Eine Krone aus Herz und Asche

Eine Krone aus Herz und Asche

Laura Labas

Für Silvana

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Namensglossar

Danksagung

Über die Autorin

Kapitel Eins

Die Hexe

Vor hunderten von Jahren in Triste

Morrigan betrachtete ihre makellose Erscheinung in dem in Gold eingefassten Spiegel und lächelte zufrieden. Ihr Körper war in ein schwarzes Spitzenkleid gehüllt, das ihr von ihrem Gemahl geschenkt worden war. Da Devlin auch nach so vielen Jahrzehnten immer noch blind war, achtete er mehr auf das Gefühl der Stoffe als auf den Schnitt. Darauf konzentrierten sich allein die Schneider und sie hatten auch dieses Mal ausgezeichnete Arbeit geleistet. Die langen, spitzenbesetzten Ärmel lagen genauso wie das Kleid eng an ihrer Haut an, sodass die sanfte Rundung ihres Bauches bereits jetzt zur Geltung kam. Morrigan hatte Devlin noch nicht die frohe Kunde, dass sie ein weiteres Kind unter ihrem Herzen trug, mitgeteilt. Aber bald.

Ihr zufriedenes Lächeln wandelte sich zu einem hoffnungsfrohen. Sie hatte gemerkt, dass Devlin in den letzten zwei Jahren immer unglücklicher wurde. Er vermisste seine Heimat, auch wenn es ihm hier in Triste an nichts mangelte. Mittlerweile hatten sie ihre Grenzen gesichert und die Schlachten gegen Duster, gegen Aeshma, fanden nur noch selten auf ihrem Grund und Boden statt. Ihr Volk sehnte sich nach Frieden, das wusste sie, aber sie war nicht fähig nachzugeben. Sie konnte nicht.

Auch nicht für Devlin?

Schon einmal hatte sie den Fehler begangen, jemandem ihr Herz bedingungslos in die Hände zu legen und sie war um eine schmerzvolle Erfahrung reicher geworden. Aeshma hatte sich in Devlins menschliche Schwester verliebt und sie, Morrigan, Dämonenhexe und Königin, aus seinem Königreich verbannt. Nun, vielleicht war sie auch freiwillig gegangen, aber wie hätte sie in Duster bleiben und dabei zusehen können, wie er dieser … Menschenfrau den Hof machte?

Nein, sie hatte sich richtig entschieden, war nach Triste zurückgekehrt und hatte ihr Volk auf den rechten Pfad gewiesen – auf einen Kriegspfad gegen den Erzdämon Aeshma. Und plötzlich hatte Devlin ihren Weg gekreuzt. Indem er sie liebte und verehrte, verhinderte er, dass ihr Herz vollkommen zu Eis gefror. Sie liebte ihn ebenfalls, auch wenn sie einen kleinen Teil von sich selbst zurückhielt. Nur einen winzig kleinen Teil, aber er reichte aus, um den Krieg weiter voranzutreiben.

Sie legte ihre Hände auf die kleine Wölbung und fragte sich, ob sie mit einem Jungen oder einem Mädchen gesegnet werden würde. Es war bei Weitem nicht ihr erstes Kind mit Devlin, doch es fühlte sich so an. Die Schwangerschaft war so wichtig für ihre Beziehung. Sie würde ihm ein Lächeln aufs Gesicht zaubern, das wusste sie. So war es auch bei jeder anderen Schwangerschaft gewesen und wenn die Kinder die Welt erblickten, mit ihren blassen Augen und lautem Geschrei, war er jedes Mal wie gebannt. Genauso wie sie.

Die meisten ihrer Kinder waren mittlerweile gealterte Männer und Frauen, die selbst bereits Kinder und Kindeskinder hatten, aber Morrigan und Devlin luden sie noch immer Monat für Monat an den Hof ein. Es war anders als mit Aeshma. Dieser hatte sich kaum um ihre gemeinsamen Kinder gekümmert und so hatte sich auch Morrigan dazu gezwungen gefühlt, sie nicht zu sehr in ihr Herz zu schließen. Letztlich ersparte ihr dies großes Leid, denn anders als sie und Aeshma waren ihre Kinder nicht für die Ewigkeit gedacht, auch wenn Königsdämonen länger zu leben schienen als ihre Schattenkinder.

Sie hatte all ihre Magie dazu benutzt, Devlins Leben an ihr eigenes zu binden, sodass seine Lebensdauer so lang anhielt wie die ihre. Für ihre Kinder hatte die Magie nicht ausgereicht. So schmerzvoll sie auch gewesen war, sie bereute ihre Entscheidung nicht.

Die Flügeltüren zu ihrem Gemach wurden von livrierten Dienern geöffnet, um ihren Gemahl einzulassen, der dieser Tage nicht einmal mehr seinen Stock brauchte. Er fand sich trotz seiner Blindheit gut zurecht, da er die Auren um sich herum fühlen konnte. So zumindest hatte er es ihr damals erklärt.

»Morrigan«, begrüßte er sie, nachdem sich die Türen hinter ihm geschlossen hatten und er an ihre Seite getreten war. Sie befand sich gegenüber von ihrem Bett, neben dem Spiegel und der Fensterfront, die den Blick auf das ruhige Meer offenbarte. Eine Terrassentür war geöffnet und ließ die salzige Brise ins Gemach ein.

Devlin küsste ihre Wange, während sich seine Hände um ihre Taille legten und von dort nach vorne wanderten. Stirnrunzelnd zog er seinen Kopf etwas zurück, seine Handflächen befühlten jedoch weiter die verräterische Rundung.

»Du bist schwanger?«, fragte er heiser, bevor er sich räusperte. Zwei Wochen war er fort gewesen, um beim Neuaufbau eines Dorfes zu helfen. Sie hatte ihn so vermisst.

Sie konnte sich ein glückliches Lächeln nicht verkneifen, als sie ihre Hände auf die seinen legte.

»Freust du dich?« Sie beugte sich vor und verschloss für einen Moment seine Lippen mit ihren.

»Ja«, wisperte er und küsste sie erneut mit so großer Leidenschaft wie bei ihrem ersten Kuss im Wintergarten. Sie konnte sich nur dazu überwinden, den Kuss zu unterbrechen, weil sie einen derart großen Drang verspürte, sein Lächeln zu sehen.

Als sie sich von ihm löste, zuckte er überrascht zusammen. Zuerst dachte sie, er wollte sie reinlegen und gestehen, dass er sich doch nicht über ihr Kind freute, doch dann sah sie das sich ausbreitende Blut auf seinem Hemd und die Pfeilspitze, die daraus hervorragte.

Bevor sie wirklich begriffen hatte, was vor sich ging, wurde sie von einem zweiten Pfeil an der Schulter getroffen. Zusammen mit Devlin ging sie zu Boden.

Woher war der Angriff gekommen? Von der Terrasse?

Sie versuchte ihren Blick zu heben, doch es war ihr unmöglich, ihn von Devlins flehendem Gesicht zu nehmen. Seine Unterlippe bebte, als würde er ihr etwas sagen wollen. Der Schmerz in ihrer Schulter sank ins Nichts. Ihre schwarze Krone rutschte von ihrem geneigten Kopf, als sie sich über ihren Gemahl beugte, und fiel klirrend auf den Boden.

nein nein nein

»Verlass mich nicht«, wisperte sie. Nichts war wichtig. Weder ihr Schmerz noch ihre Magie. Ihre Schatten gehorchten ihr nicht, sammelten sich nicht wie ein Schutzschild um sie, als würden sie in ihr nicht mehr ihre Meisterin erkennen. »Devlin. Bitte

»Ich liebe dich so sehr, Morrigan«, raunte Devlin, bevor er einen schwachen letzten Atem ausstieß – in demselben Augenblick als sie der nächste Pfeil ins Herz traf. Das Herz, das in diesem Moment brach.

Devlin. Verlass mich nicht.

Aber sie war es, die hinabglitt in die Dunkelheit. Das Letzte, was sie sah, waren dunkle Finger, die sich um ihre schwarze Krone legten. Dann existierte nur noch Finsternis, bis

sie erwachte

Sekunden

Stunden

Jahre

Ewigkeiten

später

Verlass mich nicht, echote es in ihrem Inneren, das leer und taub war.

Sonnenlicht kitzelte ihre Nase, Hitze trieb den Schweiß auf ihre Stirn und Sand verklebte ihre Wimpern. Stöhnend rollte sie sich auf die Seite und rieb sich mit ihren Fingern, die sich schwer wie Blei anfühlten, über die Lider, bis sie diese öffnen konnte. Sofort wurde sie von einer hochstehenden Sonne geblendet und es dauerte, bis sich ihre Augen an die Helligkeit gewöhnten. Sie bemerkte schließlich, dass sie nicht das Rauschen ihres Blutes hörte, sondern das des Meeres. Sie befand sich an einem fremden Strand. Es konnte nicht Triste sein. In Triste gab es weder solchen Sand, noch war es dort je so heiß gewesen.

Wie war sie hergekommen? Was war geschehen?

Blinzelnd stemmte sie sich hoch und richtete sich auf, sodass sie dem blauen, sanften Meer zugewandt war. Meilenweit erstreckte sich das Wasser, bis es sich schließlich mit der Farbe des Himmels vermischte. Links und rechts zog sich der Strand in einem weiten Bogen entlang und ließ in Morrigan die Vermutung aufkommen, dass sie sich auf einer Insel befand. Auf einer sehr, sehr kleinen Insel.

Hinter ihr standen Palmen in kleinen Gruppen beieinander, deren ausladende Blätter in einer Brise wogen, die Morrigan nicht spüren konnte. Ein paar Sträucher mit reifen Früchten tummelten sich zwischen den schlanken Stämmen, ließen jedoch den Blick zum anderen Ende der Insel frei. Vielleicht war sie insgesamt so groß wie der äußere Hof ihres Schlosses. Lächerlich klein.

Und es gab nicht einen einzigen Schatten. Unter den Palmen herrschte genauso viel Helligkeit wie daneben. Nichts würde Morrigan vor den Sonnenstrahlen schützen können.

Wo war sie nur?

Dann fiel es ihr wieder ein. Die Erinnerung rollte wie eiskaltes Wasser über sie hinweg. Sofort legte sie die Hände auf ihren Bauch, der nunmehr flach war. Kein Kind. Es war fort. So wie Devlin. So wie sie. Als wäre es nie dort gewesen. Verschwunden. Von ihr getrennt.

Ihre Atmung beschleunigte sich und sie bekam gleichzeitig nicht genügend Luft, trotzdem konnte sie den Schmerz nicht in sich halten. Wie Lava brach er aus ihr hervor.

Sie schrie und schrie, bis sie heiser war. Es zwang sie in die Knie.

Der Tod zwang sie in die Knie.

Sie hatte alles verloren und war nun auf einer einsamen, heißen, schattenlosen Insel gefangen, die ihre Hölle war. Ihr Jenseits. Das hatte auf sie gewartet. Das hatten die Götter also für sie bestimmt? Einsamkeit und Hitze. Ohne ihre geliebten Schatten.

Ihre Finger gruben sich in den weichen Sand, als kein Ton mehr ihre trockene Kehle verließ.

Sie verlor jegliches Gefühl für Zeit. Spürte nur die Hitze, keinen Hunger, keinen Durst, während sie im Sand sitzen blieb und den Verlust ihres Kindes und ihres Gemahls zu begreifen versuchte.

Nach Taubheit und Trauer folgte jedoch sogleich der Zorn. Wer hatte ihnen das angetan? War es Aeshma gewesen?

Oh, wie sie ihn verabscheute!

Sie würde ihn töten. Mit ihren eigenen Händen würde sie das Leben aus ihm und seiner menschlichen Hure herausreißen.

Der Hass keimte in ihrem gebrochenen Herzen und nähte dieses mit schmerzhaften Stichen zusammen. Nur so gelang es ihr, sich zu erheben, als sie merkte, dass sie nicht länger allein auf der Insel war. Zwei Menschen waren wie aus dem Nichts aufgetaucht und genossen das Sonnenlicht auf ihrer Haut, schwammen im warmen Wasser und räkelten sich im Sand. Für sie war diese Insel etwas Gutes. Für sie war es keine Strafe.

Und sie hasste sie dafür.

Sie hasste jeden Menschen, der in den folgenden Jahren diese Insel betrat und sie stellte sicher, dass sie es wussten; bis eine Menschenfrau ihr eines Tages die Stirn bot und ihr zu einer Freundin wurde. Joana.

Der Hass aber wuchs bedächtig weiter und breitete sich bis in ihre tintenschwarzen Haarspitzen aus. Sie würde ihre Rache bekommen.

Oh ja.

Früher oder später.

Kapitel Zwei

Der Königsdämon

Gareth spürte Alisons Hand noch immer an seiner. Wie ein Echo, das niemals verklingen würde. Es erleichterte ihm den Kampf gegen sich selbst, ihre sich entfernende Gestalt nicht mit seinen Blicken zu verfolgen. Das würde nur unnötig Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Außerdem hatte sie ihm eine wichtige Nachricht mitgeteilt.

Er erreichte Dorian gerade noch rechtzeitig und leitete ihm Alisons Warnung weiter. Billings wusste über Ascias geheime Aktivitäten und den Kampf gegen Vessen Bescheid, und würde dieses Bankett nutzen, um Dorian vor allen bloßzustellen. Er würde allen Verbündeten Ascias zeigen, was für ein Verräter Dorian war, da er hinter ihren Rücken Schattendämonen abschlachten ließ und mit Menschen zusammenarbeitete.

Dann rief Billings schon den Namen seines alten Freundes. Dorian und Gareth wurden nach vorne in Richtung der Bühne geschoben. Gareth wollte sich zur Wehr setzen, doch sein König bedeutete ihm mit einem bedeutsamen Blick abzuwarten.

Sie hatten das Podest beinahe erreicht und wären zweifellos von Billings’ bulligen Königsdämonen ergriffen worden, wenn in diesem Moment nicht Panik ausgebrochen wäre. Jemand rief ›Feuer‹ und Gareth konnte hinter sich eine brennende Wand erkennen, die sich unaufhaltsam von Vorhang zu Vorhang fraß. Er verkniff sich ein dankbares Lächeln. Offensichtlich hatte ihnen Alison einen Vorteil verschaffen wollen, und er schätzte ihre Hilfe.

»Hier entlang«, wies er seinen König an und Dorian ließ sich von ihm zu einem der Dienstbotenausgänge ziehen, da die Wächter und Billings für einen Augenblick wie erstarrt das Schauspiel beobachteten. Die meisten Anwesenden entschieden sich für die Flucht in den Garten, da sie sich draußen am sichersten fühlten. Niemand machte Anstalten, den Brand zu löschen. Es gab nicht viel, das Königsdämonen so verletzen konnte, dass sie sich nicht mehr heilen konnten – Feuer gehörte allerdings dazu. Deshalb siegte der Fluchtinstinkt über den rationalen Gedanken, die Flammen zu ersticken.

Dorian und er duckten sich hinter mehreren Gästen entlang, damit sie nicht von Billings gesehen werden konnten, falls er sich nicht wie alle anderen von den in Flammen stehenden Vorhängen ablenken lassen würde. Glücklicherweise erreichten sie ohne Zwischenfälle den wie leer gefegten Flur und suchten sich ihren Weg zum Vordereingang, der dank der Hysterie unbewacht war. Niemand hinderte sie daran, in den Hof hinauszutreten, doch sobald sie über die Pflastersteine in Richtung des Haupttores liefen, bäumte sich die Erde grollend auf.

Gareth musste sich an einem Holzpfahl abstützen, der am Rande des Weges in den Boden gestampft worden war. Dorian zeigte nicht die geringste Überraschung und hielt sich vollkommen aufrecht.

»Was war das

»Sie hat ein Tor geöffnet«, antwortete Dorian heiser. »Komm mit, wir müssen den Stall erreichen, bevor Billings realisiert, dass wir ihm entwischt sind

Sie schritten über den Kiesweg, der sie hoffentlich direkt zum Hinterhof des Rathauses führen würde. Dort befanden sich die Stallungen und somit ihre Möglichkeit zur Flucht, auch wenn Gareth das Gelände am liebsten sofort und ohne Pferd verlassen hätte. Sie würden ohnehin nicht gleich die Stadt hinter sich lassen können, da sie noch Elle einsammeln mussten. Er konnte noch immer nicht glauben, dass sie unverletzt war. Hier in Billings.

»Was meinst du damit? Wer hat welches Tor geöffnet?« Gareth folgte Dorian zwar in der Dunkelheit dicht auf den Fersen, doch er wollte Antworten und dafür wäre er sogar stehen geblieben. Dies war jedoch nicht nötig, da ihm Dorian sofort antwortete.

»Sag bloß, du warst so blind vor Leidenschaft, dass du nicht erkannt hast, was deine kleine Jägerin zu verheimlichen versuchte?«, stieß Dorian hervor, als sie sich eng an die Fassade pressten, um den Innenhof nach Wachen abzusuchen. Das Beben hatte nicht nachgelassen, als ein kräftiger Wind aufkam. Losgerissene Dachschindeln zerschellten auf den Pflastersteinen. Das eingepferchte Nutzvieh stieß unruhige Laute aus, als würde es spüren, dass hier in ihrer Nähe etwas ganz und gar Unnatürliches geschah.

»Was redest du da?« Gareth hatte das Gefühl, als wäre er in einem Albtraum gefangen. Er hätte sich vor Wochen damit durchsetzen sollen, Billings’ Einladung zum Bankett abzulehnen. Dorian hätte das allerdings nie zugelassen und Gareth während seiner Überzeugungsversuche nur mit einem milden Lächeln bedacht.

Seine Sturheit würde ihnen heute hoffentlich nicht teuer zu stehen kommen und die Welt in eine Katastrophe stürzen – wenn es nicht bereits geschehen war.

Er drehte sich zu seinem Schützling um, anstatt den Weg zum Stall fortzusetzen. Sein Blick war durchdringend und ernst, doch es fand sich auch eine gewisse Anspannung darin, die Gareth nicht gefiel. In der Ferne gesellten sich Gewehrschüsse zu dem Grollen der Erde. Das ergab für Gareth noch weniger Sinn als dieses Gespräch.

»Sie trägt den Schlüssel in sich«, verkündete er schließlich und ließ Gareth keine Zeit, diese weitreichende Tatsache zu verarbeiten, sondern wandte sich abrupt ab und eilte über den Platz.

Gareth brauchte einen Moment, um sich von dem Schock so weit zu erholen, dass er seinem König folgen konnte.

Das Beben wurde schlimmer. Der Boden brach auf. Gareth erinnerte sich an die Zeit zurück, als damals vor so vielen Jahren mehrere Tore geöffnet gewesen waren. Durch eines von ihnen war auch er mit seiner Familie geschlüpft. Der Übergang störte das Gleichgewicht der Welt. Er brachte das Wetter durcheinander und rief den Zorn der Erde hervor.

Aber auch seine eigene Wut kämpfte sich mit zunehmender Kraft an die Oberfläche.

Alison trug den Schlüssel und sie hatte sich ihm nicht anvertraut. Er schalt sich selbst für seine offensichtliche Blindheit, denn Hinweise darauf hatte es genug gegeben. Ihre übernatürliche Stärke, ihre Schnelligkeit und … unfreiwillig sprangen seine Gedanken zur Wölbung unter ihren Rippen auf der rechten Seite. Er hatte sie mehr als einmal darauf angesprochen, doch er war so erpicht darauf gewesen, ihr zu vertrauen, dass er ihre Ausrede über eine falsch zusammengewachsene Rippe geglaubt hatte. Wie ein liebeskranker Idiot! Enttäuschung mischte sich in seinen schwelenden Zorn und sein Herz sank.

Im Laufschritt betraten sie den ersten von drei länglich angelegten Ställen, wo sie von wiehernden Pferden begrüßt wurden.

Wütend suchte er sich eines aus und sattelte den braunen Hengst in aller Eile. Dorian entschied sich für ein hellbraunes Pferd direkt neben ihm.

»Wenn sie den Schlüssel hat und … das Tor nun offen ist«, murmelte Gareth leise, aber in dem Wissen, dass ihn Dorian noch immer über den aufbrausenden Sturm und die Geräusche des Bebens hören konnte. »Wir müssen ihr helfen!« Obwohl ihr Betrug schwer wog, konnte er seine Zweifel nicht gewinnen lassen. Alison konnte das wohl kaum freiwillig getan haben und damit den Dämonen die Chance geben, noch mehr von ihnen auf die Erde zu locken. Gareth wusste nur von Dorian von dem Schlüssel und dem Schloss, die von den Kaskaden erschaffen worden waren. Bisher hatte er dem König immer vertraut, das bedeutete allerdings nicht, dass er unfehlbar war. »Und bist du dir wirklich sicher, dass sie den Schlüssel besitzt

»Ich war von ihrer Stärke beeindruckt und hegte die Vermutung schon, bevor wir sie zu uns holten. Allerdings war ich mir nicht sicher, bis sie vor den Kaskaden fliehen konnte«, antwortete Dorian und zog sich in den Ledersattel. Gareth wollte es ihm nachtun, aber er war wie erstarrt. Fühlte, wie die Erde unter seinen Sohlen auseinanderbrach. Im wahrsten Sinne des Wortes.

»Wieso hast du nichts gesagt

»Ich wollte den Schlüssel nicht für mich nutzen, da ich keinerlei Bedürfnis verspürte, die Tore erneut zu öffnen.« Dorian klang ungeduldig. »Wir müssen los, Gareth

»Nicht bevor du mir nicht ein paar Fragen beantwortet hast. Du scheinst die Sache hier ja vollkommen entspannt zu sehen!«, herrschte ihn Gareth an, während sich seine Finger um die Zügel seines Pferdes schlossen, sodass seine Knöchel weiß hervortraten. Er wusste nicht, wohin mit seinen übersprudelnden Gefühlen. Gefühle, die ihn nahe an einen Abgrund führten.

»Nachdem Alison entführt worden ist, befürchtete ich, dass etwas Derartiges in Gang gesetzt worden ist. Was ich jedoch nicht kommen sah, war Alisons Beteiligung. Sie ist eine gute Schauspielerin«, gestand Dorian. »Ich dachte wirklich, sie konnte vor den Rebellen fliehen, ohne von ihnen überzeugt worden zu sein

Ȇberzeugt zu werden von was genau

»Das Tor zu öffnen. Ich war mir sicher, dass sich das Gefäß des Schlosses nicht bei einem Dämon aufhält, also blieben nur noch Menschen übrig. Und welche menschliche Gemeinschaft ist groß genug, um dem Schloss weiszumachen, dass es etwas in der Welt bewegen kann

»Die Rebellen«, antwortete Gareth tonlos.

Dorian nickte ernst. »Ich weiß nicht, wie sie es geschafft haben, aber sie haben Alison anscheinend auf ihre Seite gezogen

»Aber … warum würde sie uns dann vor Billings warnen? Und was will sie mit dem geöffneten Tor tun?« Gareth sah seinem Königsdämon die Ungeduld deutlich an, doch er entschloss sich, sie nicht weiter zu beachten. Er musste wissen, was hier vor sich ging.

»Wie ich schon sagte, es war offensichtlich nicht ihr Plan. Vielleicht hat jemand aus dem Lager der Rebellen herausgefunden, wie er uns alle vernichten kann. Oder wir werden alle durch das Tor gezogen? Möglicherweise öffnen sie das Tor zu einer gänzlich anderen Welt?« Er zuckte mit den Schultern. Eine Geste, die Gareth nicht oft bei seinem Gegenüber zu sehen bekam.

»Uns ist noch nichts geschehen. Wir sind noch immer hier

»Offensichtlich. Vielleicht liege ich auch falsch. Nichtsdestotrotz können wir nicht länger hier bleiben. Ich weiß, du hast Gefühle für sie entwickelt, aber es scheint so, als würde sie nicht das Gleiche für dich empfinden. Denkst du nicht, dass wir Elle finden und so schnell wie möglich von hier verschwinden sollten, solange Billings noch mit etwas anderem beschäftigt ist

Gareth nickte, obwohl sein Herz schmerzte.

»Hast du Noah gesehen?«, wechselte Dorian abrupt das Thema.

»Nein«, presste der jüngere Königsdämon hervor.

»Ich hoffe, er findet seinen Weg zu uns

Schweigend stieg Gareth auf sein Pferd und ritt neben Dorian aus den Ställen zum hinteren Ausgang, der unbewacht war. Mehrere Erdrisse zogen sich vor ihnen entlang, doch sie waren noch schmal genug, damit ihre Pferde sie problemlos überspringen konnten. Während eines solchen Sprunges wurde Gareth schwindelig und er musste den Druck seiner Oberschenkel verstärken, um nicht vom Pferd zu fallen.

Er wusste augenblicklich, was das zu bedeuten hatte, auch wenn er dieses Gefühl das erste Mal, als er es gespürt hatte, ignoriert hatte. Alison war verschwunden. Er spürte, dass sie lebte, aber er konnte nicht mehr sagen, wo sie sich aufhielt. Es war, als wäre sie vom Rathaus ins Nichts verschwunden. War sie durch das Tor gegangen? Hatte jemand an ihr die gleiche Droge benutzt wie bei ihrer Entführung?

Er musste sich konzentrieren, auch wenn es ihm unwahrscheinlich schwerfiel. Alles, was er wollte, war, umzukehren und Alison in seine Arme zu schließen. Er glaubte nicht, dass sie ihn verraten hatte. Dann hätte sie ihn nicht warnen müssen. Sie hätte ganz einfach zusehen können, wie Billings die Falle zuschnappen ließ.

Sie hatten das Innere der Stadt erreicht, in dem heller Aufruhr herrschte. Menschliche Sklaven, Schatten- und Königsdämonen liefen hektisch umher, riefen nach Freunden und Familienmitgliedern, während der Wind in den Straßen toste, Sand und Erde aufwirbelte und in ihre Gesichter peitschte. Manche hievten ihr Hab und Gut auf robuste Wagen, andere begnügten sich mit dem, was sie selbst tragen konnten, und rannten möglichst schnell zu einem der Tore. Gareth vernahm Kindergeschrei und die strenge Stimme von Befehlshabern, die für Ruhe und Ordnung sorgen wollten. Nicht mehr lange und auch sie würden einsehen, dass die Stadt verloren war.

Er wusste ganz genau, wo sich Elle aufhielt, da es das Quartier war, das sie für die menschlichen Jäger auserkoren hatten. Sie brauchten mit ihren Pferden nicht sehr lange, da sie sich keinen Weg durch die Menge erkämpfen mussten. Die Menschen und Dämonen wichen freiwillig zurück, um nicht versehentlich unter die Hufen zu geraten.

Vor dem Hintereingang stieg Dorian ab und bedeutete Gareth, auf ihre Pferde zu achten. Sie wussten nicht, wie schlimm der Sturm und das Beben, das für den Moment nachgelassen hatte, noch werden würden. Es machte auch in diesem Viertel den Eindruck, als würden viele von den Bewohnern fliehen wollen, solange sie noch konnten, um nicht von den Trümmern erschlagen zu werden. Es war wichtig, dass Gareth achtgab, trotzdem verspürte er einen schmerzhaften Stich in der Brust. Er hatte tagelang nach Elle gesucht. Er hatte Adam getröstet, während Dorian sich in seinem Arbeitszimmer eingeschlossen hatte.

Er beobachtete, wie dem König die Tür geöffnet wurde und dieser im Haus verschwand. Wo kamen all seine verbitterten Gedanken her? Seit wann erlaubte er sich, so von Dorian Ascia zu denken?

»Gareth!«, rief Elle, noch während sie aus dem Haus stürmte. Er stieg von seinem Pferd und drückte das Mädchen eng an sich. Sie war wie eine Nichte für ihn, auch wenn er weder mit ihrer Mutter noch mit ihrem Vater blutsverwandt war.

»Du wirst uns genau berichten müssen, was geschehen ist«, sagte er bewegt und tätschelte ihre gerötete Wange.

»Wo sind Alison und die anderen Jäger? Und Evan und Crystal?«, entgegnete sie, anstatt ihm eine vernünftige Antwort zu geben.

»Uns bleibt leider keine Zeit, Elle«, mischte sich Dorian ein und legte eine Hand auf ihre schmale Schulter. Sie trug ein unauffälliges Hemd und eine dunkelblaue Hose. Er konnte sich nicht daran erinnern, sie jemals in Hosen gesehen zu haben. »Wenn wir Glück haben, schließen sie später zu uns auf. Lasst uns gehen

Er hob Elle auf sein Pferd, sodass sie seitlich vor ihm saß, dann lenkten sie ihre Pferde durch den einsetzenden Regen. Gareth wünschte sich, er hätte daran gedacht, seinen Umhang mitzunehmen, aber ihre Flucht war zu abrupt gewesen. Und wenn er ehrlich war, wäre er viel lieber für Alison umgekehrt als für seinen Umhang.

Kurz bevor sie das nördliche Stadttor erreichten, setzte ein weiteres schweres Beben ein. Es zwang sie dazu, von den Pferden abzusteigen. Die Tiere wieherten beunruhigt, während der Regen zunahm und die Gebäude um sie herum einstürzten. Regelrecht in sich zusammenfielen.

»Wir müssen laufen«, brüllte Gareth über den Lärm hinweg.

Dorian hob Elle erneut aufs Pferd und befahl ihr, sich an der Mähne des Pferdes festzuhalten. Es musste für den Kampf ausgebildet worden sein und hatte gelernt, sich in Extremsituationen ruhig zu verhalten.

Dorian und Gareth liefen neben den Tieren her und führten sie an den Zügeln durch die zerfallende Stadt. Es war, als würde die Erde wie ein Vulkan brodeln und Gesteinsbrocken ausspucken, denen sie nur mit Mühe ausweichen konnten.

Vor ihnen rannten mehrere Dämonen und Menschen, die aus Panik einzelne Taschen und Koffer fallen ließen, um noch schneller zu sein. Ein tiefes Grollen, das wie das Brüllen eines Gottes klang, rollte über die Stadt hinweg. Gareth warf einen kurzen Blick über die Schulter, bevor er sich auf den vor ihm liegenden Weg konzentrierte. Hinter ihnen war ein riesiges Loch entstanden, das sich nach und nach an den Häusern und den Pflastersteinen gütlich tat. Was auch immer die Rebellen und Alison getan hatten, es würde die Stadt zerstören.

Gareth konnte nicht sagen, dass er Billings eine Träne nachtrauern würde, doch er wusste, dass der Kern der Macht des Königsdämons nicht in der Stadt lag. Seine Armee befand sich an einem anderen, geheimen Ort, den Ascia bis heute nicht hatte herausfinden können. Sie wussten nur, dass die Kasernen irgendwo in den Rayons errichtet worden waren.

Sie traten gerade unter dem Tor hervor, als ihnen von drei Königsdämonen der Weg versperrt wurde. Da sie keine Uniform trugen, schätzte Gareth sie als normale Bürger von Billings ein, was sie jedoch nicht weniger gefährlich machte. Sie hatten die anderen Flüchtenden keines Blickes gewürdigt, sich aber vor sie gestellt.

»Gebt uns die Pferde und wir lassen euch leben«, versprach ihnen der Dämon mit den abstehenden roten Haaren. Seine von Staub und Dreck bedeckten Freunde nickten, glaubten aber nicht wirklich daran, dass es keinen Kampf geben würde, da ihre Körper weiterhin angespannt blieben. Sie waren bereit, sich zu wandeln.

»Ihr solltet uns besser gehen lassen«, betonte Gareth. Er war bei Weitem nicht zum Scherzen aufgelegt und das Letzte, was er wollte, war, weiter aufgehalten zu werden, wodurch sie Elle womöglich noch in Gefahr brachten. »Falls euch euer Leben lieb ist«, fügte er der Vollständigkeit halber noch hinzu.

Der Rothaarige lachte, dann wandelten er und seine Freunde sich, sodass sie innerhalb weniger Augenblicke knurrend mit schwarzen Klauen und verlängerten Reißzähnen angriffen.

Gareth und Dorian waren vorbereitet. Während sich der König ebenfalls wandelte, behielt Gareth seine menschliche Form bei, da er sich im gewandelten Zustand noch immer nicht vertraute. Er zog seinen Dolch, den er an seiner Hüfte trug, und stürzte sich damit auf den Königsdämon, der ihm am nächsten stand. Der Regen störte ihn nicht länger und sein Körper passte sich problemlos an das Beben an, sodass seine Bewegungen präzise und schnell waren. Er duckte sich unter den Klauen hinweg und rammte seinem Kontrahenten mit dem mausbraunen Schnurrbart den Ellenbogen in die Bauchhöhle. Der Dämon stockte nicht einmal in seinen Bewegungen, sondern wirbelte herum, um Gareth nicht den Rücken als Angriffsfläche zu bieten. Gareth war jedoch flinker als er und konnte den Dolch in seinen unteren Rücken stoßen, bevor er wieder aus seiner Reichweite verschwinden musste.

Der Schnurrbartträger knurrte bösartig, als er auf ihn zurannte. Gareth rutschte über den nassen Boden, stützte sich mit den Händen ab und trat dem fremden Königsdämon die Beine weg. Er stürzte zu Boden, wo ihn Gareth mit seinem Körper festhielt und ihm die Kehle durchtrennte. Blut spritzte und vermischte sich mit den dicken Wassertropfen auf Gareths Gesicht.

Flink erhob er sich und sah, dass sich auch Dorian gegen den Rothaarigen durchgesetzt hatte, der nun regungslos auf den Pflastersteinen lag. Eine dunkle Lache bildete sich unter ihm. Der dritte in der Runde brannte von innen heraus, wie es nur Dorian oder Billings zu bewerkstelligen vermochten. Eine grauenvolle, aber effektive Fähigkeit.

Elle hatte derweil auf die Pferde achtgegeben, obwohl wahrscheinlich niemand so waghalsig gewesen wäre, sich in den Kampf einzumischen.

»Kommt«, raunte Dorian, stieg hinter Elle auf und trieb vor Gareth sein Pferd an. Sie durften keine Zeit mehr verlieren. Das Loch hinter ihnen breitete sich weiter aus, saugte das Stadttor auf und verschlang Mensch und Dämon gleichermaßen.

Je weiter sie sich von der Stadt entfernten, desto schwächer wurde das Beben und desto weniger Städtern begegneten sie, da die meisten zu Fuß oder auf Wagen unterwegs waren. Gareth stieg gelegentlich vom Pferd, um an zufällig ausgewählten Baumstämmen eingeritzte Zeichen für die Jäger zu hinterlassen, in der Hoffnung, dass sie dem eingekreisten A einen Sinn beifügen würden. Vielleicht … vielleicht wäre auch Alison unter ihnen.

»Was ist geschehen?«, fragte Elle schließlich, nachdem sie ein kleines Waldstück erreicht hatten.

Der Regen peitschte nicht mehr länger in ihre Gesichter und das Beben hatte gänzlich aufgehört. Es war stockdunkel, doch ihnen machte das nichts aus. Als Schattendämonen hätten sie ihre Umgebung vermutlich so differenziert sehen können, als wäre es taghell, doch auch als Königsdämonen kamen sie gut zurecht. »Hat euch Alison nicht rechtzeitig Bescheid gesagt? Es tut mir leid, dass ich einfach weggelaufen bin …«

»Jemand hat das Tor zu einer anderen Dimension geöffnet«, hörte Gareth Dorian antworten.

»Zu … unserer Heimat?«, keuchte sie, während sie sich eng an den Rücken ihres Onkels kuschelte.

»Die Frage bleibt offen. Alison trägt den Schlüssel in sich, also ist sie zum Teil dafür verantwortlich

Bei diesen Worten verkrampften sich Gareths Hände um die kalten Lederzügel. Wie hatte sie ihm so etwas Wichtiges verheimlichen können? Aber er hatte ihr wiederum auch nicht erzählt, dass sein Bruder für den Tod ihrer Familie verantwortlich war. War ihre Beziehung also nur eine Farce gewesen? Hatte keiner von beiden wirklich an ein gutes Ende geglaubt und dem anderen vertraut?

Die Wahrheit schmerzte ihn noch mehr als er je zugeben würde.