Gareth spürte Alisons Hand noch immer an seiner. Wie ein Echo, das niemals verklingen würde. Es erleichterte ihm den Kampf gegen sich selbst, ihre sich entfernende Gestalt nicht mit seinen Blicken zu verfolgen. Das würde nur unnötig Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Außerdem hatte sie ihm eine wichtige Nachricht mitgeteilt.
Er erreichte Dorian gerade noch rechtzeitig und leitete ihm Alisons Warnung weiter. Billings wusste über Ascias geheime Aktivitäten und den Kampf gegen Vessen Bescheid, und würde dieses Bankett nutzen, um Dorian vor allen bloßzustellen. Er würde allen Verbündeten Ascias zeigen, was für ein Verräter Dorian war, da er hinter ihren Rücken Schattendämonen abschlachten ließ und mit Menschen zusammenarbeitete.
Dann rief Billings schon den Namen seines alten Freundes. Dorian und Gareth wurden nach vorne in Richtung der Bühne geschoben. Gareth wollte sich zur Wehr setzen, doch sein König bedeutete ihm mit einem bedeutsamen Blick abzuwarten.
Sie hatten das Podest beinahe erreicht und wären zweifellos von Billings’ bulligen Königsdämonen ergriffen worden, wenn in diesem Moment nicht Panik ausgebrochen wäre. Jemand rief ›Feuer‹ und Gareth konnte hinter sich eine brennende Wand erkennen, die sich unaufhaltsam von Vorhang zu Vorhang fraß. Er verkniff sich ein dankbares Lächeln. Offensichtlich hatte ihnen Alison einen Vorteil verschaffen wollen, und er schätzte ihre Hilfe.
»Hier entlang«, wies er seinen König an und Dorian ließ sich von ihm zu einem der Dienstbotenausgänge ziehen, da die Wächter und Billings für einen Augenblick wie erstarrt das Schauspiel beobachteten. Die meisten Anwesenden entschieden sich für die Flucht in den Garten, da sie sich draußen am sichersten fühlten. Niemand machte Anstalten, den Brand zu löschen. Es gab nicht viel, das Königsdämonen so verletzen konnte, dass sie sich nicht mehr heilen konnten – Feuer gehörte allerdings dazu. Deshalb siegte der Fluchtinstinkt über den rationalen Gedanken, die Flammen zu ersticken.
Dorian und er duckten sich hinter mehreren Gästen entlang, damit sie nicht von Billings gesehen werden konnten, falls er sich nicht wie alle anderen von den in Flammen stehenden Vorhängen ablenken lassen würde. Glücklicherweise erreichten sie ohne Zwischenfälle den wie leer gefegten Flur und suchten sich ihren Weg zum Vordereingang, der dank der Hysterie unbewacht war. Niemand hinderte sie daran, in den Hof hinauszutreten, doch sobald sie über die Pflastersteine in Richtung des Haupttores liefen, bäumte sich die Erde grollend auf.
Gareth musste sich an einem Holzpfahl abstützen, der am Rande des Weges in den Boden gestampft worden war. Dorian zeigte nicht die geringste Überraschung und hielt sich vollkommen aufrecht.
»Was war das?«
»Sie hat ein Tor geöffnet«, antwortete Dorian heiser. »Komm mit, wir müssen den Stall erreichen, bevor Billings realisiert, dass wir ihm entwischt sind.«
Sie schritten über den Kiesweg, der sie hoffentlich direkt zum Hinterhof des Rathauses führen würde. Dort befanden sich die Stallungen und somit ihre Möglichkeit zur Flucht, auch wenn Gareth das Gelände am liebsten sofort und ohne Pferd verlassen hätte. Sie würden ohnehin nicht gleich die Stadt hinter sich lassen können, da sie noch Elle einsammeln mussten. Er konnte noch immer nicht glauben, dass sie unverletzt war. Hier in Billings.
»Was meinst du damit? Wer hat welches Tor geöffnet?« Gareth folgte Dorian zwar in der Dunkelheit dicht auf den Fersen, doch er wollte Antworten und dafür wäre er sogar stehen geblieben. Dies war jedoch nicht nötig, da ihm Dorian sofort antwortete.
»Sag bloß, du warst so blind vor Leidenschaft, dass du nicht erkannt hast, was deine kleine Jägerin zu verheimlichen versuchte?«, stieß Dorian hervor, als sie sich eng an die Fassade pressten, um den Innenhof nach Wachen abzusuchen. Das Beben hatte nicht nachgelassen, als ein kräftiger Wind aufkam. Losgerissene Dachschindeln zerschellten auf den Pflastersteinen. Das eingepferchte Nutzvieh stieß unruhige Laute aus, als würde es spüren, dass hier in ihrer Nähe etwas ganz und gar Unnatürliches geschah.
»Was redest du da?« Gareth hatte das Gefühl, als wäre er in einem Albtraum gefangen. Er hätte sich vor Wochen damit durchsetzen sollen, Billings’ Einladung zum Bankett abzulehnen. Dorian hätte das allerdings nie zugelassen und Gareth während seiner Überzeugungsversuche nur mit einem milden Lächeln bedacht.
Seine Sturheit würde ihnen heute hoffentlich nicht teuer zu stehen kommen und die Welt in eine Katastrophe stürzen – wenn es nicht bereits geschehen war.
Er drehte sich zu seinem Schützling um, anstatt den Weg zum Stall fortzusetzen. Sein Blick war durchdringend und ernst, doch es fand sich auch eine gewisse Anspannung darin, die Gareth nicht gefiel. In der Ferne gesellten sich Gewehrschüsse zu dem Grollen der Erde. Das ergab für Gareth noch weniger Sinn als dieses Gespräch.
»Sie trägt den Schlüssel in sich«, verkündete er schließlich und ließ Gareth keine Zeit, diese weitreichende Tatsache zu verarbeiten, sondern wandte sich abrupt ab und eilte über den Platz.
Gareth brauchte einen Moment, um sich von dem Schock so weit zu erholen, dass er seinem König folgen konnte.
Das Beben wurde schlimmer. Der Boden brach auf. Gareth erinnerte sich an die Zeit zurück, als damals vor so vielen Jahren mehrere Tore geöffnet gewesen waren. Durch eines von ihnen war auch er mit seiner Familie geschlüpft. Der Übergang störte das Gleichgewicht der Welt. Er brachte das Wetter durcheinander und rief den Zorn der Erde hervor.
Aber auch seine eigene Wut kämpfte sich mit zunehmender Kraft an die Oberfläche.
Alison trug den Schlüssel und sie hatte sich ihm nicht anvertraut. Er schalt sich selbst für seine offensichtliche Blindheit, denn Hinweise darauf hatte es genug gegeben. Ihre übernatürliche Stärke, ihre Schnelligkeit und … unfreiwillig sprangen seine Gedanken zur Wölbung unter ihren Rippen auf der rechten Seite. Er hatte sie mehr als einmal darauf angesprochen, doch er war so erpicht darauf gewesen, ihr zu vertrauen, dass er ihre Ausrede über eine falsch zusammengewachsene Rippe geglaubt hatte. Wie ein liebeskranker Idiot! Enttäuschung mischte sich in seinen schwelenden Zorn und sein Herz sank.
Im Laufschritt betraten sie den ersten von drei länglich angelegten Ställen, wo sie von wiehernden Pferden begrüßt wurden.
Wütend suchte er sich eines aus und sattelte den braunen Hengst in aller Eile. Dorian entschied sich für ein hellbraunes Pferd direkt neben ihm.
»Wenn sie den Schlüssel hat und … das Tor nun offen ist«, murmelte Gareth leise, aber in dem Wissen, dass ihn Dorian noch immer über den aufbrausenden Sturm und die Geräusche des Bebens hören konnte. »Wir müssen ihr helfen!« Obwohl ihr Betrug schwer wog, konnte er seine Zweifel nicht gewinnen lassen. Alison konnte das wohl kaum freiwillig getan haben und damit den Dämonen die Chance geben, noch mehr von ihnen auf die Erde zu locken. Gareth wusste nur von Dorian von dem Schlüssel und dem Schloss, die von den Kaskaden erschaffen worden waren. Bisher hatte er dem König immer vertraut, das bedeutete allerdings nicht, dass er unfehlbar war. »Und bist du dir wirklich sicher, dass sie den Schlüssel besitzt?«
»Ich war von ihrer Stärke beeindruckt und hegte die Vermutung schon, bevor wir sie zu uns holten. Allerdings war ich mir nicht sicher, bis sie vor den Kaskaden fliehen konnte«, antwortete Dorian und zog sich in den Ledersattel. Gareth wollte es ihm nachtun, aber er war wie erstarrt. Fühlte, wie die Erde unter seinen Sohlen auseinanderbrach. Im wahrsten Sinne des Wortes.
»Wieso hast du nichts gesagt?«
»Ich wollte den Schlüssel nicht für mich nutzen, da ich keinerlei Bedürfnis verspürte, die Tore erneut zu öffnen.« Dorian klang ungeduldig. »Wir müssen los, Gareth.«
»Nicht bevor du mir nicht ein paar Fragen beantwortet hast. Du scheinst die Sache hier ja vollkommen entspannt zu sehen!«, herrschte ihn Gareth an, während sich seine Finger um die Zügel seines Pferdes schlossen, sodass seine Knöchel weiß hervortraten. Er wusste nicht, wohin mit seinen übersprudelnden Gefühlen. Gefühle, die ihn nahe an einen Abgrund führten.
»Nachdem Alison entführt worden ist, befürchtete ich, dass etwas Derartiges in Gang gesetzt worden ist. Was ich jedoch nicht kommen sah, war Alisons Beteiligung. Sie ist eine gute Schauspielerin«, gestand Dorian. »Ich dachte wirklich, sie konnte vor den Rebellen fliehen, ohne von ihnen überzeugt worden zu sein.«
»Überzeugt zu werden von was genau?«
»Das Tor zu öffnen. Ich war mir sicher, dass sich das Gefäß des Schlosses nicht bei einem Dämon aufhält, also blieben nur noch Menschen übrig. Und welche menschliche Gemeinschaft ist groß genug, um dem Schloss weiszumachen, dass es etwas in der Welt bewegen kann?«
»Die Rebellen«, antwortete Gareth tonlos.
Dorian nickte ernst. »Ich weiß nicht, wie sie es geschafft haben, aber sie haben Alison anscheinend auf ihre Seite gezogen.«
»Aber … warum würde sie uns dann vor Billings warnen? Und was will sie mit dem geöffneten Tor tun?« Gareth sah seinem Königsdämon die Ungeduld deutlich an, doch er entschloss sich, sie nicht weiter zu beachten. Er musste wissen, was hier vor sich ging.
»Wie ich schon sagte, es war offensichtlich nicht ihr Plan. Vielleicht hat jemand aus dem Lager der Rebellen herausgefunden, wie er uns alle vernichten kann. Oder wir werden alle durch das Tor gezogen? Möglicherweise öffnen sie das Tor zu einer gänzlich anderen Welt?« Er zuckte mit den Schultern. Eine Geste, die Gareth nicht oft bei seinem Gegenüber zu sehen bekam.
»Uns ist noch nichts geschehen. Wir sind noch immer hier.«
»Offensichtlich. Vielleicht liege ich auch falsch. Nichtsdestotrotz können wir nicht länger hier bleiben. Ich weiß, du hast Gefühle für sie entwickelt, aber es scheint so, als würde sie nicht das Gleiche für dich empfinden. Denkst du nicht, dass wir Elle finden und so schnell wie möglich von hier verschwinden sollten, solange Billings noch mit etwas anderem beschäftigt ist?«
Gareth nickte, obwohl sein Herz schmerzte.
»Hast du Noah gesehen?«, wechselte Dorian abrupt das Thema.
»Nein«, presste der jüngere Königsdämon hervor.
»Ich hoffe, er findet seinen Weg zu uns.«
Schweigend stieg Gareth auf sein Pferd und ritt neben Dorian aus den Ställen zum hinteren Ausgang, der unbewacht war. Mehrere Erdrisse zogen sich vor ihnen entlang, doch sie waren noch schmal genug, damit ihre Pferde sie problemlos überspringen konnten. Während eines solchen Sprunges wurde Gareth schwindelig und er musste den Druck seiner Oberschenkel verstärken, um nicht vom Pferd zu fallen.
Er wusste augenblicklich, was das zu bedeuten hatte, auch wenn er dieses Gefühl das erste Mal, als er es gespürt hatte, ignoriert hatte. Alison war verschwunden. Er spürte, dass sie lebte, aber er konnte nicht mehr sagen, wo sie sich aufhielt. Es war, als wäre sie vom Rathaus ins Nichts verschwunden. War sie durch das Tor gegangen? Hatte jemand an ihr die gleiche Droge benutzt wie bei ihrer Entführung?
Er musste sich konzentrieren, auch wenn es ihm unwahrscheinlich schwerfiel. Alles, was er wollte, war, umzukehren und Alison in seine Arme zu schließen. Er glaubte nicht, dass sie ihn verraten hatte. Dann hätte sie ihn nicht warnen müssen. Sie hätte ganz einfach zusehen können, wie Billings die Falle zuschnappen ließ.
Sie hatten das Innere der Stadt erreicht, in dem heller Aufruhr herrschte. Menschliche Sklaven, Schatten- und Königsdämonen liefen hektisch umher, riefen nach Freunden und Familienmitgliedern, während der Wind in den Straßen toste, Sand und Erde aufwirbelte und in ihre Gesichter peitschte. Manche hievten ihr Hab und Gut auf robuste Wagen, andere begnügten sich mit dem, was sie selbst tragen konnten, und rannten möglichst schnell zu einem der Tore. Gareth vernahm Kindergeschrei und die strenge Stimme von Befehlshabern, die für Ruhe und Ordnung sorgen wollten. Nicht mehr lange und auch sie würden einsehen, dass die Stadt verloren war.
Er wusste ganz genau, wo sich Elle aufhielt, da es das Quartier war, das sie für die menschlichen Jäger auserkoren hatten. Sie brauchten mit ihren Pferden nicht sehr lange, da sie sich keinen Weg durch die Menge erkämpfen mussten. Die Menschen und Dämonen wichen freiwillig zurück, um nicht versehentlich unter die Hufen zu geraten.
Vor dem Hintereingang stieg Dorian ab und bedeutete Gareth, auf ihre Pferde zu achten. Sie wussten nicht, wie schlimm der Sturm und das Beben, das für den Moment nachgelassen hatte, noch werden würden. Es machte auch in diesem Viertel den Eindruck, als würden viele von den Bewohnern fliehen wollen, solange sie noch konnten, um nicht von den Trümmern erschlagen zu werden. Es war wichtig, dass Gareth achtgab, trotzdem verspürte er einen schmerzhaften Stich in der Brust. Er hatte tagelang nach Elle gesucht. Er hatte Adam getröstet, während Dorian sich in seinem Arbeitszimmer eingeschlossen hatte.
Er beobachtete, wie dem König die Tür geöffnet wurde und dieser im Haus verschwand. Wo kamen all seine verbitterten Gedanken her? Seit wann erlaubte er sich, so von Dorian Ascia zu denken?
»Gareth!«, rief Elle, noch während sie aus dem Haus stürmte. Er stieg von seinem Pferd und drückte das Mädchen eng an sich. Sie war wie eine Nichte für ihn, auch wenn er weder mit ihrer Mutter noch mit ihrem Vater blutsverwandt war.
»Du wirst uns genau berichten müssen, was geschehen ist«, sagte er bewegt und tätschelte ihre gerötete Wange.
»Wo sind Alison und die anderen Jäger? Und Evan und Crystal?«, entgegnete sie, anstatt ihm eine vernünftige Antwort zu geben.
»Uns bleibt leider keine Zeit, Elle«, mischte sich Dorian ein und legte eine Hand auf ihre schmale Schulter. Sie trug ein unauffälliges Hemd und eine dunkelblaue Hose. Er konnte sich nicht daran erinnern, sie jemals in Hosen gesehen zu haben. »Wenn wir Glück haben, schließen sie später zu uns auf. Lasst uns gehen.«
Er hob Elle auf sein Pferd, sodass sie seitlich vor ihm saß, dann lenkten sie ihre Pferde durch den einsetzenden Regen. Gareth wünschte sich, er hätte daran gedacht, seinen Umhang mitzunehmen, aber ihre Flucht war zu abrupt gewesen. Und wenn er ehrlich war, wäre er viel lieber für Alison umgekehrt als für seinen Umhang.
Kurz bevor sie das nördliche Stadttor erreichten, setzte ein weiteres schweres Beben ein. Es zwang sie dazu, von den Pferden abzusteigen. Die Tiere wieherten beunruhigt, während der Regen zunahm und die Gebäude um sie herum einstürzten. Regelrecht in sich zusammenfielen.
»Wir müssen laufen«, brüllte Gareth über den Lärm hinweg.
Dorian hob Elle erneut aufs Pferd und befahl ihr, sich an der Mähne des Pferdes festzuhalten. Es musste für den Kampf ausgebildet worden sein und hatte gelernt, sich in Extremsituationen ruhig zu verhalten.
Dorian und Gareth liefen neben den Tieren her und führten sie an den Zügeln durch die zerfallende Stadt. Es war, als würde die Erde wie ein Vulkan brodeln und Gesteinsbrocken ausspucken, denen sie nur mit Mühe ausweichen konnten.
Vor ihnen rannten mehrere Dämonen und Menschen, die aus Panik einzelne Taschen und Koffer fallen ließen, um noch schneller zu sein. Ein tiefes Grollen, das wie das Brüllen eines Gottes klang, rollte über die Stadt hinweg. Gareth warf einen kurzen Blick über die Schulter, bevor er sich auf den vor ihm liegenden Weg konzentrierte. Hinter ihnen war ein riesiges Loch entstanden, das sich nach und nach an den Häusern und den Pflastersteinen gütlich tat. Was auch immer die Rebellen und Alison getan hatten, es würde die Stadt zerstören.
Gareth konnte nicht sagen, dass er Billings eine Träne nachtrauern würde, doch er wusste, dass der Kern der Macht des Königsdämons nicht in der Stadt lag. Seine Armee befand sich an einem anderen, geheimen Ort, den Ascia bis heute nicht hatte herausfinden können. Sie wussten nur, dass die Kasernen irgendwo in den Rayons errichtet worden waren.
Sie traten gerade unter dem Tor hervor, als ihnen von drei Königsdämonen der Weg versperrt wurde. Da sie keine Uniform trugen, schätzte Gareth sie als normale Bürger von Billings ein, was sie jedoch nicht weniger gefährlich machte. Sie hatten die anderen Flüchtenden keines Blickes gewürdigt, sich aber vor sie gestellt.
»Gebt uns die Pferde und wir lassen euch leben«, versprach ihnen der Dämon mit den abstehenden roten Haaren. Seine von Staub und Dreck bedeckten Freunde nickten, glaubten aber nicht wirklich daran, dass es keinen Kampf geben würde, da ihre Körper weiterhin angespannt blieben. Sie waren bereit, sich zu wandeln.
»Ihr solltet uns besser gehen lassen«, betonte Gareth. Er war bei Weitem nicht zum Scherzen aufgelegt und das Letzte, was er wollte, war, weiter aufgehalten zu werden, wodurch sie Elle womöglich noch in Gefahr brachten. »Falls euch euer Leben lieb ist«, fügte er der Vollständigkeit halber noch hinzu.
Der Rothaarige lachte, dann wandelten er und seine Freunde sich, sodass sie innerhalb weniger Augenblicke knurrend mit schwarzen Klauen und verlängerten Reißzähnen angriffen.
Gareth und Dorian waren vorbereitet. Während sich der König ebenfalls wandelte, behielt Gareth seine menschliche Form bei, da er sich im gewandelten Zustand noch immer nicht vertraute. Er zog seinen Dolch, den er an seiner Hüfte trug, und stürzte sich damit auf den Königsdämon, der ihm am nächsten stand. Der Regen störte ihn nicht länger und sein Körper passte sich problemlos an das Beben an, sodass seine Bewegungen präzise und schnell waren. Er duckte sich unter den Klauen hinweg und rammte seinem Kontrahenten mit dem mausbraunen Schnurrbart den Ellenbogen in die Bauchhöhle. Der Dämon stockte nicht einmal in seinen Bewegungen, sondern wirbelte herum, um Gareth nicht den Rücken als Angriffsfläche zu bieten. Gareth war jedoch flinker als er und konnte den Dolch in seinen unteren Rücken stoßen, bevor er wieder aus seiner Reichweite verschwinden musste.
Der Schnurrbartträger knurrte bösartig, als er auf ihn zurannte. Gareth rutschte über den nassen Boden, stützte sich mit den Händen ab und trat dem fremden Königsdämon die Beine weg. Er stürzte zu Boden, wo ihn Gareth mit seinem Körper festhielt und ihm die Kehle durchtrennte. Blut spritzte und vermischte sich mit den dicken Wassertropfen auf Gareths Gesicht.
Flink erhob er sich und sah, dass sich auch Dorian gegen den Rothaarigen durchgesetzt hatte, der nun regungslos auf den Pflastersteinen lag. Eine dunkle Lache bildete sich unter ihm. Der dritte in der Runde brannte von innen heraus, wie es nur Dorian oder Billings zu bewerkstelligen vermochten. Eine grauenvolle, aber effektive Fähigkeit.
Elle hatte derweil auf die Pferde achtgegeben, obwohl wahrscheinlich niemand so waghalsig gewesen wäre, sich in den Kampf einzumischen.
»Kommt«, raunte Dorian, stieg hinter Elle auf und trieb vor Gareth sein Pferd an. Sie durften keine Zeit mehr verlieren. Das Loch hinter ihnen breitete sich weiter aus, saugte das Stadttor auf und verschlang Mensch und Dämon gleichermaßen.
Je weiter sie sich von der Stadt entfernten, desto schwächer wurde das Beben und desto weniger Städtern begegneten sie, da die meisten zu Fuß oder auf Wagen unterwegs waren. Gareth stieg gelegentlich vom Pferd, um an zufällig ausgewählten Baumstämmen eingeritzte Zeichen für die Jäger zu hinterlassen, in der Hoffnung, dass sie dem eingekreisten A einen Sinn beifügen würden. Vielleicht … vielleicht wäre auch Alison unter ihnen.
»Was ist geschehen?«, fragte Elle schließlich, nachdem sie ein kleines Waldstück erreicht hatten.
Der Regen peitschte nicht mehr länger in ihre Gesichter und das Beben hatte gänzlich aufgehört. Es war stockdunkel, doch ihnen machte das nichts aus. Als Schattendämonen hätten sie ihre Umgebung vermutlich so differenziert sehen können, als wäre es taghell, doch auch als Königsdämonen kamen sie gut zurecht. »Hat euch Alison nicht rechtzeitig Bescheid gesagt? Es tut mir leid, dass ich einfach weggelaufen bin …«
»Jemand hat das Tor zu einer anderen Dimension geöffnet«, hörte Gareth Dorian antworten.
»Zu … unserer Heimat?«, keuchte sie, während sie sich eng an den Rücken ihres Onkels kuschelte.
»Die Frage bleibt offen. Alison trägt den Schlüssel in sich, also ist sie zum Teil dafür verantwortlich.«
Bei diesen Worten verkrampften sich Gareths Hände um die kalten Lederzügel. Wie hatte sie ihm so etwas Wichtiges verheimlichen können? Aber er hatte ihr wiederum auch nicht erzählt, dass sein Bruder für den Tod ihrer Familie verantwortlich war. War ihre Beziehung also nur eine Farce gewesen? Hatte keiner von beiden wirklich an ein gutes Ende geglaubt und dem anderen vertraut?
Die Wahrheit schmerzte ihn noch mehr als er je zugeben würde.