Andreas Schlüter

Die UnderDocks

Verschwörung in der Hafencity

Das Auge der Fliege

Mit Illustrationen von Yannik Lüdemann

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Verschwörung in der Hafencity

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Leon und die Sharks

Heute würden sie ihn nicht bekommen. Gewiss nicht. Leon hatte es sich fest vorgenommen.

Außerdem regnete es Bindfäden und kaum jemand hielt sich länger als unbedingt nötig im Freien auf. Auch wenn die Kleidung jeden Wassertropfen augenblicklich verdunsten ließ, mieden die meisten Menschen schlechtes Wetter. An allen Versuchen, es zu kontrollieren oder künstlich zu verändern, bissen sich die Wissenschaftler noch immer die Zähne aus.

Regen war Leons Wetter. Er liebte es, durch leere Straßen zu gehen, ohne sich alle paar Meter vergewissern zu müssen, ob nicht doch irgendwo eine Gefahr lauerte.

Denn im Regen kamen sie nicht. Die Erfahrung hatte er längst gemacht.

Er musste sich nicht beeilen, gönnte es sich hin und wieder sogar, grundlos stehen zu bleiben, den Kopf in den Nacken zu legen und mit geöffnetem Mund die Tropfen aufzufangen. Obwohl das natürlich ungesund war. Niemand trank Regenwasser. Und seine Mutter hätte entsetzt reagiert, wenn sie es gesehen hätte.

Aber seine Mutter schwebte zu Hause in der obersten Etage des Sumatrakontors in ihrem Arbeitszimmer auf einem Luftkissensitz und hielt eine holografische Konferenz ab. Eine Sitzung, bei der ihre Gesprächsteilnehmer aus fünf Staaten ebenso virtuell neben ihr im Raum hockten, wie sie selbst gleichzeitig in fünf verschiedenen Städten neben ihnen saß. Natürlich nur als dreidimensionale Animation.

Leon genoss einen kurzen Moment mit geschlossenen Augen, wie das verbotene Regenwasser seine Kehle kühlte, und ging dann fest entschlossen weiter.

Diesmal einen anderen Weg. Einen neuen, den er ausprobieren wollte, damit sie ihn künftig auch bei gutem Wetter nicht erwischten.

Er war aufgeregt, wie immer, wenn er einen neuen Weg testete. Und heute ganz besonders, denn dieser Weg war vielversprechend – und verbotener als Regenwasser.

Leon schmunzelte, als er zielstrebig in den Eingang eines Neubaus am Sandtorpark Ecke Überseeallee lief. Vor der Glastür schüttelte er sich ersteinmal das Wasser aus den Haaren.

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Die gesamte Hafencity, die im Jahr 2025 weitgehend fertiggestellt worden war, wirkte wie ein überdimensionierter Spielplatz vieler Architekten. Jeder hatte sich hier, unabhängig davon, ob das Gebäude in die Umgebung passte oder nicht, austoben dürfen und mitunter waren bizarre Bauformen entstanden.

Die Folge war, dass niemand mehr so recht wusste, wie die Grundrisse der Gebäude eigentlich aussahen, ob mit oder ohne Keller, Tiefgarage oder Wellnessbereich. So gab es versteckte Schwimmbäder oder einfach nicht genutzte Gänge und Räume irgendwo im Verborgenen, weil dann doch irgendwann die Baupläne wieder geändert worden waren.

Diesem Zustand verdankte es Leon, dass er immer wieder neue Wege entdecken konnte, die ihn – oft auf verschlungenen und geheimnisvollen Pfaden – zu seiner Schule führten, zu der er eigentlich höchstens fünf Minuten zu Fuß benötigte. Eigentlich. Wenn er glatt durchkam, was in der Regel nicht der Fall war.

Schon manches Mal, wenn er geglaubt hatte, es geschafft zu haben, waren sie doch noch in letzter Sekunde wie aus dem Nichts aufgetaucht. Fast wie die holografischen Projektionen, mit denen seine Mutter arbeitete.

Aber die Sharks waren keine Projektion. Sie waren bittere Realität. Am Ende jeder dieser Begegnungen war Leon sein Bargeld, seine Jacke oder seine Tasche los. Einmal hatten sie ihm sogar seine Schuhe weggenommen. Vor einem halben Jahr war das gewesen, als die ersten Gleitgel-Schuhe, mit denen man mehr über die Straße schwebte als ging, ganz neu auf den Markt gekommen waren.

Seitdem bemühte sich Leon immer wieder um einen neuen Weg zur Schule, auf dem sie ihn nicht erwischen würden.

Er schaute sich noch einmal nach beiden Seiten um, wartete bis einer der Anwohner das Haus verließ, huschte dann durch die noch halb geöffnete Glastür und lief die blank geputzte, glänzende weiße Treppe hinunter in die Dunkelheit der Kellerräume, die zum größten Teil leer standen. Unübersehbar war hier einmal ein Gemeinschafts-Schwimmbecken für die Bewohner geplant gewesen. Über die Gründe, weshalb es immer noch nicht gebaut worden war, ließ sich nur spekulieren. Sie interessierten Leon auch nicht. Was ihn interessierte, war die Tatsache, dass die vielen kleinen Umkleideräume und die vorgesehene Sauna noch nicht ausgebaut waren. Die Wände des Rohbaus wiesen große Löcher für die geplanten Wasser- und Elektroanschlüsse und die Lüftungsschächte auf.

Hier hatte Leon entdeckt, dass eine dieser Maueröffnungen nicht nur in die Kellergänge des benachbarten Bürohauses führte, sondern auch in die Kanalisation unterhalb der Straße. Von dort aus würde er, so hoffte er zumindest, bis zum Dalmannkai gelangen, an dem seine Schule lag.

Nicht einmal das Licht funktionierte hier unten, aber darauf war Leon vorbereitet: Ein sanfter Druck auf die Sensoren in seinem linken Ärmel genügte und zwei LED-Lampen an seiner Schulter leuchteten ihm den Weg. Mithilfe seiner Gleitgel-Schuhe glitt er mühelos über den feuchten Boden des Kellergangs hinweg.

Seine Brille projizierte ihm den Bauplan des Viertels, den er im Internet heruntergeladen hatte, als farbige transparente Straßenkarte vor die Augen und navigierte ihn so zu seinem Ziel. Leider war die Karte ziemlich ungenau. Und obwohl Leon sie mit seinen eigenen Aufzeichnungen verfeinert hatte, wusste er nicht, wie sehr er sich auf die Karte verlassen konnte.

Abrupt blieb Leon stehen.

Von dort, wohin ihn die Navigation führte, meinte er, ein Geräusch gehört zu haben. Im ersten Moment glaubte er an Bauarbeiter. Aber ruhten die Bauarbeiten für diesen Kellerbereich nicht seit Langem? Wer sonst konnte sich hierher in die klammen Kellergänge verirrt haben?

Leon lauschte in die Dunkelheit hinein, hörte aber nichts als seinen eigenen Atem. Als er ihn für einen Moment anhielt, herrschte völlige Stille. Er atmete erleichtert aus und ging weiter.

Am Ende des langen Ganges, kurz bevor er links hätte abbiegen müssen, schrak er erneut zusammen: Schritte!

Jemand ging ohne Gleitschuhe durch den Gang. Der Tritt schwerer Stiefel hallte von den Wänden wider. Leon wandte sich um und – schaute Tjark in die Augen! Verdammt, wo kam der denn her?

Tjark erwiderte Leons fragenden Blick mit einem hämischen Grinsen.

»Gib dir keine Mühe, Zwerg, freu dich einfach, dass ich da bin.« Er kostete wie immer seine Überlegenheit aus und rückte dicht an den gut drei Köpfe kürzeren Leon heran. Der wich unwillkürlich zurück und stieß dabei gegen eine weitere Person.

Träne stand direkt hinter ihm. Natürlich! Träne, der wie ein Schatten niemals von Tjarks Seite wich und stolz darauf war, der bedingungslose Helfershelfer seines Bosses zu sein. Seinen Spitznamen verdankte er einem kleinen Leberfleck unter dem linken Auge.

»Was nehmen wir diesmal, Tjark?«, fragte Träne seinen Boss.

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Eine nicht ganz unberechtigte Frage, wie Leon fand. Denn alles hatten sie ihm irgendwann schon mal geraubt: die Jacke, die Hose, die Schuhe, die Tasche. Jedes Mal hatte Leon seinen Eltern irgendwelche Geschichten aufgetischt, weil es ihm peinlich war, sich regelmäßig von Tjarks Bande ausrauben zu lassen. Sharks, so nannte Tjark sie in Anlehnung an seinen eigenen Namen: Haie.

Meistens behauptete Leon seinen Eltern gegenüber, er hätte seine Sachen im Umkleideraum der Sporthalle liegen lassen und somit verloren. Doch in der Häufigkeit würde diese Ausrede auch nicht mehr lange ziehen.

»Egal«, antwortete Tjark seinem Diener und traf damit den Nagel auf den Kopf. Es ging den Sharks schon lange nicht mehr darum, sich an den Raubüberfällen auf Leon zu bereichern. Es ging nur noch darum, Leon nicht mehr in Ruhe zu lassen. Einfach so.

Mit der Antwort seines Chefs schien Träne allerdings überfordert zu sein. Er konnte sich nicht entscheiden, was er Leon abnehmen sollte.

Tjark grinste noch breiter. »Dann nimm doch alles!«

Leon traute seinen Ohren nicht. Ungläubig starrte er Tjark an. Was sollte das? Meistens hatten sie ihm ein Teil abgenommen. Okay, manchmal drei oder vier. Aber alles? Das hatte es noch nie gegeben! So etwas tat man nicht!

Doch Tjark tat genau das.

Träne musste auch erst eine Sekunde nachdenken, wie dieser Befehl gemeint war. Als er begriffen hatte, langte er zu. Er riss Leon die Jacke vom Leib, griff sich die Tasche, zerrte ihm die Schuhe von den Füßen, befahl Leon, die Hose auszuziehen, und ... stutzte.

»Das auch?«, fragte er und zeigte auf Leons Unterwäsche.

Allein für die Frage hätte Leon Träne am liebsten in den Hintern getreten, wenn er sich getraut hätte.

Tjark grinste Leon an und wiederholte: »Ich hab doch gesagt: alles.« Dann drehte er sich um und ging. Wenig später trottete ihm Träne mit Leons Sachen beladen hinterher.

Leon stand splitternackt da und war froh, wenigstens in einem dunklen Kellergang und nicht etwa oben auf der Straße zu stehen. Er hatte noch keine Idee, wie er nach Hause kommen sollte. Klar war nur: So konnte es auf gar keinen Fall weitergehen!

An diesem Morgen beschloss Leon, endlich seinen Plan, an dem er schon seit einem Jahr arbeitete, in die Tat umzusetzen: Er musste etwas gegen alle Sharks auf diesem Planeten unternehmen!

Es reicht!

Zumindest die Brille hatten die Sharks Leon gelassen. Da er kein Licht mehr besaß, orientierte er sich ausschließlich an dem leuchtenden dreidimensionalen Bild, das ihm der Navigator vor die Augen projizierte, um durch die stockfinsteren Gänge zurückzufinden. Zusätzlich tastete er sich mit den Händen an den Wänden entlang. So wankte er langsam und vorsichtig durch die finsteren Kellergänge bis hinauf zum Ausgang, wo er sich erneut fragte, wie er ungesehen nach Haus kommen sollte. Splitternackt wie er war, schlich er sich aus dem Hauseingang und versteckte sich erst einmal hinter einigen Müllcontainern, von denen aus er hinaus auf die Straße linste. Auch das noch: Der Regen hatte aufgehört und sofort waren wieder mehr Menschen unterwegs.

So konnte er unmöglich sein Versteck verlassen. Wobei ihn die Fahrer der kleinen Wasserstoff- und Solarmobile weniger interessierten. Sie sausten zu schnell an ihm vorbei, um auf ihn aufmerksam zu werden. Hoffte er. Sorgen bereiteten ihm die anderen Schüler, die auf ihren Gleitschuhen, ihren EBikes, solarbetriebenen Skateboards oder ihren Sprungfedern zur Schule unterwegs waren. In einer Großstadt wie Hamburg waren die Leute zwar einiges an Verrücktheiten gewohnt, aber ein Junge, der morgens auf dem Weg zur Schule nackt durch die Straßen rannte, würde sicher ihre Aufmerksamkeit erregen.

Und nicht nur das. Leon wusste: Was einer sah, sah die ganze Welt. Denn natürlich war die Kleidung aller Schüler und anderer Passanten mit Kameras und Internetverbindung ausgerüstet. Es würde keine dreißig Sekunden dauern und er würde sich weltweit in unzähligen Netzwerken nackt durch die Straßen laufen sehen können.

Nein, das kam überhaupt nicht infrage. Ihm musste etwas einfallen. Leon verkroch sich noch weiter hinter dem Container, um nicht gesehen zu werden. Da fiel sein Blick auf ein paar neben den Containern abgestellte Müllsäcke. Sie mussten von der nahe gelegenen Baustelle stammen. Einige der Säcke waren kaum gefüllt.

Er fasste sich ein Herz, zählte leise bis drei, schickte ein Stoßgebet zum Himmel und flitzte, nackt wie er war, los und griff sich blitzschnell den größten Bauschuttsack.

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Da er nichts fand, womit er die Plastiktütenmassen um seinen Bauch hätte festschnüren können, hielt er seine neue Bekleidung mit beiden Händen zusammen und rannte los. Leon konnte sich nicht erinnern, jemals etwas Peinlicheres erlebt zu haben. Immer wieder um sich schauend huschte er zurück nach Hause, wo er allen höheren Mächten dankte, dass der Fahrstuhl leer war.

Oben angekommen, öffnete er die drei Schlösser der massiven Stahltür, die zugesperrt waren, obwohl seine Mutter noch in der Wohnung saß. Jedes Mal, wenn er das tat, wurde ihm bewusst, dass seine Eltern mehr Geld verdienten als der Durchschnitt und dass sie hier in der Hafencity in einem Viertel wohnten, das für die meisten Bewohner dieser Stadt unerschwinglich teuer war. Da aber jene, die deutlich weniger oder auch gar kein Geld besaßen, nur ein paar Straßen weiter lebten, blieben Konflikte nicht aus. Leons Eltern schützten sich durch Stahltüren mit vielen Schlössern. Leon probierte es immer wieder mit der Suche nach neuen Wegen, die ihn an Tjark und dessen Sharks vorbeiführen sollten. Er musste zugeben, die Sicherheitsvorkehrungen seiner Eltern funktionierten irgendwie besser.

Leon lief durch den Flur bis zu seinem Zimmer. Von nebenan hörte er seine Mutter, die noch immer mit ihrer Konferenz beschäftigt war. Er griff sich neue Klamotten aus seinem Kleiderschrank: eine weite, knielange blaue Hose, an der er die vielen Taschen liebte. Dazu ein knopfloses Hemd, das man vorn nur übereinanderlegen musste, damit es sich von selbst schloss. Mit einem Tipp auf das Sensorfeld im linken Ärmel aktivierte er zunächst sämtliche elektronischen Funktionen des Hemds, um gleich darauf im Menü die GPS-Funktion abzuschalten. Seine Mutter sollte nicht nachvollziehen können, wohin er jetzt ging.

Paul, der Hausroboter, rollte ins Zimmer. Er sah aus wie eine lebendige Schaufensterpuppe. Und genau genommen war er auch nichts anderes. Nur vollgestopft mit Technik: Paul konnte hören, sprechen und sehen. Er war eine Mischung aus Putzfrau und Diener, hielt die Wohnung sauber, servierte das Essen und empfing den Besuch. Sogar Akten sortieren und eine Steuererklärung anfertigen konnte er. Und zu Leons Leidwesen half Paul auch beim Ankleiden.

»Schwirr ab, Paul!«, blaffte Leon den Roboter an.

»Wieso bist du nicht in der Schule?«, fragte Paul ungerührt zurück.

Leon stöhnte auf. Da war es ihm so gut gelungen, sich an seiner Mutter vorbeizuschleichen. Und jetzt musste er sein Erscheinen dieser sprechenden Puppe erklären!

»Ich hab ein wichtiges Buch vergessen«, schwindelte er.

Paul schüttelte den Kopf. Eine Funktion, die Leons Vater sich fünfhundert Euro hatte kosten lassen. »Das Kopfschütteln macht ihn irgendwie menschlicher!«, fand er. Aber Leon und seine Mutter hassten diese Funktion. »Eine Maschine bleibt eine Maschine!« Darin waren sie sich einig.

»Ist ja gut«, meckerte Leon jetzt. »Das wäre dir natürlich nicht passiert! Tschüß Paul!«

»Nein!«, bestätigte Paul. »Aber ich darf die Schultasche ja nicht packen!« Er machte kehrt und verließ das Zimmer.

Noch so eine Funktion, die Leon auf die Nerven ging. Paul war zickig und schnappte so schnell ein wie eine Diva. Leons Vater bestritt dies vehement und versicherte, dass er eine solche Funktion weder bestellt noch bezahlt hatte.

Leon musste sich beeilen. Denn es würde nicht lange dauern, bis Paul seine Mutter informiert haben würde. Es gab nichts Ätzenderes, als einen Petzer im Haus zu haben, dem nichts entging und der nie etwas vergaß.

Inzwischen hatte Leon beschlossen, die Schule zu schwänzen und stattdessen seinen Lieblingsort aufzusuchen – seine geheime Zuflucht, an der er seit einem Jahr jede freie Minute arbeitete und von der niemand etwas wusste. Sie würde mehr werden als ein Versteck: seine Schaltzentrale, die Höhle des Batman sozusagen. Ein Kommandozentrum, in das er sich zurückziehen konnte, ausgestattet mit einem kleinen Chemielabor und natürlich der besten Computertechnik, um Informationen zu beschaffen oder bestimmte Personen zu überwachen. Er hatte sogar einen Kleiderschrank und einen Schminktisch, um sich bei Bedarf tarnen zu können. Nur einen Raum brauchte er noch, in dem er Kraft, Beweglichkeit und in Zukunft vielleicht sogar ein paar Kampftechniken trainieren konnte. Dafür war sein Unterschlupf zu klein.

Leon wollte sich wandeln, vom ewigen Opfer zum Jäger. Schon lange träumte er davon, so zu werden wie seine Superhelden, die er in den uralten Comics seines Großvaters kennengelernt hatte. Zwar besaß er keine außergewöhnliche Eigenschaft wie die meisten der Comic-Helden. Aber sie lebten im Jahr 2050. Fast hundert Jahre nachdem die ersten dieser Comics herausgekommen waren. Manche der Supereigenschaften seiner Helden gehörten heutzutage längst zum Alltag. Keiner brauchte mehr einen Superman mit Röntgenblick, man setzte einfach eine entsprechende Brille auf. Die normale elektronische Thermokleidung war den meisten Anzügen, die diese Superhelden sich selbst geschneidert hatten, bei Weitem überlegen. Besondere Sinne oder Peilsender waren überflüssig, weil es mit Handy- und GPS-Ortung ein Kinderspiel war, jemanden zu finden.

Alles was man tun musste, um wenigstens halbwegs wie ein Superheld handeln zu können, war, all diese technischen Möglichkeiten zu bündeln und zu beherrschen. Genau daran arbeitete Leon seit einem Jahr. Den Überfall der Sharks an diesem Morgen und seine Demütigung hatte er als ein Zeichen verstanden. Ein Zeichen, nicht länger zu zögern, sondern seinen Kampf gegen die Sharks endlich aufzunehmen. Die Sharks waren zu weit gegangen!

Leon besaß ein funktionierendes Kommandozentrum. Ab jetzt galt es, Mitstreiter zu gewinnen. Unerschrockene Kinder, die bereit waren, sich dem Terror der Sharks entgegenzustellen. Leon hatte noch keine Idee, wo er die finden sollte. Aber er glaubte fest daran, dass es genügend mutige Leute in seinem Alter gab. Es musste ihm nur gelingen, eine oder zwei Aktionen durchzuführen, die bewiesen, dass die Sharks gar nicht so unverwundbar waren. Leon war bereit, die erste Aktion zu planen und umzusetzen.

So wie Tjark eine Bande des Unrechts und des Terrors gebildet hatte, würde Leon eine Organisation des Rechts und des Widerstands gründen. Eine Art Geheimdienst. Wobei Leon weniger irgendwelche Agenten oder Spione zum Vorbild hatte als vielmehr einen seiner Comic-Helden. Einen einzigen gab es da, der über keine speziellen Fähigkeiten verfügte und dennoch den Kampf gegen das Böse aufgenommen hatte: Batman! Er setzte Geld, Technik, Training und Mut ein. Genau so wollte Leon sein. Seine Eltern hatten Geld, die Technik hatte er weitgehend zusammen, seit einem Jahr arbeitete er an einem Kraftund Ausdauerprogramm – wenngleich er zugeben musste, dass er das Training oft vernachlässigt hatte. Entschlossen verließ Leon die Wohnung und zog los zu seinem Versteck, dem Zentrum seines neuen zweiten Lebens, hinunter in die Schwarze Kammer.

Die Schwarze Kammer

Noch nie hatte Leon vor der Schule seine Kammer betreten. Denn das war die Zeit, in der die Sharks kamen. Heute aber hatten sie ihm schon aufgelauert und so fühlte er sich sicher, unbeobachtet den Weg zu seinem geheimen Versteck gehen zu können. Er empfand einen gewissen Stolz, dass es ihm seit mehr als einem Jahr gelungen war, diesen Ort vor der gesamten Außenwelt geheim zu halten. Nicht einmal seine Eltern ahnten auch nur im Entferntesten etwas von seinem Quartier.

Schwarze Kammer hatte er sein Versteck genannt, weil der fensterlose, unterirdische Raum kein Tageslicht einließ und fast noch kleiner war als die Vorratskammer in der Wohnung seiner Eltern. Das störte Leon aber nicht weiter, denn für ihn reichte der Platz vollkommen aus. Entstanden war der Raum beim Bau des U-Bahntunnels, der die Innenstadt mit der Hafencity verband. Vielleicht war er ursprünglich als Material- oder Abstellraum für Bahnarbeiter vorgesehen gewesen, denn er lag ganz in der Nähe der U-Bahnhaltestelle Überseequartier. Gleich um die Ecke wohnte Leon. Ganz offensichtlich aber schien niemand den Raum zu benötigen.

Zuerst hatte Leon nicht mal geahnt, dass der Raum mit dem U-Bahn-System zusammenhing. Denn entdeckt hatte er ihn von der anderen Seite, als er wieder einmal auf der Suche nach einem neuen unterirdischen Weg in die Schule gewesen war.

An jenem Morgen war er an einem Kanaldeckel vorbeigekommen, der wegen irgendwelcher Straßenbauarbeiten offen stand. Kurzentschlossen war Leon hineingeschlüpft und unten in der Kanalisation gelandet, wo ein zwar glitschig nasser, aber durchaus komfortabler und vor allem beleuchteter Weg an einem unterirdischen Abwasserkanal entlangführte.

Seine Navigationsbrille hatte ihn Richtung Schule geführt, direkt an einer kleinen Abzweigung vorbei, an der Leon stehen geblieben war. Bis heute konnte er nicht sagen, was ihn dazu bewogen hatte, nicht weiter seinem Navigator zu folgen, sondern stattdessen diese Abzweigung zu nehmen. Nach kurzer Zeit war Leon auf eine nur angelehnte Tür gestoßen, hinter der sich der kleine, dunkle Raum befand. Schon beim ersten Blick hinein hatte für ihn festgestanden, dass dies exakt der Ort war, den er sich für seine Zwecke immer gewünscht hatte.

Leon hatte nun den Kanaldeckel erreicht, den er nach wie vor meistens als Ein- und Ausstieg zu seinem geheimen Sitz benutzte.

Es gab noch einen anderen Weg über den Bahnsteig der U-Bahnstation. Doch da Bahnsteige videoüberwacht wurden, nahm er diesen Weg nur selten.

Wie immer schaute er sich so unauffällig wie möglich nach allen Seiten um, ob ihn jemand beobachtete. Dann sicherte er sich zusätzlich ab, indem er mit dem Finger auf seinen Sensorenärmel tippte. Der kleine, im Stoff eingelassene, flexible Bildschirm zeigte ihm die drahtlosen Netzwerke an, die in seiner Umgebung aktiv waren. Natürlich waren es etliche. Jeder Haushalt, jedes Büro, jedes Fahrzeug besaß WLAN. Aber im Lauf des Jahres hatte Leon vor allem die Netzwerke derjenigen gespeichert, die ihm gefährlich werden konnten. Auf dem Display erschien keine Warnung. Also war vermutlich auch keiner der Sharks in der Nähe – zumindest keiner, der sein WLAN angeschaltet hatte. Leon war damit zufrieden und bückte sich, um den Kanaldeckel zu öffnen, als er eine Stimme hörte, die ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ: »Haltet ihn!«

Tjarks Stimme!

Auch Tjark war natürlich klug genug, sein Netzwerk auszuschalten, wenn er sich Leon näherte, und sich damit zumindest elektronisch unsichtbar zu machen. So gelang es ihm immer wieder, wie ein Geist vor Leon aufzutauchen.

Aber von Tjark selbst war nichts zu sehen. Stattdessen tauchte ein Junge an der Straßenecke auf, der sich hektisch nach allen Seiten umsah. Er trug einen großen, schwarzen Kasten auf dem Rücken. Seiner Form nach ein Koffer für eine Posaune. Das Gewicht des Instruments schien dem Jungen bei seiner Flucht schwer zu schaffen zu machen.

»Nicht da, hier entlang!«, hörte Leon Tjark brüllen. Die Sharks waren also tatsächlich hinter dem Jungen her. Sie mussten jeden Moment auftauchen.

Ein Wink des Schicksals! Kaum hatte Leon beschlossen, den Kampf gegen die Sharks aufzunehmen, tauchte auch schon das erste Opfer auf, das seine Hilfe benötigte. Er durfte nicht wegsehen wie sonst!

Doch da raste bereits Tjark um die Ecke. Und noch ehe Leon dem fliehenden Jungen irgendeine Warnung zurufen, ihm ein Zeichen geben oder ihn in Sicherheit bringen konnte, hatte Tjark ihn schon eingeholt und geschnappt. Gleich nach ihm erschienen Träne und die anderen Sharks.

Leon schlich zu einem Mauervorsprung, hinter dem er sich verbarg und die Szene weiter beobachtete. Es folgte das, was er nur zu gut kannte: Die Sharks umringten den Posaunenjungen und begannen, ihn systematisch auszuplündern. Doch auch diesmal begnügten sie sich nicht wie bisher üblich mit ein oder zwei Teilen. Sie nahmen die Multifunktionsjacke, die Geldbörse, die Solarmotor-Schuhe, die vor den Gleitgel-Schuhen modern gewesen waren, und sogar die veraltete Hose, die außer ihrer Klimafunktion keinerlei technische Ausstattung besaß. Leon wusste gar nicht, dass es solche Hosen überhaupt noch gab. In Null Komma nichts stand der Junge nur in Unterhosen da, mit seinem Posaunenkoffer im Arm und Tränen in den Augen.

Leon trat aufgeregt von einem Bein aufs andere. Er wusste, er musste helfen. Er wollte es auch. Aber verdammt noch mal, er traute sich nicht. Leon zögerte, presste die Lippen zusammen und machte dann entschlossen einen Schritt nach vorn. Wenn er jetzt kniff, würde es wieder nichts werden mit seinem Aufstand gegen die Sharks. Er musste ein Zeichen setzen. Jetzt!

Doch schon wich er wieder einen Schritt zurück. Die Sharks waren zu viert! Was sollte er da ausrichten?

Alle Sachen des Posaunenjungen lagen um ihn herum verstreut auf dem Boden. Träne war schon dabei, alles einzusammeln, während Tjark den armen Jungen gehässig angrinste. Genau wie er am Morgen Leon angegrinst hatte. Leon durfte nicht zulassen, dass sie auch diesen Jungen splitternackt auszogen. Aber wie sollte er es verhindern? Verzweifelt blickte er sich um, scannte die Umgebung nach etwas Nützlichem ab, einer Idee, etwas, das ...

Plötzlich hatte er es!

Ein einfacher Müllcontainer. Doch diese Müllcontainer waren bei Weitem nicht so harmlos, wie sie aussahen. Das Geschäft mit dem Müll boomte und zwischen den verschiedenen privaten Müllfirmen tobte ein heftiger Konkurrenzkampf. Infolgedessen kennzeichnete jede Firma ihre Container nicht nur mit einer eigenen Farbe, sondern hatte diese auch alarmgesichert. Die Konkurrenz sollte die Container nicht einfach stehlen und eigene anliefern können.

Leon rannte auf einen roten Müllcontainer zu, der nur wenige Meter entfernt von ihm stand, und zog ihn von seinem markierten Standort fort. Sofort ertönte ein ohrenbetäubender Alarm. Der Container war offenbar erst vor Kurzem entleert worden, denn er war leicht. Bevor Leon wieder hinter der Mauer verschwand stieß er ihn mitten auf die Straße, genau vor ein heransurrendes Wasserstoffmobil, das mit quietschenden Reifen gerade noch zum Stehen kam. Die Glashaube, die den Wagen verschloss, versank in der Karosserie und der Fahrer sprang heraus. Er stützte die Hände in die Hüften und warf den Sharks einen bösen Blick zu.

Tjark und seine Bande sahen sich verwirrt um.

Schon eilten zwei Security-Mitarbeiter der Müllfirma, durch den Alarm herbeigerufen, um die Ecke.

Der Fahrer zeigte wortlos auf die Sharks. Die begriffen erst jetzt, dass sie in der Klemme steckten.

»Abhauen!«, rief Tjark.

Träne ließ alles fallen, was er in den Händen hielt, und die vier Sharks rannten, so schnell sie konnten, davon. Die zwei Security-Mitarbeiter setzten ihnen sofort nach, während der Fahrer des Wagens nur kopfschüttelnd hinterhersah, bevor er sich wieder in sein Gefährt setzte, per Knopfdruck die Glashaube schloss und davonsurrte.

Zurück blieb der Posaunenjunge inmitten seiner verstreuten Sachen. Jetzt erst traute sich Leon aus seinem Versteck, ging langsam auf den Jungen zu und half ihm, alles wieder einzusammeln. Der Junge sah Leon zuerst skeptisch an, begriff dann aber, wie der Container auf die Straße geraten war.

»Danke!«, sagte er. »Das war eine gute Idee!«

Leon nickte. »Hätte aber auch schiefgehen können. Sich mit der Müll-Security anzulegen, ist bestimmt nicht viel angenehmer als mit den Sharks.«

»Sharks?«, fragte der Junge, während er schnell in seine Hose schlüpfte.

Leon starrte ihn an. »Sag bloß, du kennst die Sharks nicht?«

»Wir sind gerade erst in die Hafencity gezogen. Vorher waren wir oben in den Walddörfern.« Er warf sich sein Hemd über, das umständlich zugeknöpft werden musste. Solche Hemden kannte Leon nur von seinen Großeltern.

»Die Sharks sind auch nicht von hier«, erklärte Leon. »Die kommen aus Downtown.«

»Dem Ghetto bei der Amsinckstraße?«, fragte der Posaunenjunge. Er hatte schon von dem früheren Büroviertel gehört, das seit Jahrzehnten leer stand. Vor einigen Jahren hatte man die vernachlässigten Geschäftshäuser notdürftig renoviert, manche auch abgerissen und durch hässliche, kastenförmige Hochhäuser ersetzt. Heute war das gesamte Viertel völlig heruntergekommen und außer den Anwohnern ging hier niemand mehr freiwillig zu Fuß durch. Es wurde im Volksmund einfach »Downtown« genannt. Die Menschen, die hier lebten, sprachen den Namen oft mit Wut im Bauch aus, weil sie sich ausgegrenzt fühlten, andere aber mit einem gewissen Stolz darauf, dass allein der Name bei vielen Bürgen Angst und Schrecken auslöste. Downtown war die Heimat der Sharks.

Leon nickte. »Aber da gibt es nichts zu holen. Also suchen sie sich ihre Opfer hier. Am liebsten mich.«

»Dich?«

Leon erzählte seine Geschichte mit den Sharks. Weshalb ausgerechnet er zum Lieblingsopfer der Sharks geworden war, wussten die Sharks vermutlich selbst nicht. Vielleicht, weil Leon so klein war. »Opfer« und »Zwerg«, so nannten sie ihn. Vielleicht auch, weil Leon bislang jeden Überfall so klaglos hatte über sich ergehen lassen. Oder es war einfach nur ein blöder Zufall.

»Oje!«, seufzte der Posaunenjunge, als Leon seine Erzählung beendet hatte. »Muss ja schlimm sein. Und die beherrschen die ganze Hafencity?«

Leon wunderte sich, dass mehr Interesse als Angst in der Frage des Jungen mitschwang.

»Bis heute!«, antwortete er.

Der Junge sah in die Richtung, in die die Security-Männer die Sharks verfolgt hatten. »Du meinst, die schnappen die?«

Leon winkte ab. »Die doch nicht. Die interessieren sich nur für ihre Container, nicht für Menschen, die überfallen werden. Schon gar nicht für Kinder.«

»Aha!«, sagte der Posaunenjunge. »Und wer beendet dann das Treiben der Bande?«

»Na, ich natürlich!«, erklärte Leon voller Überzeugung.

Die beiden Jungs blickten sich stumm an. In Leons Blick lag die spannende Erwartung, was der Junge wohl zu seiner Ankündigung sagen würde. Der Junge musterte Leon skeptisch, ob er es wohl ernst meinte. Dann hatte er sich entschieden.

»Cool!«

»Cool?« Das war ehrlich gesagt nicht die Reaktion, die Leon erwartet hätte.

»Klar, cool!«, wiederholte der Junge. »Machst du’s allein? Oder brauchst du noch Hilfe?«

Leon grinste den Jungen an. Er gefiel ihm.

»Ich heiße übrigens Pepito«, stellte sich der Posaunenjunge vor.

Leon runzelte die Stirn. »Wie bist du denn zu diesem Namen gekommen?«

»Ich vermute, der Name ist das Ergebnis eines Zufallsgenerators im Computer«, erklärte Pepito. »Auch wenn meine Eltern es abstreiten. Nenn mich einfach Pep.«

»Okay, Pep. Ich bin Leon.«

»Und?«, setzte Pep nach.

»Was, und?«

»Brauchst du meine Hilfe im Kampf gegen die Sharks?«

Obwohl Leon Pep noch keine zehn Minuten kannte, beschloss er, ihn in sein Geheimnis einzuweihen.

»Klar! So einen wie dich kann ich bestimmt gebrauchen. Komm mit!«

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Pep sah sich erfürchtig in der Schwarzen Kammer um. »Das hast du alles allein aufgebaut?«

»Ja, und du bist der Erste, dem ich diese Kammer zeige«, gestand Leon. »Und vielleicht auch der Einzige.«

»Du wirst es nicht bereuen«, versprach Pep. »Denn auch ich bin ein Auserwählter.«

Leon zog die Augenbrauen hoch. Dieser Pep steckte voller Überraschungen.

»Auserwählt wofür?«

Pep zog die Schultern hoch. »Das habe ich leider noch nicht herausbekommen.«

Leon lachte auf. »Na super! Woher willst du dann wissen, dass du auserwählt bist?«

Pep blieb ernst. »Weil ich ein besonderes Talent habe.« Er deutete auf den Posaunenkoffer.

Leon verzog das Gesicht. »Okay, du kannst Posaune spielen«, räumte er ein. »Aber erstens können das viele. Und zweitens ist es nicht gerade das, was ich unter einem Auserwählten verstehe.«

Pep sah Leon ungerührt an. »Los, öffne den Koffer!«

Fast schon gelangweilt kniete sich Leon vor den Koffer und öffnete die Verschlüsse.

Pep blieb seitlich von ihm stehen und beobachtete ihn amüsiert.

Leon hob den Deckel an – und schreckte zurück. In dem Koffer lag statt eines Musikinstruments ein bewundernswerter Hightech-Bogen!

»Gut, oder?«, fragte Pep grinsend.

»Du bist Bogenschütze?«, hauchte Leon erstaunt.

»Der beste!«, behauptete Pep stolz.

»Darf ich?«

Pep nickte.

Vorsichtig nahm Leon den prachtvollen Bogen heraus, der erstaunlich leicht war.

»Auf was schießt du?«, fragte er.

Die Antwort versetzte ihn erneut in großes Staunen: »Auf Kirschen! Zuerst auf Kürbisse. Die wurden als Ziel schnell zu groß. Dann auf kleinere Melonen, anschließend auf Äpfel. Jetzt auf Kirschen.« Und damit keine Zweifel an seinem Können aufkamen, fügte er noch hinzu: »Aus zwanzig Metern Entfernung.«

Leon war beeindruckt. Das konnte in der Tat nur ein Auserwählter.

»Und was kannst du?«, fragte Pep.

Leon griff sich einen der Glaskolben aus seinem Chemielabor, der eine grün-blaue Flüssigkeit enthielt. Es war nicht etwa eine Mischung aus beiden Farben, denn erstaunlicherweise blieben sie säuberlich voneinander getrennt – und zwar senkrecht! Links grün und rechts blau. Pep dachte im ersten Moment natürlich, dass in dem Kolben eine durchsichtige Trennwand eingebaut war. Doch als er genauer hinsah, erkannte er, dass es sich um eine einzige Flüssigkeit handelte, die auf diese sonderbare Weise zweifarbig war.

»Nicht anfassen!«, warnte Leon und zog Peps Hand zurück.

Pep hob beide Hände. »Schon gut, schon gut. So etwas habe ich noch nie gesehen.«

»So etwas gibt es eigentlich auch gar nicht«, gestand Leon. »Ich weiß noch nicht, was es bedeutet.«

Pep hob eine Augenbraue.

»Ich bin dabei, eine neue Substanz zu entwickeln. Eine Tarnhaut«, erklärte Leon.

Pep hob nun auch noch die andere Augenbraue.

»Ähnlich wie ein Chamäleon seine Haut verfärbt oder sich manche Fische komplett der Umgebung anpassen, um nicht entdeckt zu werden, will ich ein Spray für die Haut entwickeln, mit dessen Hilfe man zum Beispiel vor einer grauen Betonwand so gut wie unsichtbar ist.«

»Aber die Kleidung, die man anhat, sieht man doch!«, wandte Pep ein.

Leon stimmte ihm zu. »Das ist eines der noch ungelösten Probleme.«

»Aber nackt funktioniert es?«, staunte Pep.

Leon schüttelte den Kopf. »Nein. Bisher habe ich es nur geschafft, die Haut blau und grün zu färben. Nicht viel besser, als sich mit Farbe anzumalen. Aber immerhin grün und blau im Wechsel!«

Leon schob den linken Ärmel hoch und zeigte Pep eine etwa spielkartengroße, tiefblaue Fläche auf seinem Unterarm, die sich, während Pep draufschaute, metallisch grün verfärbte.

»Sieht cool aus«, fand Pep. »Und wie bekommt man das wieder ab?«

»Gar nicht«, gab Leon zu. »Wie gesagt: Es funktioniert noch nicht.«

Pep zuckte nur mit den Schultern. »Schade. Aber das schaffst du bestimmt noch. Hast du sonst noch irgendwelche Erfindungen gemacht?«

»O ja!«, antwortete Leon und öffnete einen Schrank, der voller Kleider war.

»Mmh«, stutzte Pep. »Ich nehme an, das sind keine normalen Klamotten?«

»Natürlich nicht«, bestätigte Leon. »Das alles sind Experimente, mehr oder weniger ausgereift. Diese hier ...«, er zog zwei Arbeitsjacken aus dem Schrank, »... werden wir morgen tragen und damit den Sharks einen ersten Denkzettel verpassen. Ich warte schon lange auf jemanden, mit dem ich es ausprobieren kann.«

Pep grinste. »Auf mich kannst du zählen!« Er zog die Jacke über. »Hübsch ist was anderes ...«

»Du musst sie morgen nur kurz tragen. Die Sharks werden mit Sicherheit versuchen, uns die Jacken auszuziehen«, prophezeite Leon. »Und dann werden sie ihr blaues Wunder erleben. Wichtig ist, dass ich dann alles mit der Kamera aufnehme.« Er zeigte auf die eingebaute Mini-Cam in seiner Brille. »Wir werden in der Schule ein Zeichen gegen die Sharks setzen.«

Das gefiel Pep. »Ich bin dabei. Und wenn sich die Gelegenheit bietet, jage ich den Sharks noch ein paar Pfeile in den Hintern!«

Lachend schlugen die beiden die Hände gegeneinander.

»Die werden sich wundern, wenn ihnen zwei Underdogs wie wir morgen die Hölle heiß machen!«, freute sich Leon.

»Underdogs?« Pep stutzte und betrachtete Leon, der klein und schmächtig vor ihm stand. Auch Pep besaß nicht gerade eine Furcht einflößende Statur. Leon hatte schon recht: Sie beide waren wirkliche Underdogs, denen niemand zutrauen würde, dass sie die Sharks besiegen konnten.

»Wenn schon, dann aber UnderDocks«, betonte Pep. »Mit ck wie die Docks, in denen Schiffe repariert werden. Schließlich sind wir hier im Hafen.«

»Das ist gut«, lachte Leon. »Die UnderDogs unter den Docks: UnderDocks. Das ist sogar genial!«

»Auf die UnderDocks!«, rief Pep feierlich und blickte sich suchend um. »Äh, hast du was zum Anstoßen?«

»Klar!«, antwortete Leon. »Bananensojamilch!«

Pep verzog das Gesicht. Er hatte jetzt eigentlich mehr an ein ganz normales Getränk gedacht wie Cola oder Orangensaft.

»Meine Mutter trinkt die immer«, erklärte Leon. »Die konnte ich am leichtesten zu Hause abzwacken. Schmeckt aber auch echt gut.«

»Also«, gab sich Pep schluterzuckend zufrieden, »dann eben mit Bananensojamilch: Auf uns UnderDocks!«

»Prost!«, rief Leon. Und freute sich. Er hatte seinen ersten Mitstreiter gefunden.

Die UnderDocks in Aktion

Schon am nächsten Tag brannten Leon und Pep darauf, ihr Vorhaben, den Sharks den Kampf anzusagen, in die Tat umzusetzen.

Pep erschien pünktlich vor Leons Haus, um ihn abzuholen. Aber zu Leons Erstaunen hatte er nichts bei sich, außer seiner kleinen Schultasche mit dem iPad.

Eigentlich hatte Leon gedacht, er würde zu ihrem ersten Einsatz seinen Bogen mitbringen. Womit sonst wollte er den Sharks einen Pfeil in den Hintern jagen?

»Ich hab alles dabei«, versicherte Pep. »Vertrau mir!«

Entschlossen machten die beiden sich auf den Weg.

Jetzt kam es drauf an!

Heute würden sie den Sharks zum ersten Mal etwas entgegensetzen.

»Nichts zu sehen«, sagte Pep nach wenigen Schritten.

»Sie werden kommen«, versicherte Leon. »Sie kommen jeden Morgen.«

Und sie kamen.

Fast hatten Pep und Leon den Eingang der Schule schon erreicht und für einen Moment tatsächlich geglaubt, sie könnten an diesem Morgen unbehelligt in den Unterricht gehen, als wieder mal wie aus dem Nichts Tjark vor ihnen stand.

»Sieh an, die beiden Hosenscheißer haben sich angefreundet«, frotzelte er. »Wir haben noch ’ne kleine Rechnung offen.«

Hinter Pep und Leon tauchten Träne und zwei weitere Sharks auf.

Leon kannte die beiden schon: Flachnase und Matschauge. Zwei bescheuerte Spitznamen, die aber gut zu ihnen passten.

Flachnase musste sich bei irgendeiner Keilerei mal die Nase gebrochen haben. Der Knick in seinem Nasenbein war jedenfalls nicht zu übersehen. Und Matschauge hatte auffällig wässrige Augen mit dicken Tränensäcken, so als lebte er mit einer dauerhaften Augenentzündung.

»Was haben wir denn heute im Angebot?«, fragte Tjark.

»Vielleicht einen Tritt in deinen Hintern?«, antwortete Pep selbstbewusst.

»Du hältst dich wohl für besonders witzig, du Schrotteimer?«, blaffte Tjark Pep an und packte ihn mit beiden Händen am Kragen.

Da passierte es: Peps Kragen riss von seiner Jacke ab und blieb an Tjarks Händen haften. Tjark schüttelte seine Hände, damit die Stoffreste abfielen, aber sie klebten an ihm wie ein altes Kaugummi auf Asphalt.

»Äh?«, wunderte sich Tjark. »Was ist das denn?«

»Es funktioniert!«, triumphierte Leon.

Jetzt begriff Pep die Besonderheit von Leons Jacken. Leon hatte sie so präpariert, dass sich Kragen und Ärmel leicht lösten. Zusätzlich hatte er diese Teile mit einem besonderen Klebstoff behandelt. Deshalb hatte Leon ihm am Vortag noch eingeschärft, er solle die Jacke ganz vorsichtig an- und ausziehen.

Leon nutzte Tjarks Verwirrung, nahm seinen ganzen Mut zusammen – und trat Tjark mit voller Wucht gegen das Schienbein.

Tjark jaulte auf, hinkte nun auch noch, während er weiterhin versuchte, die klebrigen Stoffreste von den Händen zu bekommen.

Kaum hatte Leon zugetreten, gingen Flachnase und Matschauge auf ihn los und zogen ihn an den Armen von ihrem Chef fort. Doch Leons Ärmel rissen sofort von seiner Jacke ab wie zuvor Peps Kragen und blieben an den Händen der beiden Angreifer haften. Ihre Reaktion ähnelte der ihres Chefs auf verblüffende Weise.

»Häää?«, machte Flachnase.

»Iiiiihh!«, ergänzte Matschauge.

Nur Träne stand wie versteinert da und wusste nicht, was er tun sollte.

Pep schaltete schnell. Aus seiner Tasche zog er eine extrem kleine Mini-Armbrust, zielte und jagte Flachnase und Matschauge nacheinander jeweils einen Pfeil in den Hintern.

Die Geschosse waren so klein, dass Dorn als Bezeichnung wohl eher zutraf. Winzig, aber hocheffektiv. Denn die beiden Sharks jaulten auf, als hätten ihnen Monster-Wespen die Stiche versetzt, hielten sich die Hände auf die Pobacken und sprangen wild hin und her.

Das war genau das Bild, das Leon haben wollte. Er drückte eine Sensortaste seiner Brille und die Mini-Cam machte ein wunderschönes Video von den umherhampelnden Sharks.

Erst nachdem Leon eine Minute lang die lächerlich wirkenden Sharks aufgenommen hatte, sauste er mit Pep los: durch das Schultor, über den Hof, hinein in den Klassenraum.

Dort erst blieben die beiden stehen, schnauften kurz durch, schlugen die flachen Hände gegeneinander und grinsten sich an.

»Genial, deine Jacken!«, jubelte Pep.

»Ja!«, freute sich Leon, während er sich die ärmellose Jacke auszog. »Ärmel und Kragen sind perforiert, damit sie leicht abgehen, und mit einem speziellen Sekundenkleber bearbeitet, den ich selbst entwickelt habe. Sie werden lange brauchen, bis sie das Zeug wieder los sind. Ehrlich gesagt, habe ich die Jacken zum ersten Mal eingesetzt. Hätte auch schiefgehen können. Aber deine Mini-Armbrust ist auch genial.«

Leon lachte, noch nie zuvor hatte er es geschafft, den Sharks zu entkommen ohne vorher ausgeraubt zu werden. Er wusste, er und Pep gaben ein hervorragendes Gespann ab.

Und dann fiel ihm plötzlich etwas vollkommen Verrücktes ein: Er hatte sich zwar mit Pep am Morgen verabredet, aber er hatte in der ganzen Aufregung völlig vergessen, Pep nach seiner Schule zu fragen. Womöglich musste der ganz woanders hin.

Pep schaute sich daraufhin im Klassenraum um wie in einer fremden Stadt.

»Welche Klasse ist das denn hier?«, fragte er.

»Die 6a«, klärte Leon ihn auf.

»Oh«, stellte Pep fest. »Dann bin ich falsch. Ich muss in die 6c.«

»An dieser Schule?«, hakte Leon nach. »Seit wann gehst du hier zur Schule?«

»Seit heute«, antwortete Pep. »Wir sind doch gerade erst in die Hafencity gezogen.«

»Dann Willkommen!«, rief Leon stahlend.

Pep nahm den Willkommensgruß dankend an, denn er wusste, der Gruß bezog sich nur zur Hälfte auf die Schule, zur anderen Hälfte galt er ihrem neuen Bündnis. Zufrieden zog er los.

Und da erschien auch schon Mister Smith wie ein Teufel aus der Hölle mitten im Klassenraum und begrüßte die Kinder so, wie er es immer tat: Er flammte in verschiedenen Farben auf.

Denn Mister Smith kam nicht persönlich in den Unterricht, sondern war – genau wie Leons Mutter bei ihren Geschäftsbesprechungen – nur als Holografie anwesend. In Wirklichkeit befand er sich in seiner Klasse an einer Londoner Eliteschule. Per holografischer Übertragung unterrichtete er alle sechsten Klassen von Leons Schule gleich mit. So hatten Leon und Pep denselben Unterricht, obwohl sie in verschiedenen Klassen in unterschiedlichen Räumen saßen.

Leider konnte Mister Smith seine Schüler wesentlich besser kontrollieren als jeder real anwesende Lehrer. Denn den zugeschalteten Videokameras entging einfach nichts. Aus jedem Blickwinkel, wahlweise mit Zoom, in Slow Motion, als Wiederholung oder Standbild, übertrugen sie alles für Mister Smith.

Abbildung_p52

Leon musste sich wohl oder übel auf den Unterricht konzentrieren. Trotzdem bereitete er in Gedanken schon den nächsten Schritt im Kampf gegen die Sharks vor.

Die Sharks waren im Stadtteil berühmt und berüchtigt. Fast jeden Schüler von Leons Schule hatten sie mindestens einmal ausgeraubt, bedroht oder sogar verhauen. Alle machten einen großen Bogen um sie.

Leons Plan bestand darin, die zweifelhafte Prominenz der Sharks zu nutzen. Es war ein Leichtes, sich mithilfe seines Multifunktionsanzugs auf die Webseite der Schülerzeitung einzuloggen und das eben aufgenommene Video mit den zappelnden Sharks auf den Server hochzuladen.

Wenn das keine Titelseite für die elektronische Zeitung war!

Dem Image der Sharks würde dieser unfreiwillige Auftritt jedenfalls erheblichen Schaden zufügen. Leon hatte bei der Aufnahme darauf geachtet, dass man ihn und Pep nicht erkannte, sondern nur die Sharks sah, die einfach lächerlich wirkten.

Die Schülerzeitung erschien jeden Mittag um zwölf Uhr auf dem großen Plasma-Bildschirm am Schultor.

Man konnte sich, wie von jedem anderen öffentlichen Bildschirm, auch hier das, was einen interessierte, auf den eigenen Computer in der Tasche oder am Ärmel herunterladen. Den großen Bildschirm sahen nicht nur die Schüler, sondern auch alle, die draußen vor dem Tor waren. Auch die Sharks würden sich sehen, wenn sie – wovon Leon ausging – draußen vor dem Tor darauf warteten, Leon und Pep abzupassen. Sie würden vor Wut schnauben.

Aber dann würden er und Pep längst verschwunden sein. Leon schmunzelte schon, als er das Video zur Schülerzeitung uploadete.

Sein Plan ging auf: Alle Schüler, die in den Pausen oder auch nach Schulschluss auf dem Hof standen oder die Schule verließen und die Projektion sahen, wagten es, grinsend oder gar kichernd zu Tjark und seiner Bande hinüberzuschauen, machten dann aber schnell, dass sie wegkamen.

Auch Tjark sah die Bilder. Und er wusste, wie sehr nun alle hinter seinem Rücken tuschelten und sich über ihn lustig machten. Wie sollte man Angst und Schrecken verbreiten und den Stadtteil beherrschten, wenn alle über einen lachten wie über eine Witzfigur?

Seine Augen zogen sich zu schmalen Schlitzen zusammen.

»Das hätte der Zwerg nicht tun dürfen. Das wird er bereuen. Aber nicht nur er. Alle werden büßen!«, zischte er leise. Dann drehte er sich um und verschwand.

Leon und Pep bekamen das nicht mit, weil sie sich heimlich und ungesehen durch den Seiteneingang der Schule auf und davon machten.

Doch genau das war ihr Fehler.

Durch die Wand

»Also, bis morgen«, verabschiedete sich Pep an der Straßenecke, wo sich die Wege der beiden trennten. »Ich hole dich wieder ab! Und lass dich nicht von den Sharks erwischen!«

»Heute nicht!«, versprach Leon. »Bis morgen!«

Aber kaum war Pep außer Sichtweite, hörte Leon sie schon kommen.

»Jetzt!«, rief Tjark.

Leon fuhr herum. Tjark und drei seiner Leute rannten auf ihn zu. Sofort spurtete Leon los. Er lief weg von der Straße, in die Pep eingebogen war. Wenigstens ihn sollten sie nicht bekommen. Dann schlug er einen Haken und rannte quer über die Fahrbahn.

Ein Wasserstoffmobil musste scharf abbremsen. Gerade noch konnte Leon einen Bogen um die Motorhaube herum machen und in die nächste schmale Gasse entwischen.

Die Sharks dagegen mussten stoppen und das Wasserstoffmobil erst passieren lassen, wodurch Leon immerhin einen kleinen Vorsprung herausholen konnte.

Doch die kleine Seitenstraße entpuppte sich als Sackgasse. Sie endete an einer Baustelle, die die Straße über ihre gesamte Breite versperrte. Leon sah keine Chance, da durchzukommen. Zum Umkehren war es zu spät, dann würde er Tjark direkt in die Arme laufen. Zu beiden Seiten schlossen ihn meterhohe Häuserwände ein. Leon saß in der Falle.

Sein Blick fiel auf eine schmale Außentreppe, die zu einer Tür im Souterrain führte. Er betete, dass sie nicht verschlossen war, rannte los, stolperte die Treppe hinunter, betätigte die Klinke – die Tür war zu! Leon fluchte. Und hörte schon die Schritte seiner Verfolger in der Gasse. Ganz in der Nähe blieben sie stehen, um sich zu orientieren.

Leon duckte sich weg. Aber es war nur eine Frage der Zeit, bis sie ihn dort unten, zusammengekauert vor der verschlossenen Tür, entdecken würden.

Langsam schritt Tjark durch die Gasse. Mit wachen Augen suchte er die Häuserwände ab, fixierte die Absperrung und überlegte, ob Leon durch die Baustelle geflohen sein konnte. Er schloss die Möglichkeit eigentlich aus.

Leon konnte von unten Tjarks Füße sehen, als dieser am Souterrain-Eingang vorbeiging. Er hielt die Luft an, presste sich so flach es ging an die