karl Marx und Friedrich Engels – eine außergewöhnliche Freundschaft‹.
Karl Marx (1818-1883) hat ein gewaltiges Werk hinterlassen und damit großen Einfluss auf die Geschichte ausgeübt. Er war unstrittig einer der bedeutendsten Sozialwissenschaftler, Wirtschaftshistoriker und Nationalökonomen des 19. Jahrhunderts und dazu ein brillanter Publizist.
Klaus Körner hat eine vielfältige Auswahl aus dem Werk von Karl Marx zusammengestellt. Die Einleitung und Kommentare zu den Texten liefern die historische Einordnung, erläutern Begriffe und Kernthesen und zeigen Ansatzpunkte der Kritik an Marx. So lädt der Band dazu ein, den Klassiker neu oder wieder zu entdecken.
Über die Reihe
Klassiker neu gelesen: In der Reihe dtv bibliothek erscheinen Werke und Werkauswahlbände von bedeutenden Autorinnen und Autoren, die zu ihrer Zeit und bis in die Gegenwart Maßstäbe gesetzt, viele Leserinnen und Leser bewegt und Einfluss auf das Denken der Menschen genommen haben. Die Bücher sind sorgfältig ediert und ausgestattet. Aktuelle Begleitworte erleichtern den ungezwungenen Zugang zu diesen klassischen Werken der Weltliteratur und des Weltwissens.
© 2018 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
Umschlaggestaltung: David Pearson, London
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eBook-Herstellung im Verlag (01)
eBook ISBN 978-3-423-43405-8 (epub)
ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-28161-4
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ISBN (epub) 9783423434058
Karl Marx, Foto um 1880 (akg-images/Imagno)
Karl Marx war der große Kritiker der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse des 19. Jahrhunderts. Kein Autor dieser Zeit ist im 20. Jahrhundert mehr zitiert worden als Marx, selbst wenn das Interesse an der Lektüre von Marx-Texten in den Universitäten nachgelassen hat. Die Wirtschafts- und Finanzkrisen, Arbeitslosigkeit und Fabrikschließungen in der Gegenwart sprechen für eine unveränderte Aktualität der Kapitalismuskritik von Karl Marx.
In seiner berühmten Grabrede auf den langjährigen Freund erklärte Friedrich Engels, Vertrauter, Förderer, Koautor und Nachlassherausgeber, Karl Marx sei vor allem eines gewesen, Revolutionär. Im direkten Sinne ist dieses Urteil problematisch. Die Zeitungen, die Marx herausgegeben hat, wurden verboten oder aus Geldmangel eingestellt. Die beiden Organisationen, an deren Spitze er gestanden hat, der Bund der Kommunisten und die Internationale Arbeiterassoziation, nahmen ein unrühmliches Ende. Die große proletarische Revolution in Europa, die Marx seit 1850 immer wieder vorhergesagt hat, ist ausgeblieben. Die Oktoberrevolution von 1917 in Russland fand in einem vorwiegend agrarischen Land statt, an der Peripherie des industrialisierten Europas. Diese nach 1945 gleichsam nach Osteuropa exportierte Revolution konnte sich nur so lange halten, wie die Rote Armee ihren Bestand militärisch garantierte. Die von Marx vorhergesagten positiven Wirkungen einer Revolution sind weder in Russland noch in Osteuropa eingetreten.
Marx’ Gegenwart war geprägt von reaktionären Feudalsystemen in Deutschland und miserablen Arbeits- und Lebensbedingungen im frühindustriellen Europa. Die wollte er durch sein Wirken grundlegend verändern, gleichsam durch eine Revolution vom Schreibtisch aus. Dazu hat er ein gewaltiges literarisches Erbe hinterlassen. Es ist nicht einfach, dieses vielgestaltige Schaffen einem bestimmten Wissenschaftsbereich zuzuordnen. Marx war Journalist, Essayist und Buchautor. Er war Philosoph, Historiker, Ökonom und auch Jurist. Die historisch-kritische Edition der Werke von Marx und Engels, die Marx-Engels-Gesamtausgabe, wird einschließlich der Entwürfe und Exzerpte über 120 Bände umfassen. In der Ausgabe der abgeschlossenen Werke ›Karl Marx und Friedrich Engels: Werke‹ füllen die zum Teil gemeinsam mit Engels verfassten Schriften von Marx 27 Bände. Die Wirkung von Marx hat in großem Stil erst nach seinem Tode begonnen. Die aufsteigende europäische Arbeiterbewegung rezipierte seine Texte als optimistische Zukunftsvision, sie sei zur politischen Führung berufen und werde die klassenlose Gesellschaft verwirklichen. Diese Verheißung gab ihr Selbstwertgefühl und Siegeszuversicht. Eine geschlossene Lehre hat Marx allerdings nicht hinterlassen. Das ermöglichte sehr verschiedenen Bewegungen innerhalb der Arbeiterklasse, sich auf Marx zu berufen und seine Ideen in diversen Ableitungen zu präsentieren. Da waren zunächst die Sozialdemokraten und Gewerkschaften in Westeuropa, deren Vorstellungen nach 1890 von revolutionärem Attentismus, der Erwartung einer Revolution, bis zu der Hoffnung auf einen friedlichen Übergang zum Sozialismus reichten. In der Sowjetunion wurde 1917 der Marxismus in Form des Marxismus-Leninismus Staatsideologie. Marx wollte den Staat als Unterdrückungsinstrument der herrschenden Klasse abschaffen, in der Sowjetunion hingegen wurde das gesamte öffentliche Leben, von der Wirtschaftsorganisation bis zur öffentlichen Meinung, staatlich organisiert und überwacht. In der Dritten Welt beriefen sich später revolutionäre Bewegungen wie auf Kuba die Kommunistische Partei unter Fidel Castro auf Marx, obwohl der auf eine Weltrevolution gesetzt hatte und nicht auf den »Sozialismus in einem Land«, wie in der Sowjetunion oder gar auf nur einer Insel.
In der Ära des Kalten Krieges wurde in Westeuropa die Ideologie des Antikommunismus verbreitet, die Marx zum gefährlichen Vorläufer totalitärer Regime abqualifizierte. Die CDU plakatierte 1953 die Parole »Alle Wege des Marxismus führen nach Moskau!« Das war eine ins Negative verdrehte Anleihe aus der Festansprache zum 70. Geburtstag des Sowjetführers Josef Stalin 1949. Gleichwohl entschied sich der liberale Bundespräsident Theodor Heuss dafür, in das von ihm mitherausgegebene repräsentative Werk ›Die großen Deutschen‹ Karl Marx aufzunehmen. Nach dem Zusammenbruch des russischen Sowjetsystems und dem Ende des Kalten Krieges 1989/90 ist ein nun unbefangener Blick auf das Werk von Karl Marx möglich geworden.
Marx’ Schriften lassen sich grob einteilen in sein journalistisches und essayistisches Werk und in sein ökonomisches Werk, das vor allem aus den drei Bänden ›Das Kapital‹ besteht. Seine aus aktuellem Anlass geschriebenen Aufsätze und Abhandlungen sind journalistische Glanzleistungen von seltener Wucht. Auch heute noch beeindrucken die klare Analyse und brillante Sprache. Marx war ein Polemiker von hohen Graden. Ein Zeitgenosse schrieb über ihn: »Er verbindet mit dem tiefsten philosophischen Ernst den schneidenden Witz; denke Dir Rousseau, Voltaire, Holbach, Lessing, Heine und Hegel in einer Person vereinigt, so hast Du Dr. Marx.«
Die längste Zeit hat Karl Marx an seinem Hauptwerk ›Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie‹ gearbeitet, von dem zu seinen Lebzeiten nur der erste Band erschien, die beiden Folgebände wurden von Friedrich Engels aus dem Nachlass herausgegeben.
Seine Grundkonzeption, den historischen Materialismus, hat Marx in der gemeinsam mit Friedrich Engels geschriebenen, unvollendet gebliebenen Schrift von 1845 ›Die Deutsche Ideologie‹ und im Vorwort zur ›Kritik der politischen Ideologie‹ von 1859 dargestellt. Danach ist es nicht das Bewusstsein, das das Sein der Menschen bestimmt, sondern umgekehrt ihr Sein bestimmt ihr Bewusstsein. Während ihres Lebens gehen die Menschen in der gesellschaftlichen Produktion bestimmte, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse. Über diese erhebt sich ein juristischer und politischer Überbau. Die Produktionsverhältnisse entsprechen einer bestimmten Entwicklungsstufe der materiellen Produktivkräfte. Die bürgerliche Gesellschaft bildet gleichsam die Brücke zwischen der ökonomischen Basis und dem politischen Überbau. Mit der Veränderung der ökonomischen Basis gerät auch der Überbau ins Wanken. Werden die Produktionsverhältnisse zur Fessel der Produktivkräfte, dann tritt eine Epoche der sozialen Revolution ein, der ganze Überbau wird umgewälzt. Marx versichert dazu, dass eine Gesellschaftsformation nie untergehe, bevor alle Produktivkräfte entwickelt seien, für die sie weit genug sei. Neue, höhere Produktionsverhältnisse träten nie an die Stelle der alten, bevor nicht die materiellen Existenzbedingungen im Schoß der alten Gesellschaft ausgebrütet worden seien.
Marx wollte mit seiner Analyse des Kapitalismus nachweisen, dass die bürgerliche Gesellschaftsformation, die sich in Deutschland gerade erst aus dem Feudalismus entwickelte, zum Untergang verurteilt sei. Dafür reichte ihm die moralische Verurteilung von Massenarmut, Elend und Ausbeutung, die er im England der 1850er- und 1860er-Jahre unmittelbar beobachten konnte, nicht aus. Er wollte den wissenschaftlichen Nachweis durch das Studium der gesamten wissenschaftlichen Literatur seiner Zeit sowie der Materialien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte vorangegangener Epochen erbringen. Damit hat er sich an seine frühere Parole gehalten, es gebe keine Wissenschaft außer der Geschichte. Und sein Leitgedanke war der Satz von René Descartes: »De omnibus dubitandum est«, an allem ist zu zweifeln. So hat er immer neue Anläufe unternommen, um ein wissenschaftliches Werk zu schaffen, das seine Thesen umfassend beweisen sollte. Schließlich erschien 1867 der erste Band des ›Kapitals‹ in Hamburg.
Marx beginnt mit einem theoretischen Abschnitt, in dem er einen Eckstein seiner Theorie erläutert, die sogenannte Arbeitswertlehre. Mit den Klassikern der ökonomischen Theorie geht auch er davon aus, dass Waren einen Doppelcharakter haben, einerseits einen Gebrauchswert und dazu einen Tauschwert. Der Tauschwert ist mit der auf die Herstellung der Ware verwendeten Arbeitszeit verbunden. Während Ricardo den Arbeitsaufwand als Maß für den Tauschwert betrachtet, sieht Marx die Arbeit als Quelle des Wertes. Wert ist »geronnene menschliche Arbeit«. Mag die im Einzelfall verwendete Arbeit unterschiedlich hoch sein, so ist der Wert doch an der gesellschaftlich notwendigen Arbeit zur Herstellung der Ware zu messen, und zwar in Zeit. Im Kapitalismus wird alles zur Ware einschließlich der Arbeitskraft. Sein Antrieb ist das Profitstreben der Kapitalisten und nicht die Bedarfsdeckung. Während ursprünglich die Produzenten, Bauern und Handwerker, noch ihre eigenen Produktionsmittel besaßen, hat sich der Kapitalist im Lauf der Entwicklung (»ursprüngliche Akkumulation«) die Produktionsmittel angeeignet und die anderen zu Lohnarbeitern gemacht. Der Lohnarbeiter verkauft seine »Ware« auf dem Arbeitsmarkt, die Arbeitskraft. Der Wert der Arbeitskraft bemisst sich nach der zu ihrer Herstellung notwendigen Arbeitszeit. Da sie untrennbar verbunden ist mit der Reproduktion des Arbeiters, fällt der Wert zusammen mit dem der für die Erhaltung, Ausbildung, Fortpflanzung notwendigen Lebensmittel. Der Arbeiter bleibt also auf das Existenzminimum beschränkt.
Nun ist aber der Gebrauchswert der Arbeitskraft höher als ihr Tauschwert. Wenn das Produkt eine Arbeitszeit von zehn Stunden erfordert, der Kapitalist aber entsprechend dem Tauschwert nur fünf Stunden an den Arbeiter als Lohn bezahlt, dann eignet er sich den »Mehrwert« an. Die Produktionsmittel setzen dem Produkt neben der Arbeit keinen neuen Wert zu, sondern geben nur ihren Wert an das Produkt ab. Das in Produktionsmitteln angelegte Kapital wird von Marx als konstantes Kapital bezeichnet, im Gegensatz zu dem in Löhnen angelegten variablen Kapital. Das Verhältnis von konstantem und variablem Kapital bezeichnet er als die organische Zusammensetzung des Kapitals. Der Kapitalist bemüht sich stets, einen höheren Mehrwert aus seinem Arbeiter herauszupressen, entweder durch Verlängerung der Arbeitszeit oder durch Steigerung der Produktivität. Sinkt deshalb der Lohn oder droht die Entlassung, dann wird der Arbeiter sogar Opfer seines »Erfolges«. Die Konkurrenz unter den Betrieben fördert den Druck zur Erhöhung der organischen Zusammensetzung des Kapitals, zum Einsatz neuer arbeitssparender Maschinen. Der stärkere Kapitalist wird die schwächeren Kapitalisten niederkonkurrieren, Konzentration und Zentralisation der Kapitale sind die Folge.
Weitere Folgen sind die Tendenz zum allgemeinen »Fall der Profitrate« und die Bildung einer »industriellen Reserve-armee«. Marx geht es dabei nicht um den einzelnen Arbeiter oder den einzelnen Kapitalisten, sondern um die Beziehung zwischen Klassen. Wirtschaft hat es nicht mit Beziehungen von Dingen zu tun, die kühlen ewigen Sachgesetzen folgen, sondern mit zeitbedingten Beziehungen zwischen Menschen. Der Widerspruch zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion und dem privaten der Aneignung löst periodisch Krisen aus. Diese Entwicklung führt dann zu einer zunehmenden Verelendung der Proletarier (»Verelendungstheorie«). Mag auch im Zuge der Entwicklung das absolute Lohnniveau steigen, der Profit des Kapitalisten steigt unverhältnismäßig stärker an (»relative Verelendung«). Die Gegensätze führen zur Polarisierung zwischen einer kleinen Zahl parasitärer Kapitalisten und der Mehrheit der protestierenden Proletarier, die dann die Revolution unvermeidbar machen.
Den theoretischen-analytischen Teilen folgen mehr historisch-deskriptive, etwa wenn Marx im 13. Kapitel Maschinerie und große Industrie oder im 23. Kapitel das allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation abhandelt. Hier wird dem Leser eine Pionierdarstellung der Wirtschafts- und Sozialgeschichte des 19. Jahrhunderts geboten. Marx ist Wissenschaftler, aber sein Erkenntnisinteresse ist die Änderung der Lebensverhältnisse des Proletariats. Seine Geschichtsschreibung ist daher jeweils durchsetzt mit der moralischen Verurteilung der unmenschlichen Folgen der kapitalistischen Produktionsweise, die er allerdings als notwendig für die Entfaltung der Produktivkräfte hält. Das apokalyptische 24. Kapitel endet mit der Verkündung des Umsturzes der Verhältnisse.
In Band II und Band III wird geschildert, was außerhalb der Fabrik geschieht, die Entwicklung von Geldkapital und Bankkapital, der Kreislauf von Handel, Profit und Reinvestition. Der Hamburger Wirtschaftsprofessor Karl Schiller pflegte Marx deshalb in seinen Vorlesungen in die Reihe der Kreislauftheoretiker einzureihen. Band III hat schon wegen seines unfertigen Zustandes den Charakter eines Materialbandes. Die Frage nach dem Verhältnis von Wertgesetz, Angebot und Nachfrage sowie Marktpreis bleibt etwas in der Schwebe: »In welcher Weise immer die Preise der verschiedenen Waren zuerst gegeneinander festgesetzt oder geregelt sein mögen, das Wertgesetz beherrscht ihre Bewegung.« Schließlich ging es Marx zuerst darum, nachzuweisen, wie sich die eine Klasse der Kapitalisten den von der anderen Klasse der Proletarier geschaffenen Mehrwert aneignet. Marx spricht den Klassen zentrale Bedeutung zu, und in seinen Exzerpten unterscheidet er zwischen produktiven und unproduktiven Klassen. Er spricht die Frage des Klassenbewusstseins an, die »Klasse an sich« und die »Klasse für sich«. Dennoch bleibt die genaue Definition aus, das letzte, das 52. Kapitel des III. Bandes »Die Klassen« bricht nach einer Seite ab.
Der vorgesehene Band IV über die Geschichte der ökonomischen Lehrmeinungen ist noch stärker Materialsammlung. Eigentlich »lag« Marx das Exzerpieren und Kommentieren mehr als das Schreiben von eigenen Theorie-Kapiteln. Ursprünglich wollte er die Zitate in den vorangegangenen Text einbauen, bevor er seinen Plan änderte, um daraus einen IV. Band zu machen. Die exzerpierte Literatur weist Marx als einen wahrhaften Bücherfresser aus. Viele der zitierten Autoren wären längst der Vergessenheit anheimgefallen, hätte Marx sie nicht bemüht. Seine lebendigen Kommentare weisen ihn zudem als großen Polemiker, aber auch Liebhaber etwas abseitiger Themen aus.
Mit dem ›Kapital‹ hat Marx ein wissenschaftlich fundiertes Schreckbild des Frühkapitalismus im viktorianischen England des 19. Jahrhunderts gezeichnet wie kein anderer. Es ist aber auch ein Werk voller Ironie, paradoxer Beispiele, moralischer Urteile, literarischer Zitate oder einfach Albernheiten. Die Details, die er schildert, und die Metaphern, die er verwendet, etwa wenn er den Kapitalismus als vampirmäßiges Aufsaugen von Menschenblut anprangert, haben Francis Wheen, einen seiner Biografen, zu der These veranlasst, Marx habe das ›Kapital‹ als eine Art »Frankenstein« schildern wollen, die Monsterfigur in Mary Shelley-Wollstonecrafts Roman. Von manchen wird gerade die Vielschichtigkeit des Werks gelobt und mit dem ergänzenden Hinweis versehen, es sei bisher noch lange nicht ausgeschöpft. Andere verweisen darauf, dass Marx die kapitalistischen Produktionsweisen anhand vereinfachter Formen dargestellt habe. Diese Formen und das dazugehörige Begriffsinstrumentarium seien zwar nicht zu widerlegen, könnten aber keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben. Schließlich kann jeder nur in seiner Zeit über die Vergangenheit und Zukunft nachdenken, indem er aus dem vorhandenen Material das Bild seiner Epoche entwirft.
Die Angriffe der Marx-Kritiker gehen in zwei Richtungen: falsche Prognosen und unsaubere Begriffsarbeit. So wird ihm vorgehalten, dass seine Vorhersage der Verelendung nicht eingetroffen sei. Schlagende Beweise seien ein seit Ende des 19. Jahrhunderts steigendes Lohnniveau der Arbeiter und umfangreiche Leistungen des Staates für die sozial Schwachen. Die nachgeschobenen Argumente, Marx habe im materiellen Bereich nur eine »relative Verelendung« angenommen und außerdem auch die psychische Verelendung durch menschenunwürdige Arbeitsbedingungen angesprochen, könnten nicht zählen. Auch die Vorhersage von einer Polarisierung von Lohnarbeitern und Kapitalisten stimme nicht. Der sogenannte tertiäre Sektor der Dienstleistungen werde von ihm nicht gesehen, und die leitenden Angestellten ließen sich schon wegen ihrer Stellung im Betrieb und ihres Bewusstseins nicht als einfache Lohnabhängige erfassen. Das Klassenbewusstsein der Arbeiter habe eher ab- als zugenommen. Den Einfluss des Nationalismus und Rassismus, die zu den großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts geführt hätten, habe Marx nicht richtig eingeschätzt. Die Rolle des Staates habe er nur negativ gesehen, tatsächlich hätten die Arbeiter durch ihr Stimmrecht Arbeitsschutz- und Sozialgesetze sowie wirtschaftsregulierende Interventionen erreicht. Besonders beanstandet wird Marx’ Arbeitswerttheorie, obwohl sie nicht von ihm entwickelt wurde, sondern die seit dem späten Mittelalter bis zum Ende des 19. Jahrhunderts herrschende Lehre war. Die Marx’sche Unterscheidung zwischen ökonomischer Basis und dem Überbau sei nicht klar getroffen, wo rangiere etwa die Wissenschaft, insbesondere die Naturwissenschaft? Die natürliche Harmonie der Interessen, von der die Philosophen des 18. und die liberalen Ökonomen des 19. Jahrhunderts gesprochen hätten, sei zwar eine Kapitalismus-Apologie, aber der Klassenkampf sei keineswegs zwangsläufig, es gebe ebenso Zusammenarbeit zwischen den Klassen, dafür sei das Wirken der Gewerkschaftsbewegung ein Beispiel. Die Sozialistin Rosa Luxemburg kritisierte Stil und Aufbau des ›Kapitals‹. 1917 schrieb sie an einen Freund, ihr sei der vielgerühmte erste Band des Marx’schen ›Kapitals‹ mit seiner Überladung an Rokoko-Ornamenten im hegelschen Stil ein Gräuel. Entgegen Marx’ Vorhersage ist die sozialistische Revolution nicht »gesetzmäßig« in den industriell fortgeschrittensten Ländern Westeuropas ausgebrochen, sondern eher zufällig im rückständigen Russland und nach 1945 in Osteuropa kraft militärischer Eroberung, obwohl Marx den »Export von Revolution« nicht befürwortet hatte. Die heutige Volkswirtschaftslehre beruht auf der Grenznutzentheorie, einer subjektiven Wertlehre, und verwirft die Marx’sche objektive Wertlehre. Es habe sich auch als verhängnisvoll erwiesen, dass die sozialistischen Systeme in Marx’ Gefolge die Bedeutung von Angebot und Nachfrage sowie den Beitrag des Kapitals zur Wertschöpfung nicht erkannt hätten. Tatsächlich arbeiten spätere Vertreter einer marxistischen Wirtschaftstheorie nur noch in abgeleiteter Form mit Marx’ Kategorien. Die Kritik an Marx verliert an Gewicht, wenn man nicht krampfhaft versucht, die Richtigkeit seiner Modelle zu beweisen, sondern Marx als großen Analytiker seiner Zeit begreift. In seiner großen Marx-Biografie vertritt der amerikanische Historiker Jonathan Sperber die These, Marx sei nur als bedeutender Vertreter des 19. Jahrhunderts zu verstehen und zu würdigen, wenn man beachte, dass seine Anschauungen rückwärtsgewandt durch die Revolutionen von 1789, 1830 und 1848 geprägt worden seien.
Karl Heinrich Marx wurde am 5. Mai 1818 als Sohn des Advokaten Heinrich Marx und seiner Ehefrau Henriette, geb. Presburg, in Trier geboren. Beide Eltern stammten aus rabbinischen Familien. Die Herkunft aus dem Judentum und dem Rheinland machten den Sohn fast automatisch zum Gegner Preußens und Bewunderer Frankreichs. Im Zuge der napoleonischen Eroberungen war das Rheinland französisch geworden und hatte ein modernes Rechtssystem erhalten. Die Franzosen hatten die Emanzipation der Juden durchgesetzt, und nur so konnte Heinrich Marx Jura studieren und Rechtsanwalt werden. Der preußische Staat hatte sich gemäß den Beschlüssen des Wiener Kongresses 1815 das Rheinland einverleibt und verfolgte eine reaktionäre Politik. Dazu gehörte eine erneute Diskriminierung der Juden. Um seinen Beruf nicht aufgeben zu müssen, war Heinrich Marx 1817 zum Protestantismus konvertiert, Sohn Karl wurde im Alter von sechs Jahren getauft.
Nach dem Abitur 1835 studierte er in Bonn und Berlin Rechtswissenschaft. In Berlin geriet er unter den Einfluss der Junghegelianer und verlegte das Schwergewicht seines Studiums auf das Fach Philosophie. Aus der Studentenzeit stammt Marx’ Bewunderung für Hegel und die unbedingte Kritik an der Religion. Er promovierte 1841 in Jena mit der Arbeit ›Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie im allgemeinen‹ und hoffte auf eine Universitätslaufbahn. Die zunehmend reaktionäre Hochschulpolitik in Preußen zerstörte diesen Plan. Dafür bot sich die Möglichkeit, politischer Redakteur der 1842 in Köln gegründeten linksliberalen demokratischen ›Rheinischen Zeitung‹ zu werden. Sucht man eine Berufsbezeichnung für Marx, dann trifft die Bezeichnung Journalist neben Philosoph, Soziologe, Ökonom oder Revolutionär auf jeden Fall zu. Mehr als 500 journalistische Beiträge von ihm sind überliefert. Man liest sie auch heute noch mit Gewinn wegen ihrer klaren Sprache, bestechenden Argumentation, ihrem polemischen Gehalt und dem Fehlen jeglicher Schwülstigkeiten und Phrasenhaftigkeit. Die ›Rheinische Zeitung‹ wurde vom preußischen Staat wegen ihrer kritischen Berichte im Frühjahr 1843 verboten.
Marx heiratete seine Jugendliebe Jenny von Westphalen und ging mit ihr nach Paris. Dort wollte er mit Arnold Ruge, dessen ›Deutsche Jahrbücher‹ in Preußen ebenfalls verboten waren, die ›Deutsch-Französischen Jahrbücher‹ herausgeben. Doch das Unternehmen kam über ein Doppelheft, das in Preußen wiederum verboten wurde, nicht hinaus. In Paris lernte Marx den Fabrikantensohn Friedrich Engels kennen, dem er in Köln nur flüchtig begegnet war. Daraus erwuchs eine lebenslange Freundschaft. Engels wurde ein fast kongenialer Mitstreiter für die Sache des Sozialismus und der große Finanzier für Marx. In Paris kam Marx auch in Kontakt mit kommunistischen Arbeitern, er studierte eifrig die Schriften der sogenannten utopischen Sozialisten, die aus meist philanthropischen Gründen die bestehenden wirtschaftlichen Verhältnisse kritisierten und Zukunftsmodelle entwarfen. Unter dem Einfluss von Engels las Marx jetzt auch die klassischen Autoren der politischen Ökonomie wie Adam Smith und David Ricardo. Mit der Geschichte der Französischen Revolution hatte er sich schon vor der Abreise nach Paris gründlich beschäftigt. Als Student hatte Marx romantische Gedichte geschrieben, jetzt lernte er den von ihm geschätzten Dichter Heinrich Heine auch persönlich kennen. Aus der Verbindung von deutscher Philosophie, französischem Sozialismus und britischer Nationalökonomie entwickelte Marx seine umfassende Kritik der bürgerlichen Gesellschaft. Im Licht der neuen Erkenntnisse erschienen die Thesen seiner früheren philosophischen Mitstreiter fragwürdig. Mit ihnen rechnete er in dem gemeinsam mit Friedrich Engels verfassten Buch ›Die heilige Familie‹ ab.
Erst Jahrzehnte später wurden im Nachlass die ›Ökonomisch-philosophischen Manuskripte‹ aus dem Jahr 1844 entdeckt, die den ersten Vorentwurf zum ›Kapital‹ von 1867 darstellen.
Wegen seiner politischen Agitation wurde Marx 1845 auf Verlangen Preußens aus Frankreich ausgewiesen und siedelte nach Brüssel über. In Brüssel entstand der konkrete Plan für ein zweibändiges Werk zur politischen Ökonomie, das aber so nie erschienen ist. Doch die Umrisse seines späteren Großwerks sind bereits in einer Vortragsfolge über ›Lohnarbeit und Kapital‹ vor dem Deutschen Arbeiterverein erkennbar, die 1849 in der ›Neuen Rheinischen Zeitung‹ abgedruckt wurde. Wichtiger als die Arbeit an dem nationalökonomischen Buch schien Marx, sich mit Gegnern auf dem Gebiet der Theorie auseinanderzusetzen. Gegen den französischen Sozialisten Pierre Proudhon (›Die Philosophie des Elends‹) polemisierte er mit der Schrift ›Das Elend der Philosophie‹. Gemeinsam mit Engels verfasste er noch ein polemisches Werk gegen die politische Philosophie in Deutschland, ›Die deutsche Ideologie‹, ein Werk, für das sich damals kein Verleger fand. Die Passagen über Ludwig Feuerbach enthalten die klarste Zusammenfassung seiner später als »Historischer Materialismus« bezeichneten Geschichtstheorie. Eine Vorstudie dazu sind die in Marx’ Notizbuch festgehaltenen ›Thesen über Feuerbach‹ aus dem Jahre 1845, die allerdings erst posthum von Engels im Jahre 1888 in redigierter Form veröffentlicht wurden. Marx betrachtet den Menschen als praktisches Wesen, das seine Welt durch Arbeit gestaltet. Die Veränderung der bürgerlichen Gesellschaft ist also nicht nur Sache der theoretischen Erkenntnis, sondern vor allem der revolutionären Praxis.
In Brüssel wagte Marx auch den ersten Schritt in die Politik. Mit seinen Freunden Friedrich Engels und Philippe Gigot gründete er im Mai 1846 das Kommunistische Korrespondenz-Komitee, das den Informationsaustausch zwischen den europäischen Sozialisten und Kommunisten voranbringen sollte. Der zweite Schritt war der Beitritt zum Bund der Gerechten in London, der sich ab 1847 Bund der Kommunisten nannte. Das Brüsseler Komitee wurde dann einfach Teil des Bundes. Marx steuerte auch eine Reihe engagierter Artikel zur ›Deutschen-Brüsseler-Zeitung‹ bei. Um der Überwachung und Verfolgung durch den preußischen Staat zu entgehen, hatte Marx Ende 1845 auf seine preußische Staatsbürgerschaft verzichtet. Umsonst, denn auch in Brüssel hatte die preußische Geheimpolizei ein waches Auge auf seine Aktivitäten. Auch die belgische Regierung fürchtete, er könne eine Revolution im Lande auslösen. Anfang März 1848 wurde Marx aus Belgien ausgewiesen und fand Zuflucht im revolutionären Paris. Die letzte Arbeit, die er in Brüssel Anfang 1848 schrieb, ist sein bekanntestes und meistgedrucktes Werk, das im März in London veröffentlichte ›Kommunistische Manifest‹. In der Rückschau auf Marx’ Werk stellt es den Wendepunkt zwischen den noch stark philosophisch-spekulativen Frühschriften und dem Hauptwerk dar.
Erster Erfolg der Revolution vom März 1848 war die Herstellung der Pressefreiheit im Deutschen Bund. Marx kehrte an seinen alten Wirkungsort Köln zurück und wurde Chefredakteur der ›Neuen Rheinischen Zeitung‹. Das Blatt nannte sich im Untertitel »Organ der Demokratie«, denn Marx war der Auffassung, erst müsse die bürgerliche Demokratie über den Feudalismus siegen, bevor an eine Revolution des Proletariats zu denken sei. Den Bund der Kommunisten ließ er ruhen und engagierte sich im Kölner Arbeiterverein, dessen Präsident er auch zeitweilig war. Als Journalist kritisierte Marx heftig die Halbheiten und Schwächen des Bürgertums, das es nicht fertigbrachte, das reaktionäre politische System in Deutschland zu überwinden. Sein Antrag auf Wiederherstellung seiner preußischen Staatsbürgerschaft wurde abgelehnt, und schließlich wurde er als unerwünschter Ausländer des Landes verwiesen. Damit war auch die ›Neue Rheinische Zeitung‹ am Ende. Einziger Zufluchtsort für politische Flüchtlinge aus Kontinentaleuropa war England. Dorthin setzte sich Marx mit seiner Familie ab. Seine Hoffnung auf ein baldiges Wiederaufleben der Revolution auf dem Kontinent erfüllte sich nicht, und den Glauben an den Erfolg von revolutionärem Aktivismus einer Minderheit hatte er verloren. Den zunächst reaktivierten Bund der Kommunisten löste er auf. Marx wollte, salopp gesprochen, Revolution vom Schreibtisch aus machen. Er wollte das kapitalistische System wissenschaftlich analysieren, ein grundlegendes Werk zur Kritik der politischen Ökonomie schreiben. Als Hegel-Schüler ging er davon aus, dass ein gleichsam voll entwickeltes System, das sich analysieren lässt, dem Untergang nahe sei. In den folgenden Jahrzehnten verbrachte er die meiste Zeit des Tages an seinem Dauerleseplatz im Britischen Museum, um dort die gesamte volkswirtschaftliche Literatur zu studieren. Neuartig war, dass er das gesamte zugängliche Faktenmaterial studierte, etwa Statistiken und die Blaubücher der Fabrikinspektoren über die Arbeitsbedingungen in England. Diese Fabrikinspektoren waren für ihn die positiven Helden.
Marx und seine Familie lebten in London in prekären Verhältnissen. Anfangs hatte er keinerlei Einkünfte. Die Lage veränderte sich, als Engels 1850 beschloss, in die väterliche Firma Ermen und Engels in Manchester einzutreten. So konnte er seinem Freund regelmäßig Geldbeträge zukommen lassen und später sogar eine Rente aussetzen. In einem Brief an Engels aus dem Jahr 1865, in dem er wieder einmal dringend um Geld bat, schrieb Marx: »Der einzige Gedanke, der mich dabei aufrecht hält, ist der, dass wir zwei ein Compagniegeschäft treiben, wo ich meine Zeit für den theoretischen und Parteiteil des business gebe.« In dem etwa 1300 Briefe umfassenden Briefwechsel zwischen Marx und Engels werden zahlreiche politische und theoretische Fragen erörtert, aber auch Alltagsprobleme. Marx kennzeichnete eine seit seiner Studienzeit bestehende Unbekümmertheit im Umgang mit Geld. Er gab mehr aus, als er eigentlich zur Verfügung hatte, um nach außen den Anschein bürgerlicher Wohlsituiertheit zu erzeugen. Anfangs leistete er sich sogar einen Sekretär, bis seine Ehefrau Jenny diese Aufgabe übernahm.
Um überhaupt Geld zu verdienen, übernahm Marx im Herbst 1851 die Rolle des England- und später des Europa-Korrespondenten der liberalen Tageszeitung ›New-York Daily Tribune‹, der damals größten Tageszeitung der Welt. Die mit großer Sachkunde geschriebenen Beiträge entrollen ein Panorama der politischen Verhältnisse in England und dem übrigen Europa, das nicht deutschlandzentriert ist. 1861 bot sich eine Möglichkeit zur Rückkehr nach Berlin, um eine neue Zeitung zu gestalten. Der ambitionierte Selfmademan Ferdinand Lassalle wollte eine politische Karriere als Arbeiterführer starten und sich dabei der Mitarbeit der politischen Gefährten aus der 48er-Zeit, Marx und Engels, versichern. Marx hatte erhebliche Vorbehalte gegen die Person Lassalle und dessen theoretische Ansichten, sodass er ablehnte. Herabsetzende bis antisemitische Passagen über Lassalle in Marx’ Briefen an Engels lassen es unwahrscheinlich erscheinen, dass eine Zusammenarbeit zwischen ihnen möglich gewesen wäre. Der Vermittlung von Lassalle verdankt Marx, dass die erste Vorstudie zu seinem Hauptwerk ›Das Kapital‹ 1859 unter dem Titel ›Zur Kritik der Politischen Ökonomie‹ in Berlin erscheinen konnte. Erst 1939/41 wurden die aus der Zeit von 1857/58 herrührenden ›Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie‹, Marx’ genialischer, 1100 Seiten umfassender Vorentwurf zu seinem Hauptwerk, veröffentlicht. Alles, was Marx später entwickelt, ist in diesem Werk angelegt. Das ›Kapital‹ sollte danach nur den ersten Teil eines auf sechs Bände angelegten Publikationsvorhabens bilden, die Folgebände sollten das Grundeigentum, die Lohnarbeit, den Staat, den internationalen Handel und den Weltmarkt abhandeln.
1867 erschien endlich im Verlag von Otto Meissner in Hamburg der Band ›Das Kapital. Kritik der politischen Oekonomie. Erster Band, Buch I: Der Produktionsprocess des Kapitals‹. Der zweite Band mit dem Untertitel ›Zirkulationsprocess des Kapitals‹ wurde 1885 von Friedrich Engels aus dem Nachlass herausgegeben, der dritte ›Gesamtprocess der kapitalistischen Produktion‹ erst 1894. Engels musste das nur in Rohform vorhandene Manuskript durch Übersetzung der teilweise auf Englisch geschriebenen Passagen, durch Einbau von Passagen, die sich im Nachlass befanden oder nur als Anmerkungen vorhanden waren, ergänzen oder durch Überleitungssätze oder im Marx’schen Geist gehaltene Schlussfolgerungen zu einem geschlossenen Werk zusammenfügen. Der geplante vierte Band des ›Kapitals‹ mit dem Titel ›Theorien über den Mehrwert‹, eine Zusammenstellung von volkswirtschaftlichen Lehrmeinungen mit Marx’ Kommentaren, kam in einer wissenschaftlich korrekten Form sogar erst 1956 heraus.
Marx sah sich aus zwei unterschiedlichen Gründen daran gehindert, sein Vorhaben selbst zu vollenden: das Wiedererstarken der Arbeiterbewegung und sein schlechter Gesundheitszustand. In Frankreich, Italien, Deutschland und England erwachte die nach 1848 durch die reaktionären Mächte niedergeworfene Arbeiterbewegung zu neuer Kraft in Form von Gewerkschaften und sozialistischen Parteien. 1864 wurde die Internationale Arbeiterassoziation mit dem Sitz der Zentrale, des Generalrats, in London gegründet. Das war ein lockerer Zusammenschluss von Parteien, Gewerkschaften und Einzelpersonen sehr unterschiedlicher Anschauungen. Marx gehörte dem Generalrat nur als korrespondierender Sekretär für Deutschland an, wurde aber zum geistigen Führer. Als sich die Internationale 1871 mit der Pariser Kommune solidarisierte, wurde der Kommune-Aufstand als Werk der Internationalen mit Marx als dem »roten Terroristendoktor« an der Spitze angeprangert. Marx war mit einem Schlage eine europaweit bekannte Figur geworden. Um eine Machtübernahme in der Internationalen durch die Anarchisten zu verhindern, setzte Marx auf dem Jahreskongress 1872 die Verlegung der Zentrale nach New York durch. Das wirkte wie eine Auflösung. Schon in den Sechzigerjahren hatten sich gesundheitliche Störungen bemerkbar gemacht, die, wie Engels später schrieb, Marx an der Vollendung der Bände II und III des ›Kapitals‹ hinderten. Die letzten Passagen von Band I konnte er nur stehend schreiben, weil er überall an seinem Körper Karbunkel hatte und nicht sitzen konnte. Engels diagnostizierte in den letzten Kapiteln ein »etwas gedrücktes Karbunkelgepräge«. Marx rechtfertigte den düsteren Ton: »Jedenfalls hoffe ich, dass die Bourgeoisie ihr ganzes Leben lang an meine Karbunkel denken wird.« In den Siebzigerjahren machten sich bei Marx weitere Krankheiten und der Alterungsprozess bemerkbar. Eine korrekte medizinische Diagnose ist nie erstellt worden. Marx lebte zurückgezogen in London als angesehener Privatier, der nur zu bestimmten Zeiten ausgewählte Besucher empfing. Wie gering sein Einfluss auf die Entwicklung der Sozialdemokraten in Deutschland war, zeigt der Umstand, dass seine ›Kritik des Gothaer Programms‹ der aus dem Zusammenschluss des 1863 von Ferdinand Lassalle gegründeten Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins und der von Wilhelm Liebknecht 1869 in Eisenach gegründeten Sozialdemokratischen Arbeiterpartei hervorgegangenen vereinigten Partei von 1875 nur im engeren Vorstand kursierte. Erst 16 Jahre später konnte Engels den Text in einer leicht gereinigten Fassung veröffentlichen. Als seine Frau Jenny 1881 nach langer Krankheit starb, war Marx ein gebrochener Mann. Er starb am 14. März 1883 in London.
Jede Auswahl aus einem so umfangreichen Werk, wie es Marx hinterlassen hat, muss bruchstückhaft bleiben und beruht auf den Vorlieben und dem Verständnis des Herausgebers. Ziel der Zusammenstellung ist es, Leser ohne einschlägige Vorkenntnisse mit Marx’ Schaffen bekannt zu machen und sie zu weiterem Studium der Originaltexte zu motivieren. Für eine solche Auswahl gibt es zwei Wege. Entweder sucht man große Hauptgruppen, etwa Philosophie, Geschichte, Politik und Ökonomie, oder man geht chronologisch vor. Der zweite und hier gewählte Weg hat den Vorteil, dem Leser einen Längsschnitt durch das Werk zu bieten und bei der Auswahl die Breite der Themen und Textsorten berücksichtigen zu können. In Schulungsheften zur Einführung in Marx’ Werk war es üblich, die wesentlichen Aussagen im Begleittext in einfacher Form zu treffen und dann mit knappen Marx-Zitaten zu belegen. Es scheint besser, überschaubare, aussagekräftige Texte auszuwählen und in einigen Fällen zu kürzen. Dass das ›Kapital‹ dabei mit nur einem Auszug zu kurz kommt, ist ein nicht vermeidbares Ergebnis dieses Vorgehens. Die Erläuterungen vor den Texten sollen den Zusammenhang erklären. Die Bibliografie am Ende gibt dem Leser Hinweise auf weiterführende Literatur. Es ist das Bestreben, dem Leser einen Vorgeschmack von dem Original zu vermitteln, sowohl von den Elementen seiner Theorie als von der Verve seiner Polemik und dem revolutionären Elan seiner Argumentation. Für keinen Autor gilt der Werbespruch mehr als für Marx: »Für das Original gibt es keinen Ersatz.«
(1842)
Marx war ein unbedingter Anhänger der Pressefreiheit. Er nahm später für sich in Anspruch, durch seine Arbeit für die ›Rheinische Zeitung‹ 1842/43 die Zensur in Preußen unmöglich gemacht zu haben. Sein erster Beitrag für die ›Deutschen Jahrbücher‹ war ein brillanter Angriff auf die neue preußische Zensurinstruktion. Der Aufsatz wurde prompt von der Zensur verboten. In seinem ersten Beitrag für die ›Rheinische Zeitung‹ lieferte Marx eine Kostprobe davon, wie er sich Journalismus unter den Bedingungen der Zensur vorstellte, leicht verständlich, flott, polemisch, streng beim Thema und nie frontal gegen den Staat. Mit Zitaten klassischer deutscher und fremdsprachiger Dichter spitzte er seine Argumentation zu oder lockerte einfach seinen Text auf. Der Bericht über die Verhandlungen des Landtages beginnt mit einer launigen Kritik an der regierungsamtlichen ›Preußischen Staatszeitung‹, die gerade ihre Selbstbekenntnisse veröffentlicht hatte. Am Ende der Artikelfolge attackiert Marx dann aber doch den schwächlichen Liberalismus und die politische Ohnmacht des Landtages.
Die Preßfreiheit macht so wenig die »wandelbaren Zustände«, als das Fernglas des Astronomen die rastlose Bewegung des Weltsystems macht. Böse Astronomie! Was war das für eine schöne Zeit, als die Erde noch, wie ein ehrbarer bürgerlicher Mann, in der Mitte der Welt saß, ruhig ihre irdene Pfeife schmauchte und nicht einmal ihr Licht sich selber anzustecken brauchte, da Sonne, Mond und Sterne als ebensoviele devote Nachtlampen und »schöne Sachen« um sie hertanzten.
»Wer nie, was er gebaut, zerstört, der steht stät
Auf dieser ird’schen Welt, die selbst nicht stät steht«,
sagt Hariri, der kein geborner Franzose, sondern ein Araber ist.
Ganz bestimmt spricht sich nun der Stand des Redners in dem Einfall aus: »Der wahre redliche Patriot vermöge die Regung in sich nicht zu unterdrücken, Konstitution und Preßfreiheit seien nicht für das Wohl des Volkes, sondern für die Befriedigung des Ehrgeizes Einzelner und die Herrschaft der Parteien.«
Es ist bekannt, daß eine gewisse Psychologie das Große aus kleinen Ursachen erklärt und in der richtigen Ahnung, daß alles, wofür der Mensch kämpft, Sache seines Interesses ist, zu der unrichtigen Meinung fortgeht, es gebe nur »kleine« Interessen, nur die Interessen stereotyper Selbstsucht. Es ist ferner bekannt, daß diese Art Psychologie und Menschenkunde besonders in Städten sich vorfindet, wo es dann noch überdem für Zeichen eines schlauen Kopfes gilt, die Welt zu durchschauen und hinter den Wolkenzügen von Ideen und Tatsachen ganz kleine, neidische, intrigante Mannequins, die das Ganze am Fädchen aufziehen, sitzen zu sehen. Allein es ist ebenfalls bekannt, daß, wenn man zu tief ins Glas guckt, man sich an seinen eigenen Kopf stößt, und so ist denn die Menschenkunde und Weltkenntnis dieser klugen Leute zunächst ein mystifizierter Stoß an den eigenen Kopf.
Auch Halbheit und Unentschiedenheit bezeichnet den Stand des Redners. »Sein Unabhängigkeitsgefühl spreche für die Preßfreiheit« (sc. im Sinne des Antragstellers), »er müsse aber der Vernunft und Erfahrung Gehör geben.«
Hätte der Redner schließlich gesagt, daß zwar seine Vernunft für die Preßfreiheit, aber sein Abhängigkeitsgefühl dagegen spreche, so wäre seine Rede ein vollkommenes Genrebild der städtischen Reaktion.
»Wer eine Zung’ hat und spricht nicht,
Wer eine Kling’ hat und ficht nicht,
Was ist der wohl, wenn ein Wicht nicht?«
Wir kommen zu den Verteidigern der Preßfreiheit und beginnen mit dem Hauptantrage. Das Allgemeinere, was treffend und gut in den Eingangsworten des Antrags gesagt ist, übergehen wir, um gleich den eigentümlichen charakteristischen Standpunkt dieses Vortrags hervorzuheben.
Antragsteller will, daß das Gewerbe der Preßfreiheit von der allgemeinen Freiheit der Gewerbe nicht ausgeschlossen sei, wie es noch immer der Fall ist und wobei der innerliche Widerspruch als klassische Inkonsequenz erscheint.
»Die Arbeiten von Armen und Beinen sind frei, diejenigen des Kopfes werden bevormundet. Von größeren Köpfen ohne Zweifel? Gott bewahre, darauf kommt es bei den Zensoren nicht an. Wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch Verstand!«
Es frappiert zunächst, die Preßfreiheit unter die Gewerbefreiheit subsumiert zu sehen. Allein wir können die Ansicht des Redners nicht geradezu verwerfen. Rembrandt malte die Mutter Gottes als niederländische Bäuerin, warum sollte unser Redner die Freiheit nicht unter einer Gestalt malen, die ihm vertraut und geläufig ist?
Ebensowenig können wir dem Räsonnement des Redners eine relative Wahrheit absprechen. Wenn man die Presse selbst nur als Gewerbe betrachtet, gebührt ihr, dem Kopfgewerbe, eine größere Freiheit als dem Gewerbe von Arm und Bein. Die Emanzipation von Arm und Bein wird erst menschlich bedeutsam durch die Emanzipation des Kopfes, denn bekanntlich werden Arme und Beine erst menschliche Arme und Beine durch den Kopf, dem sie dienen.
So originell daher die Betrachtungsweise des Redners auf den ersten Anblick erscheinen mag, so müssen wir ihr doch einen unbedingten Vorzug vor dem haltungslosen, nebelnden und schwebelnden Räsonnement jener deutschen Liberalen zuschreiben, welche die Freiheit zu ehren meinen, wenn sie dieselbe in den Sternenhimmel der Einbildung, statt auf den soliden Boden der Wirklichkeit versetzen. Diesen Räsoneurs der Einbildung, diesen sentimentalen Enthusiasten, die jede Berührung ihres Ideals mit der gemeinen Wirklichkeit als Profanation scheuen, verdanken wir Deutsche zum Teil, daß die Freiheit bis jetzt eine Einbildung und eine Sentimentalität geblieben ist.
Die Deutschen sind überhaupt zu Sentiments und Überschwenglichkeiten geneigt, sie haben ein tendre für die Musik der blauen Luft. Es ist also erfreulich, wenn ihnen die große Frage der Idee von einem derben, reellen, aus der nächsten Umgebung entlehnten Standpunkt demonstriert wird. Die Deutschen sind von Natur devotest, alleruntertänigst, ehrfurchtsvollst. Aus lauter Respekt vor den Ideen verwirklichen sie dieselben nicht. Sie weihen ihnen einen Kultus der Anbetung, aber sie kultivieren dieselben nicht. Der Weg des Redners scheint also geeignet, den Deutschen mit seinen Ideen zu familiarisieren, ihm zu zeigen, daß er es hier nicht mit Unnahbarem, sondern mit seinen nächsten Interessen zu tun hat, die Sprache der Götter in die Sprache der Menschen zu übersetzen.
Es ist bekannt, daß die Griechen in den ägyptischen, lydischen, sogar den skythischen Göttern ihren Apollo, ihre Athene, ihren Zeus wiederzuerkennen glaubten und das Eigentümliche der fremden Kulte als Nebensache übersahen. So ist es auch kein Vergehen, wenn der Deutsche die ihm unbekannte Göttin der Preßfreiheit für eine seiner bekannten Göttinnen ansieht und nach diesen sie Gewerbefreiheit oder Freiheit des Eigentums benennt.
Eben weil wir aber den Standpunkt des Redners anzuerkennen und zu würdigen wissen, unterwerfen wir ihn einer um so schärferen Kritik.
»Es könne sich wohl gedacht werden: Fortdauer von Zunftwesen neben der Preßfreiheit, weil das Kopfgewerbe eine höhere Potenzierung, eine Gleichstellung mit den alten sieben freien Künsten, in Anspruch nehmen könne; aber Fortdauer der Unfreiheit der Preise neben der Gewerbefreiheit sei eine Sünde wider den heiligen Geist.«
Gewiß! Die untergeordnete Form der Freiheit ist von selbst für rechtlos erklärt, wenn die höhere unberechtigt ist. Das Recht des einzelnen Bürgers ist eine Torheit, wenn das Recht des Staates nicht anerkannt ist. Wenn die Freiheit überhaupt berechtigt ist, so versteht sich von selbst, daß eine Gestalt der Freiheit um so berechtigter ist, ein je großartigeres und entwickelteres Dasein die Freiheit in ihr gewonnen hat. Wenn der Polyp berechtigt ist, weil in ihm das Leben der Natur dunkelfühlend tappt, wie nicht der Löwe, in dem es stürmt und brüllt?
So richtig nun aber der Schluß ist, die höhere Gestalt des Rechtes durch das Recht einer niedrigeren Gestalt für bewiesen zu erachten, so verkehrt ist die Anwendung, welche die niedere Sphäre zum Maß der höheren macht und ihre innerhalb der eigenen Begrenzung vernünftigen Gesetze ins Komische verdreht, […] dadurch, daß sie ihnen die Prätention unterschiebt, nicht Gesetze ihrer Sphäre, sondern einer übergeordneten zu sein. Es ist dasselbe, als wollte ich einen Riesen nötigen, im Hause des Pygmäen zu wohnen.
Gewerbefreiheit, Freiheit des Eigentums, des Gewissens, der Presse, der Gerichte, sind alle Arten einer und derselben Gattung, der Freiheit ohne Familiennamen. Allein wie gänzlich irrig ist es nun, über der Einheit den Unterschied zu vergessen und gar eine bestimmte Art zum Maß, zur Norm, zur Sphäre der anderen Arten zu machen? Es ist die Intoleranz einer Art der Freiheit, welche die anderen nur ertragen will, wenn sie von sich selbst abfallen und sich für ihre Vasallen erklären.
Die Gewerbefreiheit ist eben die Gewerbefreiheit und keine andere Freiheit, weil in ihr die Natur des Gewerbes sich ungestört seiner inneren Lebensregel gemäß gestaltet; die Gerichtsfreiheit ist die Gerichtsfreiheit, wenn die Gerichte den eigenen eingeborenen Gesetzen des Rechts, nicht denen einer anderen Sphäre, etwa der Religion, Folge leisten. Jede bestimmte Sphäre der Freiheit ist die Freiheit einer bestimmten Sphäre, wie jede bestimmte Weise des Lebens die Lebensweise einer bestimmten Natur ist. Wie verkehrt wäre nicht die Forderung, der Löwe solle sich nach den Lebensgesetzen des Polypen einrichten? Wie falsch würde ich den Zusammenhang und die Einheit des körperlichen Organismus fassen, wenn ich schlösse: weil Arme und Beine nach ihrer Weise tätig sind, müssen Aug’ und Ohr, diese Organe, die den Menschen von seiner Individualität losreißen und ihn zum Spiegel und zum Echo des Universums machen, ein noch größeres Recht der Tätigkeit haben, also eine potenzierte Arm- und Beintätigkeit sein?
Wie in dem Weltsystem jeder einzelne Planet sich nur um die Sonne bewegt, indem er sich um sich selbst bewegt, so kreiset in dem System der Freiheit jede ihrer Welten nur um die Zentralsonne der Freiheit, indem sie um sich selbst kreiset. Die Preßfreiheit zu einer Klasse der Gewerbefreiheit machen, ist sie verteidigen, indem man sie vor der Verteidigung totschlägt; denn, hebe ich die Freiheit eines Charakters nicht auf, wenn ich verlange, er solle in der Weise eines anderen Charakters frei sein? Deine Freiheit