George Sand
Ein Winter auf Mallorca
Aus dem Französischen neu übersetzt und herausgegeben von Hermann Lindner
Mit zahlreichen zeitgenössischen Bildern
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
George Sand (1804–1876) gilt als bekannteste französische Autorin des 19. Jahrhunderts. Sie schrieb zahlreiche Romane und war Ratgeberin, Freundin und Geliebte vieler bedeutender Künstler und Zeitgenossen. Ihr Reisebericht über den Mallorca-Aufenthalt mit Chopin wurde zu einem zeitlosen Klassiker.
»Es bedurfte einer Frau, die den Beweis lieferte, dass sie über alle Gaben des Mannes verfügen konnte, ohne ihre engelhaften Qualitäten zu verlieren, in der sich Stärke mit Sanftheit paarte.«
Victor Hugo
Hermann Lindner, Romanist an der Universität München, hat sich als literarischer Übersetzer und Herausgeber mehrerer Werke Guy de Maupassants, dem Bewunderer George Sands, einen Namen gemacht.
Im Oktober des Jahres 1838 bricht die in Paris gefeierte Schriftstellerin George Sand nach Mallorca auf, begleitet von ihrem Geliebten Frédéric Chopin und ihren beiden Kindern. Mit der Aussicht auf eine beschauliche Idylle unter wohltuender südlicher Sonne ist ein langer Aufenthalt geplant. Doch die noch unerschlossene Insel zeigt nicht nur ihre Schönheit. Bereits Mitte Februar 1839 treten sie fluchtartig die Rückreise an.
In ihrem 1842 erstmals als Buch erschienenen literarischen Reisebericht erzählt die berühmt-berüchtigte Autorin von diesem Abenteuer. Sie gilt seither als eine Entdeckerin der Insel. 2004 wurde sie mit dem Ehrentitel »Adoptivtochter Mallorcas« ausgezeichnet. Bis heute kann man ihren unvergänglichen Spuren folgen.
Die ungekürzte Neuübersetzung enthält neben einem umfangreichen Anhang und zeitgenössischen Bildern auch einen erhellenden Auszug aus George Sands Autobiographie.
Neuübersetzung 2016
© 2016 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
Umschlaggestaltung: Katharina Netolitzky/dtv
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eBook ISBN 978-3-423-43059-3 (epub)
ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-28099-0
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ISBN (epub) 9783423430593
»Die einzige Sache, die an diesem Ufer meine Aufmerksamkeit erregte, war ein heruntergekommenes dunkelockerfarbenes Gebäude, das von einer Kaktushecke umzäunt war. Das war das Castillo von Sóller. Kaum hatte ich meine Zeichnung halbwegs fertiggestellt, da fielen schon vier Individuen über mich her, deren Miene Furcht einflößen sollte, aber doch eher lächerlich wirkte. Ich wurde bezichtigt, mir wider die Gesetze des Königreichs durch Zeichnung den Grundriss einer Festung zu verschaffen. Sie wurde im nächsten Moment auch schon zu meinem Gefängnis.
Ich verfügte bei Weitem nicht über ausreichende Kenntnisse in der spanischen Sprache, um diesen Leuten erläutern zu können, wie absurd ihr Vorgehen war. Es bedurfte des Eingreifens des französischen Konsuls von Sóller, und obwohl er sich der Sache schnellstmöglich annahm, blieb ich nicht weniger als drei fürchterliche Stunden gefangen, in der Hand von Señor Sei-Dedos, dem Gouverneur der Burg, einem veritablen Drachen der Hesperiden. Von Zeit zu Zeit überkam mich die Versuchung, diesen lächerlichen Drachen in seiner läppischen militärischen Aufmachung vom Felsen dieser Bastion ins Meer zu stürzen; aber jedes Mal gelang es seinem Blick, meine Wut wieder zu entschärfen. Hätte ich über das Talent von Charlet verfügt, so hätte ich meine Zeit damit zugebracht, meinen Herrn Gouverneur, der ein ideales Muster für eine Karikatur abgab, eingehend zu studieren. Und im Übrigen sah ich ihm seine geradezu verblendete Hingabe an das Staatswohl gern nach. Es war ganz natürlich, dass dieser arme Wicht, der keinen anderen Zeitvertreib kannte, als seine Zigarre zu paffen und dabei aufs Meer zu schauen, die Gelegenheit zur Abwechslung ergriff, die sich ihm in meiner Person bot. So kehrte ich schließlich doch nach Sóller zurück und hatte großen Spaß an dem Gedanken, für einen Feind des Vaterlands und der Verfassung gehalten worden zu sein.« (Erinnerungen an eine Kunstreise auf die Insel Mallorca, von J.-B. Laurens)
Medida por el ayre. Cada milla de mil pasos geométricos y un paso de 5 pies geométricos (Miguel de Vargas, Descriptiones de las islas Pitiusas y Baleares, Madrid 1787).
Dieses Öl weist einen so faulig-penetranten Gestank auf, dass man sagen kann, dass alles auf der Insel Mallorca, Häuser, Menschen, Kutschen, ja sogar die Landluft, hiervon erfüllt ist. Da es Bestandteil aller Gerichte ist, raucht es zwei- oder dreimal am Tag in jedem Haus und das Mauerwerk ist davon vollgesogen. Wenn Sie sich irgendwo in der freien Natur befinden und sich verlaufen, genügt es völlig, einmal kräftig einzuschnaufen. Wenn nämlich dann eine Prise ranzigen Öldufts auf den Flügeln des Windes daher schwebt, dürfen Sie sicher sein, dass sich hinter dem Felsen oder unter einem Kaktuswald eine Behausung verbirgt. Wenn am wildesten und einsamsten Flecken dieser Geruch Sie überfallen sollte, heben Sie den Kopf: Sie werden hundert Schritte vor Ihnen einen Mallorquiner auf seinem Esel erblicken, der Ihnen den Hügel herab entgegen reitet. Das ist kein schlechter Witz und keine böse Übertreibung, das ist die pure Wahrheit.
Für ein Klavier, das wir aus Frankreich kommen ließen, wurde eine Einfuhrgebühr von 700 Francs erhoben; das war fast so viel, wie das Klavier kostet. Wir wollten es zurückschicken, was nicht erlaubt ist; es bis auf Weiteres am Hafen stehen zu lassen, ist verboten; es aus der Stadt hinauszutransportieren (wir lebten auf dem Lande), um so wenigstens die beim Passieren von Stadttoren fälligen Gebühren, die mit dem Zoll nichts zu tun haben, einzusparen, stand auch im Widerspruch zur Gesetzeslage; es in der Stadt zu lassen, um Ausfuhrgebühren, die mit den Einfuhrgebühren nicht zu verwechseln sind, zu sparen, war auch nicht möglich. Das Einzige, was wir hätten tun können, wäre gewesen, das Klavier einfach ins Meer zu werfen – falls uns wenigstens das genehmigt worden wäre!
Nach zweiwöchigen Verhandlungen erwirkten wir die Erlaubnis, das Instrument anstelle des eigentlich nächsten Stadttors durch ein anderes Tor aus der Stadt hinauszubefördern, und bei dieser Gelegenheit wurden wir weitere 400 Francs los.
La Fontaine, vgl. die Fabel von den Dieben und dem Esel.
»Die Mallorquiner behaupten, dass Hamilcar auf seinem Zug von Afrika nach Katalonien mit seiner schwangeren Frau an einer Landspitze der Insel haltmachte, wo ein der Lucina geweihter Tempel stand, und dass Hannibal an diesem Ort geboren wurde. Dieser Bericht ist auch nachzulesen in der Geschichte Mallorcas von Dameto.« (Grasset de Saint-Sauveur)
Streng genommen handelt es sich hier um keine Kornspeicher, sondern um Räume zum Trocknen, die auf dem Land porchos heißen.
Siehe Grasset de Saint-Sauveur, S. 119
Das spanische palmo entspricht dem Wort pan in unseren Mittelmeerprovinzen [dt. Spanne; Anm. d. Übers.].
Die Einnahme und Plünderung Palmas durch die Christen im Dezember 1229 werden anschaulich in der (unveröffentlichten) Chronik von Marsili beschrieben. Nachstehend gebe ich einen kleinen Auszug daraus:
»Die Plünderer und die Diebe stießen bei ihren räuberischen Aktionen in den Häusern auf sehr schöne Frauen und bezaubernd aussehende maurische Mädchen, die Münzen aus Gold und Silber, Perlen und Edelsteine, goldene und silberne Armreife, Saphire und alle Arten von wertvollen Juwelen im Schoß hielten. Sie breiteten all diese Gegenstände vor den Augen der bewaffneten Männer, die da zur Tür hereinkamen, aus und sagten in ihrer Sarazenensprache, bitterlich weinend: ›All das kannst du haben, aber lass mir so viel zum Leben, wie ich brauche!‹
Die Raffgier und die Ausschweifungen waren so groß, dass die Männer vom Gefolge des Königs von Aragón sich ganze acht Tage lang nicht beim König blicken ließen, so sehr waren sie damit beschäftigt, Verstecke zu durchwühlen, um alles, was sie fanden, an sich zu reißen.
Das ging so weit, dass am Tag darauf, als weder der Koch noch die Offiziere der königlichen Garde aufgetrieben werden konnten, ein aragonesischer Adeliger, Ladro mit Namen, zum König sagte:
›Majestät, darf ich mir erlauben, Euch zu mir einzuladen; bei mir nämlich befinden sich ausreichende Essensvorräte, und wie mir berichtet wird, steht in meinem Logis sogar eine gute Milchkuh. Am besten also speisen und schlafen Sie diese Nacht bei mir‹.
Der König vernahm’s mit großer Freude und begab sich schnurstracks zu diesem Adelsherrn.«
Monsieur Tastu, einer unserer gelehrtesten Sprachforscher und Gatte einer unserer Musen mit dem reinsten Talent und dem edelsten Charakter.
Dieses Uhrwerk, von dem die beiden wichtigsten mallorquinischen Historiker, Dameto und Mut, ausführliche Beschreibungen abgegeben haben, funktionierte vor dreißig Jahren noch, und Grasset de Saint-Sauveur hat Folgendes dazu geschrieben: »Diese sehr altehrwürdige Uhr heißt Uhrwerk der Sonne. Es zeigt die Stunden vom Sonnenaufgang bis zum Untergang dieses Gestirns an, gemäß der unterschiedlich langen Dauer der Sonnenstunden und der Dauer der Finsternis. Dementsprechend schlägt die Uhr am 10. Juni zum ersten Mal um halb sechs Uhr morgens und zum vierzehnten Mal um halb acht; der Reigen der nächtlichen Schläge beginnt um halb neun und endet mit dem neunten Schlag um halb fünf des nächsten Morgens. Ab dem 10. Dezember verläuft das Schema in der umgekehrten Richtung. Das ganze Jahr hindurch ist der Stundenlauf exakt geregelt nach Maßgabe von Sonnenaufgang und Sonnenuntergang. Für die Bevölkerung insgesamt ist diese Uhr nicht von großem Nutzen, da sich die Leute lieber an die modernen Uhren halten; aber den Gärtnern hilft sie bei der rechten Bestimmung der Zeiten zum Gießen. Es ist ungeklärt, woher und in welcher Epoche dieses Uhrwerk nach Palma gebracht wurde; Spanien, Frankreich, Deutschland oder Italien kommen als Herkunftsländer nicht näher in Betracht, weil dort die Römer den Brauch eingeführt hatten, den Tag ab Sonnenaufgang in zwölf Stunden einzuteilen.
Ein Geistlicher, der Rektor der Universität von Palma, vertritt nachdrücklich die Auffassung, und zwar im dritten Teil eines Werks über die seraphische Religion, dass in den Zeiten Vespasians Juden auf der Flucht diese berühmte Uhr aus den Ruinen von Jerusalem gerettet und nach Mallorca gebracht hätten, wo sie Zuflucht fanden. Das nenne ich eine wahrhaft wundersame Herkunft, ganz im Einklang mit der für unsere Insulaner typischen Neigung, alles für wahr zu halten, was an ein Wunder grenzt.
Für den Historiker Dameto, wie auch seinen Nachfolger Mut, ist das erste gesicherte Datum für die balearische Uhr das Jahr 1385. Da wurde sie von Dominikanermönchen gekauft und in dem Turm angebracht, wo sie heute noch ihren Platz hat.« (Voyage aux îles Baléares et Pithiuses, 1807)
Dieser Gedankengang, dieses höhere Verständnis von Geschichte war es auch, das Marliani bei seiner Eloge auf Mendizábal am Beginn seiner kritischen Darstellung von dessen Tätigkeit als Minister geleitet hat: » Was man ihm niemals wird absprechen können, das sind umso bewundernswertere Qualitäten, als sie bei den Leuten, die vor ihm an der Macht waren, höchst selten vorkamen: ein unbändiger Glaube an die Zukunft des Landes, eine grenzenlose Hingabe an die Sache der Freiheit, leidenschaftliches Eintreten für die Belange der Nation, ein ehrliches Streben nach fortschrittlichen, ja revolutionären Idealen, um all jene Reformen in die Praxis umzusetzen, deren der spanische Staat bedarf; hinzu kommen ein hohes Maß an Toleranz, Großzügigkeit seinen Feinden gegenüber sowie schließlich persönliche Uneigennützigkeit, die dazu geführt hat, dass er seine privaten Interessen immer und bei allen Gelegenheiten denen des Vaterlandes untergeordnet hat; diese Selbstlosigkeit hat er so weit getrieben, dass er ohne jede Ordensauszeichnung aus seinen unterschiedlichen Ministerien ausgeschieden ist. Er ist der erste Minister, der mit der Erneuerung seines Landes Ernst gemacht hat. Sein Eintritt in die Politik brachte einen echten Fortschritt für das Land. Aus seinem Mund sprach immer der Patriot. Zwar fehlte ihm die Kraft, die Zensur abzuschaffen, aber er war großzügig genug, der Presse ihre Fesseln zu nehmen, was zu seinem eigenen Nachteil seinen Gegnern zunutze kam. Er unterwarf seine Verwaltungsmaßnahmen freizügig dem Urteil der öffentlichen Meinung; und als ihm aus den Cortes heftige Kritik und Widerstand aus dem Kreis der ehemaligen Freunde entgegenschlug, besaß er Seelengröße genug, um dem Abgeordneten ebenso viel Freiheit zu gewähren wie einem Staatsbeamten. Er erklärte einmal am Rednerpult, er würde sich lieber die Hand abhacken, als einen Abgeordneten absetzen zu lassen, den er erst mit seinen Wohltaten überhäuft hatte und der dann auf die Seite seiner heftigsten Gegner übergewechselt war. Was für ein Vorbild! Dies war umso verdienstvoller, als Mendizábal auf seinem Gebiet kein Vorbild hatte, dem er hätte nacheifern können! Nachahmer solch tugendvoller Toleranz hat es seither keine mehr gegeben.« (Marliani, Histoire politique de l’Espagne moderne)
Als wir in einer lauen und finsteren Nacht von Barcelona nach Palma übersetzten, nur von einem seltsamen phosphoreszierenden Licht im Kielwasser unseres Schiffes erleuchtet, schliefen alle Leute an Bord, mit Ausnahme des Steuermanns, der, um die Gefahr zu bekämpfen, wie die anderen ebenfalls einzuschlafen, die ganze Nacht sang, aber mit so sanfter und so verhaltener Stimme, als wollte er die Wachmannschaft nicht aufwecken oder als wäre er selbst schon halb eingeschlafen. Wir konnten uns jedenfalls nicht satthören, denn sein Singen war höchst originell. Es hatte Rhythmen und Melodien, die völlig von unseren Gewohnheiten abwichen und planlos vor sich hin zu strömen schienen, fast so wie der Rauch aus dem Schlot des Schiffes sich vom Winde treiben und wiegen ließ. Das war eher eine Träumerei als ein Lied, ein Sichtreibenlassen der Stimme, an dem die Gedanken kaum Anteil hatten, das die Wiegebewegungen des Schiffes mitmachte und seine sanften Geräusche wiederholte und so einer spontanen Improvisation ähnelte, die dennoch von einer gleichbleibenden äußeren Form freundlich getragen wurde.
Von dieser Stimme der Beschaulichkeit ging ein ganz großer Zauber aus.
Die Menschen auf den Balearen sprechen die alte romanische Sprache des Limousin, die Raynouard ohne nähere Prüfung unterschiedslos der provenzalischen Sprache zugeschlagen hat. Von allen romanischen Sprachen ist die mallorquinische diejenige, die die geringsten Veränderungen zeigt, weil sie sich auf diese Inseln beschränkt, die ja von Kontakten zur Außenwelt weitgehend abgeschnitten sind. Die Sprache des Languedoc, selbst heute noch in ihrer Verfallsform, nämlich dem anmutigen Dialekt von Montpellier und Umgebung, weist die allergrößte Ähnlichkeit mit dem älteren und heutigen Mallorquinischen auf. Das hat seinen Grund in den häufigen Aufenthalten der aragonesischen Könige samt ihrem Hofstaat in Montpellier. Pedro II., der 1213 in Muret beim Kampf gegen Simon de Montfort den Tod fand, hatte Marie, die Tochter eines Grafen von Montpellier geheiratet, und dieser Heirat war Jaime I., genannt lo Conquistador (›der Eroberer‹), entsprungen, der in dieser Stadt geboren war und dort seine ersten Kindheitsjahre verbracht hatte. Eines der Merkmale, die das mallorquinische Idiom von den anderen romanischen Dialekten der Languedoc am stärksten unterscheidet, ist der Gebrauch der Artikel in der Umgangssprache, und interessanterweise finden sich die meisten dieser Artikel in der Umgangssprache einiger Ortschaften der Insel Sardinien. Neben der Form lo (männlich) und la (weiblich) kennt das Mallorquinische folgende Formen des Artikels:
MASKULIN: – Singular: so, der; Plural: sos, die.
FEMININ: – Singular: sa, die; Plural: sas, die.
MASKULIN und FEMININ: Singular: es, der, die; Plural: els, die.
MASKULIN: – Singular: en, der.
FEMININ: – Singular: na; die; Plural: nas, die.
Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass diese Artikel, obwohl von alters her in Gebrauch, niemals in den Dokumenten aus der Zeit der Eroberung der Balearen durch die Aragonier benutzt wurden. Das heißt, auf diesen Inseln gab es, wie in bestimmten Gebieten Italiens, zwei Sprachen gleichzeitig: die Sprache der ländlichen Bevölkerung, die plebea, die sich kaum veränderte, und die gehobene Schriftsprache, aulica illustra, die die Zeit, die Zivilisation oder der Volkscharakter reinigen oder auf eine höhere Stufe bringen. Genauso ist es noch heute: Das Kastilische ist die Hochsprache Spaniens; dennoch hat jede Provinz für die Zwecke des Alltags ihren eigenen Dialekt bewahrt. Auf Mallorca findet das Kastilische außer bei offiziellen Anlässen kaum Verwendung; im Alltag sprechen die kleinen Leute wie auch die Adeligen stets nur das Mallorquinische. Kommt man an einem Balkon vorbei, auf dem eine Atlote (vom Maurischen aila, lella / Mädchen), ihre Blumen gießt, hört man sie in ihrem einschmeichelnden heimischen Dialekt singen:
Sas atlotes, tots es diumenges,
Quan no tenen res mes que fer,
Van à regar es claveller,
Dihent-li : Veu! já que nos menjes !
(Die jungen Mädchen, wenn sie nichts Besseres zu tun haben, gießen am Sonntag ihre Nelkentöpfe und sagen zu ihnen: Trink, wenn du schon nicht essen magst!)
Die Musik, die diese Worte des Mädchens begleitet, folgt maurischen Rhythmen, in einer traurigen Melodie, die einem durch und durch geht und einen zum Träumen bringt. Aber die weitblickende Mutter, die der Tochter zugehört hat, gibt ihr darauf folgende schnippische Antwort:
Atlotes, filau! filau!
Ques sa camya se riu ;
Y sino l’apadassau,
No v’s arribar’ à s’estiu!
(Spinnt, ihr Mädchen, spinnt! Denn das Hemd geht schnell kaputt (wörtlich: lacht). Und wenn ihr keinen Flicken einsetzt, wird es euch nicht bis zum Sommer halten.)
Das Mallorquinische, vor allem im Munde der Frauen, klingt in den Ohren eines Fremden ganz besonders charmant und anmutig. Wenn eine Mallorquinerin die folgenden, so lieblichen und melodiösen Abschiedsworte sagt: Bona nit tengla! Es meu cô no basta per dî, li: Adios! (Gute Nacht! Mein Herz ist nicht stark genug, um Euch zu sagen: Lebt wohl!), dann hört sich das wie eine liebliche Melodie an, die man nur noch aufzuschreiben braucht.
Nach diesen Beispielen der mallorquinischen Umgangssprache erlaube ich mir noch, ein Beispiel der alten Hochsprache zu zitieren. Es stammt aus dem Mercador mallorqui (Der mallorquinische Kaufmann), ein Troubadour aus dem 14. Jahrhundert, der die abweisende Haltung seiner Dame besingt, weswegen er sich von ihr trennt:
Cercats d’uy may, jà siats bella e pros,
’quels vostres pres, e laus, e ris plesents,
Car vengut es lo temps que m’aurets mens.
No m’aucir à vostre ’sguard amoros,
Ne la semblança gaya;
Car trobat n’ay
Altra qui m’play
Sol qui lui playa!
Altra, sens vos, per que l’in volray be,
E tindr’ en car s’amor, que ’xi s’conve.
(Auch wenn Ihr schön und edel seid, sucht nunmehr woanders diese Bevorzugung und das Lob, das bezaubernde Lächeln, das nur Euch bestimmt war. Nun ist die Zeit gekommen, da Ihr mich nicht mehr so nah haben werdet. Euer Blick voller Liebesfeuer kann mich nicht mehr töten. Auch nicht Eure geheuchelte Heiterkeit, denn ich habe nun eine andere gefunden, die mir gefällt. Ach, hoffentlich werde ich Ihr gefallen! Eine andere ist es, nicht mehr Ihr, die Dame, deren Liebe mir so viel bedeutet und der ich zu Dank verpflichtet sein werde. So muss ich handeln.)
Die Mallorquiner sind, wie alle Völker des Mittelmeers, begabt für die Dichtung und Musik; sie sind, wie man früher sagte, geborene Troubadours (trobadors), was wir vielleicht mit Stegreifkünstler übersetzen können. Die Insel Mallorca zählt noch deren mehrere, davon zwei ansässig in Sóller, die zu Recht eine gewisse Berühmtheit erlangt haben. An diese trobadors treten normalerweise die glücklichen oder unglücklichen Liebesleute heran. Gegen ausreichende Zahlung und mit den passenden Informationen versorgt, finden sich diese Troubadours zu vorgerückter Stunde unter den Balkonen der Mädchen ein und singen die improvisierten coblas mal in preisendem, dann in klagendem Duktus, aber auch in Form von Schmähungen, was der bestimmt, der diesen Musiker-Dichter bezahlt. Die Ausländer können sich diesen Spaß auf Mallorca durchaus erlauben, ohne befürchten zu müssen, dass man ihnen das übel heimzahlt. (Anmerkung von Tastu).
Aus den Aufzeichnungen von Tastu
Die Araber nannten es Villa-Avente, ein romanischer Name, den der Ort wohl von den Pisanern oder Genuesen bekommen hatte. (Tastu)
Rousseau, einer der größten Landschaftsmaler unserer Tage, ist in der Öffentlichkeit noch ziemlich unbekannt, dank der Hartnäckigkeit der Jury für Malerei, die ihm seit mehreren Jahren das Recht verweigert, die Meisterwerke in Ausstellungen zu zeigen.
In Consuelo habe ich mich um eine Definition dieser musikalischen Unterscheidung bemüht, die ihn völlig zufriedengestellt hat, also den Kern der Sache zu treffen scheint.
Zeichnung von George Sand mit Anmerkung
»George livrée aux léviathans et Rollinat plongé dans l’abrutissement de la capillomanie«
(»Während George mit den Ungeheuern ringt, spielt Rollinat unentwegt stumpfsinnig mit der Haarsträhne«)
Stubenhocker, der du aus Pflichtgefühl nun einmal bist, mein lieber François, glaubst du, ich meinerseits hätte, angetrieben vom stolzen und launenhaften Steckenpferd, unabhängig zu leben, kein leidenschaftlicheres Vergnügen auf dieser Welt gekannt, als Meere und Gebirge, Seen und Täler zu durchqueren. Wenn dem nur so wäre! Meine schönsten, meine genussvollsten Reisen, die habe ich am Kamin gemacht, mit den Füßen in der noch warmen Asche und die Ellenbogen aufgestützt auf die verschlissenen Armlehnen des Lehnstuhls meiner Großmutter. Ich bin mir sicher, dass du selbst genauso angenehme und tausendmal poetischere Reisen machst: Deshalb rate ich dir, weder deine Zeit noch deine Mühen, weder deine Schweißausbrüche in den Tropen noch deine Erfrierungen an den Füßen auf den schneebedeckten Ebenen des Pols, auch nicht die schrecklichen Meeresstürme oder die Überfälle von Räubern, keine der Gefahren, keine der Beschwerlichkeiten allzu sehr zu missen, denen du in deiner Phantasie Abend für Abend mit den Pantoffeln an den Füßen die Stirn bietest, ohne Schlimmeres zu riskieren als ein paar von Zigarrenglut ins Futter deines Wamses gebrannte Flecken.
Um dich damit zu versöhnen, dass dir die wirkliche Welt und die körperliche Fortbewegung nicht vergönnt sind, übersende ich dir den Bericht von meiner letzten Reise, die mich aus Frankreich hinausgeführt hat, und ich bin mir ganz sicher, dass du mich dafür mehr bedauern als beneiden und zum Schluss kommen wirst, dass einige wenige Augenblicke der Bewunderung und ein paar Stunden des Entzückens ein zu hoher Preis für die vielen Widrigkeiten dieser Reise waren.
Dieser Bericht, dessen Niederschrift schon im letzten Jahr erfolgte, hat mir seitens der Bevölkerung von Mallorca eine höchst wütende und zugleich reichlich komische Schmähschrift eingetragen. Zu meinem Leidwesen ist sie zu lang, um im Anschluss an meinen eigenen Text abgedruckt zu werden; denn der Stil, in dem sie abgefasst ist und die ›charmanten‹ Vorwürfe, die mir darin gemacht werden, wären bestens geeignet, meine Aussagen über die Gastfreundschaft, den Geschmack und die Zuvorkommenheit der Mallorquiner im Umgang mit Ausländern zu belegen. Das ergäbe ein Beweisstück, das sich sehen lassen könnte; aber wer wäre schon imstande, es bis zum Ende zu lesen? Und überdies, so eitel und dumm es ist, Komplimente, die einem gemacht werden, zu verbreiten, wie viel eitler und dümmer wäre es wohl, in Zeiten wie diesen Beleidigungen, deren Opfer man geworden ist, auch noch unter die Leute zu bringen?
Ich erspare dir also den Wortlaut dieses Pamphlets, und um dir zu demonstrieren, wie naiv die Einwohner Mallorcas sind, beschränke ich mich anstelle weiterer Details auf den Hinweis, dass, nachdem sie meinen Reisebericht gelesen hatten, sich die gewitztesten Rechtsanwälte von Palma, es sollen deren vierzig sein, zusammentaten, um unter gemeinsamer Aufbietung ihrer geballten Intelligenz eine schreckliche Schmähschrift wider die unmoralische Schriftstellerin zu Papier zu bringen, die sich die Freiheit genommen hatte, sich über ihre Gewinnsucht und ihre fürsorglichen Bemühungen in Sachen Schweinezucht lustig zu machen. Mit Fug und Recht dürfen wir also, nach einem Diktum des Anderen sagen, dass diese vierzig zusammen nicht mehr Verstand im Kopf hatten als vier.
Nun denn, Friede sei mit diesen Herrschaften, die sich derart über mich erregen mochten; sie hatten nun Zeit genug, sich wieder zu beruhigen, und ich meinerseits hatte ausreichend Muße, um ihre Art und Weise, zu handeln, zu reden und zu schreiben, zu vergessen. Von den Bewohnern dieser schönen Insel sind mir nur fünf oder sechs erinnerlich geblieben, deren freundlicher Empfang und deren liebenswürdiges Verhalten uns gegenüber sich mir als unauslöschliche Entschädigung und als pure Wohltat des Schicksals eingeprägt haben. Wenn ich ihre Namen nicht genannt habe, so liegt das nur daran, dass ich mich nicht für so wichtig halte, sie als Zeichen meiner Dankbarkeit ausdrücklich einzeln ehren und hervorheben zu müssen; aber ich bin mir sicher – und ich meine es im Laufe meines Berichts hinreichend deutlich gemacht zu haben –, dass auch sie mich in freundschaftlicher Erinnerung behalten haben, was sie daran hindern wird, sich als Teil meiner herablassenden Spötteleien zu begreifen und an der Aufrichtigkeit meiner Gefühle für sie zu zweifeln.
Über Barcelona, wo wir immerhin einige reich gefüllte Tage vor der Überfahrt nach Mallorca verbrachten, habe ich dir noch nichts näher berichtet. Die Seereise von Port-Vendres nach Barcelona, bei schönem Wetter und auf einem tüchtigen Dampfschiff, ist eine bezaubernde Spazierfahrt. An der Küste von Katalonien fanden wir erstmals das Frühlingslüftchen wieder, das wir im November in Nîmes eingeatmet hatten, das uns aber in Perpignan verlassen hatte; auf Mallorca erwartete uns stattdessen die Hitze des Sommers. In Barcelona kühlte eine frische Brise vom Meer her die hell strahlende Sonne auf erträgliches Maß herunter und putzte die weiten Horizonte, die in der Ferne von teils kahlen schwarzen, teils von schneeweißen Gipfeln eingerahmt waren, frei von jeder Wolke. Wir machten einen Ausflug ins Hinterland, nicht ohne dass die gutmütigen kleinen andalusischen Pferde, die unser Gefährt zogen, vorher ausgiebig mit Hafer versorgt worden waren, damit sie uns, wären wir unterwegs auf übles Gesindel gestoßen, flugs wieder zurück unter die Mauern der Zitadelle hätten bringen können.
Du weißt, dass zu jener Zeit (1838) Aufständische in kleinen Gruppen das ganze Land unsicher machten, Straßen sperrten, in Städte und Dörfer, ja sogar in kleinste Anwesen eindrangen und die Opfer mit Lösegeldforderungen unter Druck setzten; sie suchten in herrschaftlichen Häusern, die eine halbe Meile außerhalb der Stadt lagen, Unterschlupf und überfielen dann aus dem Hinterhalt eines Felsens die Durchreisenden mit der Drohung ›Geld oder Leben‹.
Port-Vendres
Barcelona
Straßenszene in Barcelona (M.S.)
Wir wagten uns dennoch mehrere Meilen von der Küste weg und trafen nur auf Gruppen von Cristinos, die talwärts unterwegs nach Barcelona waren. Uns wurde gesagt, dass das die schönsten Truppen von ganz Spanien seien: Es waren jedenfalls recht hübsche Kerle, und dafür dass sie wohl in einem kriegerischen Einsatz waren, in halbwegs ordentlicher Aufmachung. Aber Menschen und Tiere waren so mager, die Männer hatten ein so gelbliches und abgezehrtes Gesicht, die Pferde trugen ihre Köpfe so niedrig und waren an ihren Flanken so hohl, dass ihnen anzumerken war, wie ausgehungert sie alle waren.
Ein noch traurigeres Schauspiel waren die um die kleinsten Weiler und vor den Toren der ärmsten Hütten errichteten Befestigungen: ein kleiner Wall aus aufgeschichteten Steinen, ein Turm mit Zinnen, so groß und so dick wie ein Stück Nougat vor jedem Stadttor, oder kleine Mäuerchen mit Schießscharten um die Dächer herum, bezeugten, dass kein Bewohner dieser reichen Landschaft glaubte, in Sicherheit zu leben. An nicht wenigen Stellen trugen diese kleinen, stark beschädigten Befestigungsanlagen frische Spuren von Angriff und Verteidigung.
Hatte man dann die massiven und riesigen Befestigungsanlagen von Barcelona durchquert, diese Unzahl von Toren, Zugbrücken, Ausfalltoren und Wällen, so verriet nichts mehr, dass man sich in einer Stadt befand, die unter dem Vorzeichen des Kriegs lebte. Hinter einem dreifachen Schutzwall aus Kanonen und vom Rest Spaniens durch die Räuberei und den Bürgerkrieg abgetrennt, flanierten die jungen Leute aus den reichen Familien auf der Rambla, einer lang gezogenen, von Bäumen und Häusern umrahmten Allee nach Art unserer Boulevards, im Sonnenschein, und die Frauen, schön, anmutig und voller Koketterie, hatten keine größeren Sorgen, als sich um den richtigen Faltenwurf ihrer Mantilla und das Spiel ihrer Fächer zu kümmern. Die Männer, ganz mit ihren Zigarren beschäftigt, lachten, plauderten, musterten verstohlen die Damen, unterhielten sich über die italienische Oper und schienen nicht die geringste Ahnung von dem zu haben, was sich jenseits ihrer Stadtmauern abspielte. Aber wenn dann die Nacht hereingebrochen war, die Oper zu Ende, die Gitarren aufgeräumt, und die Stadt nur noch den Kontrollgängen der Serenos überlassen blieb, da waren neben dem monotonen Rauschen des Meeres nur noch die unheimlichen Rufe der Wachen zu hören, und dazu noch unheimlichere Schüsse, die in unregelmäßigen Abständen knatterten, mal verstreut, mal in schnellen Salven, an verschiedenen Stellen, mal mit System, dann wieder scheinbar spontan, mal in der Ferne, dann plötzlich ganz nah, bis schließlich der nächste Morgen heraufzog. Die ganze Stadt fiel für eine Stunde lang oder zwei dann endlich in völlige Stille, und ihre Bewohner schienen tief und fest zu schlafen, während der Hafen schon wieder zu neuem Leben erwachte und das Völkchen der Matrosen anfing, sich dort herumzutreiben.
Wäre man zu den Zeiten des Müßiggangs und Flanierens auf die Idee gekommen, jemanden zu fragen, was es denn mit diesen seltsamen und angsteinflößenden Geräuschen der Nacht auf sich hat, hätte der Gefragte lächelnd darauf versetzt, dass dies niemanden etwas angehe und es auch nicht sonderlich klug sei, darüber nähere Erkundigungen anstellen zu wollen.
Zwei englische Reisende auf ihrer Grand Tour entdeckten, glaube ich, vor etwa fünfzig Jahren das Tal von Chamonix; so jedenfalls bezeugt es eine Inschrift, die einem Felsblock am Einstieg zum Gletscher mit dem Namen Mer de Glace eingeritzt ist.
Der Anspruch auf Entdeckung wirkt etwas hochgegriffen, wenn man die geographische Lage dieses Tals bedenkt, ist aber immerhin bis zu einem gewissen Grade berechtigt, waren es doch diese Reisenden, deren Namen ich mir nicht gemerkt habe, die als Erste die Dichter und Maler auf diese romantischen Plätze hingewiesen haben, wo Byron sich zu seinem bewundernswürdigen Manfred-Drama hat inspirieren lassen.
Für die elegante Gesellschaft und die Künstler ist die Schweiz im Grunde genommen erst im vorigen Jahrhundert in Mode gekommen. Jean-Jacques Rousseau ist so etwas wie der Christoph Kolumbus der Alpenpoesie, und wie Monsieur de Chateaubriand treffend bemerkt hat, ist er in unserem Kulturbereich als der Vater der Romantik anzusehen.
Wenn mir auch nicht wie Jean-Jacques der Ehrentitel der Unsterblichkeit gebührt, so habe ich auf der Suche nach der möglicherweise mir zustehenden Auszeichnung erkannt, dass ich mich vielleicht mit einer ähnlichen Ruhmestat schmücken könnte wie die beiden Engländer vom Tal von Chamonix, nämlich für mich die Ehre beanspruchen zu dürfen, die Insel von Mallorca entdeckt zu haben. Aber man ist ja heutzutage so anspruchsvoll geworden, dass es mitnichten ausgereicht hätte, meinen Namen in einen Felsen dieser Baleareninsel einzumeißeln. Hierfür hätte ich schon eine weitgehend präzise Beschreibung oder zumindest einen ziemlich poetischen Bericht über meine Reise liefern müssen, um anderen Lust auf eine Tour dorthin zu machen; aber nachdem ich mich während meines Aufenthalts in diesem Land nicht gerade in einem Zustand ekstatischer Begeisterung befand, verzichtete ich auf den Ruhm meiner Entdeckung und verewigte sie weder in Granit noch auf dem Papier.
Hätte ich diesen Text unter dem Einfluss all der Kümmernisse und Unannehmlichkeiten verfasst, die mir damals widerfuhren, wäre es mir unmöglich gewesen, mich dieser Entdeckung zu rühmen, denn jeder hätte mir am Ende des Buches entgegengehalten, hierfür habe es wahrlich nicht den geringsten Anlass gegeben. Und dennoch – Grund zum Rühmen gab es sehr wohl, heute habe ich den Mut, das zu behaupten; denn für die Maler ist Mallorca eines der allerschönsten Gefilde, die es auf der Welt gibt, und eines der am wenigsten bekannten dazu. Wo lediglich pittoreske Schönheiten zu beschreiben sind, erweist sich die literarische Wiedergabe als so armselig und unzulänglich, dass ich nicht im Traum daran dachte, mich damit abzugeben. Um den Reiseliebhabern die großartigen und anmutigen Seiten der Natur zu offenbaren, bedarf es des Stifts und der Radiernadel des Zeichners.
Wenn ich heute die lähmende Fessel meiner Erinnerungen dennoch von mir abschüttle, so liegt das daran, dass ich kürzlich eines Morgens auf meinem Tisch einen hübschen Bildband fand mit dem Titel:
Erinnerungen an eine Kunstreise auf die Insel Mallorca
von J.-B. Laurens.
Das war eine wahre Freude für mich, Mallorca mit seinen Palmen, seinen Aloesträuchern, seinen arabischen Bauwerken und seinen griechischen Trachten wiederzufinden. Ich erkannte alle Orte und Plätze mit ihrem poetischen Kolorit wieder, und ich gewann alle meine Eindrücke zurück, die – wie mir schien – schon ziemlich verblasst waren. Da war keine einzige Ruine, kein Busch, der in mir nicht eine ganze Palette von Erinnerungen auslöste, wie man heute so sagt; und das gab mir die Kraft, wenn schon nicht meine eigenen Erlebnisse zu erzählen so doch wenigstens die Reise von Laurens, eines intelligenten und emsigen, so temperamentvollen wie gewissenhaften Künstlers wiederzugeben; keinem anderen als ihm gebührt die Ehre, die ich mir angemaßt hatte, nämlich der Entdecker der Insel von Mallorca zu sein.
Diese Reise von Monsieur Laurens ins Herz des Mittelmeers, an Strände, wo das Meer mitunter ebenso wenig gastfreundlich ist wie die Bewohner der Insel, ist von größerem Verdienst als der Ausflug unserer zwei Engländer zum Montanvert. Wenn es aber die europäische Zivilisation dazu brächte, die Zöllner und Gendarmen, diese leibhaftigen Wahrzeichen des Misstrauens und der Abneigung zwischen den Nationen, abzuschaffen, wenn überdies die Dampfschifffahrt eine direkte Route von uns hin zu diesen Gestaden einrichten könnte, würde Mallorca binnen kurzer Zeit in große Konkurrenz zur Schweiz treten; man könnte dann genauso schnell dorthin reisen und würde dort ebenso anmutig-schöne wie eigenartig-erhabene, großartige Landschaften vorfinden, die der Malerei neue Motive liefern würden.
Beim heutigen Stand der Dinge kann ich diese Reise allerdings nur solchen Künstlern guten Gewissens anraten, die über eine robuste körperliche Verfassung und viel Begeisterung verfügen. Es wird wohl der Tag kommen, an dem auch zartere Gemüter, ja sogar hübsche Frauenzimmer in der Lage sein werden, ohne mehr Beschwerlichkeiten und Unannehmlichkeiten nach Palma zu fahren als heutzutage nach Genf.
Laurens, der Monsieur Taylor lange bei der künstlerischen Aufarbeitung der alten Kunstdenkmäler Frankreichs unterstützte und nunmehr freischaffend arbeitet, hat letztes Jahr den Plan gefasst, die Balearen zu besuchen, über die er vorher so wenig Bescheid wusste, dass er nach eigenem Geständnis mit schlimmem Herzklopfen seinen Fuß auf dieses Ufer setzte, weil er Angst hatte, seine goldenen Träume könnten enttäuscht werden. Aber was er dort suchte, fand er tatsächlich, und alle seine Hoffnungen wurden erfüllt; denn, ich wiederhole es, Mallorca ist das Dorado der Malerei. Alles dort ist pittoresk, von der Hütte des Bauern, der noch in den bescheidensten Bauwerken die Tradition des arabischen Stils aufbewahrt hat, bis hin zum Kind, das in seinem grandiosen Schmutz herrlich aussieht, wie Heinrich Heine über die Frauen vom Veroneser Gemüsemarkt sagt. Mit einer reicheren Vegetation als die meisten Zonen Afrikas, machen Weite, Ruhe und Einfachheit den Charakter dieser Landschaft aus. Sie ist das grüne Helvetien unter dem Himmel Kalabriens, mit der Feierlichkeit und der Stille des Orients.
In der Schweiz verleihen der allgegenwärtige Gebirgsbach und die unablässig über den Himmel ziehende Wolke allen Dingen den Anschein ewig-unruhiger Farbigkeit und damit gewissermaßen eine immerwährende Bewegtheit, deren Wiedergabe der Malerei nicht immer gelingt. Die Natur scheint sich dort über den Künstler lustig zu machen. Auf Mallorca hingegen scheint sie ihn zu erwarten, um ihm ein huldvoller Gastgeber zu sein. Dort nimmt die Natur zwar stolze und bizarre Formen an, aber sie entfaltet nicht diesen überbordend-chaotischen Luxus, unter dem die Linien der Schweizer Landschaft nur allzu oft verschwinden. Der Bergkamm zeichnet seine Konturen messerscharf auf einen glitzernden Himmel; die Palme beugt sich ohne äußere Einwirkung über die Abgründe, ohne dass die launenhafte Brise ihre majestätische Haarpracht durcheinanderbringt, und bis hin zum bescheidensten verkrüppelten Kaktus am Wegesrand scheint hier alles mit einer Art von leichter Protzigkeit zu keinem anderen Zweck dazustehen, als dass sich das menschliche Auge daran erfreue.
Zunächst werden wir vor allem eine knappe Beschreibung der großen Baleareninsel geben, so nach Art eines für ein Geographie-Lexikon üblichen Artikels. Das ist gar nicht so leicht, wie man vielleicht denkt, erst recht dann, wenn man versucht, seine Informationen vor Ort zu bekommen. Die Vorsicht des Spaniers und das Misstrauen des Insulaners sind dort so weit getrieben, dass ein Ausländer, wenn er nicht für einen politischen Spitzel gehalten werden will, sich hüten muss, irgendjemandem auf der Straße auch nur die harmloseste Frage zu stellen. Der brave Monsieur Laurens, der sich die Freiheit genommen hatte, von einer Burgruine, die ihm gefiel, eine kleine Skizze anzufertigen, wurde vom misstrauischen Gouverneur kurzerhand unter dem Vorwurf ins Gefängnis gesteckt, den Grundriss seiner Festungsanlage aufzuzeichnen.1
Das Kastell von Sóller
So hat denn unser Reisender, im Bemühen sein Zeichenheft nicht ausschließlich in den Gefängnissen des Staates auf Mallorca vollenden zu müssen, wohlweislich darauf verzichtet, andere Auskünfte zu erbitten als solche über bestimmte Bergpfade und andere Dokumente zu befragen als herumliegende Ruinenreste. Nach viermonatigem Aufenthalt auf Mallorca wäre ich meinerseits nicht weiter vorangekommen als er, wenn ich nicht das bescheidene Informationsmaterial konsultiert hätte, das uns über diese Region schriftlich vorliegt. Aber da fingen meine Unsicherheiten schon an; denn diese Werke, allesamt älteren Datums, widersprechen sich untereinander derart und – je nach Mentalität der Reisenden – heben sich teils auf, teils verunglimpfen sie sich gegenseitig so großspurig, dass man nicht umhinkommt, manche dieser Ungenauigkeiten klarzustellen, auf die Gefahr hin, neue Irrtümer in die Welt zu setzen. Nun denn – da ist mein Artikel nach Art des Erdkunde-Lexikons, und um mich nicht aus meiner Rolle als Reisender wegzustehlen, beginne ich mit der Feststellung, dass er unwiderlegbar besser ist als alle vorherigen.
Majorque – Laurens nennt es wie die Römer Balearis Major, während Dr. Juan Dameto, der König der mallorquinischen Historiker, die Auffassung vertritt, der Name der Insel sei in noch älterer Zeit Clumba oder Columba gewesen – heißt heutzutage aufgrund sprachlicher Verformung Mallorca, und zu keiner Zeit trug die Hauptstadt den Namen Majorque, wie es einige unserer Geographen uns haben weismachen wollen, sondern sie hieß immer schon Palma.
Diese Insel ist die größte und fruchtbarste des Archipels der Balearen, sie stellt das Überbleibsel eines Kontinents dar, der nun vom Mittelmeer überflutet wird, und nachdem dieser Erdteil ursprünglich Spanien mit Afrika verbunden haben dürfte, teilt diese Insel das Klima und die Hervorbringungen der Erde mit diesen beiden Zonen. Sie liegt 25 Meilen südöstlich von Barcelona und ist 45 Meilen vom nächsten Punkt der afrikanischen Küste und, glaube ich, 95 bis 100 Meilen von der Reede von Toulon entfernt. Die Oberfläche beträgt 1234 Quadratmeilen2, ihr Umfang bemisst sich auf 143 Meilen, ihre maximale Ausdehnung liegt bei 54, die minimale bei 28 Meilen. Die Bevölkerungszahl, die im Jahre 1787136000 Menschen betrug, liegt nunmehr bei circa 160000. In der Stadt Palma wohnen 36000 Personen, bei der älteren Zählung waren es noch 32000 gewesen.
Die Temperaturen schwanken – je nach Standort – ganz beträchtlich. Im Flachland ist der Sommer sehr heiß; aber die Gebirgskette, die sich vom Nordosten nach Südwesten hin erstreckt (und durch diese Ausrichtung die Zugehörigkeit zu den Bereichen Afrikas und Spaniens unter Beweis stellt, deren zu Mallorca nächstliegende Erhebungen die gleiche Neigung und die gleiche geologische Ausrichtung aufweisen), beeinflusst die Temperaturen des Winters ganz erheblich. So berichtet Miguel de Vargas etwa, dass während des schlimmen Winters von 1784 das Thermometer im Hafenbecken von Palma nur ein einziges Mal an einem Januartag auf 6° Réaumur über der Eisgrenze gesunken ist; an anderen Tagen stieg es bis auf 16°; meistens pendelte es sich bei 11° ein. – Nun, genau diese Temperatur herrschte in der Regel auch während eines normalen Winters bei uns oben im Bergland von Valldemossa, das immerhin als eine der kältesten Regionen der Insel gilt. In den strengsten Nächten, wenn dazu auch noch der Schnee zwei Finger breit lag, fiel das Thermometer nicht tiefer als auf 6 oder 7 Grad. Um acht Uhr in der Frühe war es dann schon wieder auf 9 bis 10° gestiegen, und um Mittag herum erreichte es 12 oder 14°. Gegen 3 Uhr, nachdem die Sonne für uns schon wieder hinter dem uns umgebenden Gebirgskamm verschwunden war, sank das Thermometer normalerweise sprungartig auf 9, sogar auf 8 Grad herab.
Die vom Norden her kommenden Winde blasen häufig mit großer Heftigkeit, und in manchen Jahren gibt es im Winter Niederschläge von einer Ergiebigkeit und Dauer, wovon wir uns in Frankreich überhaupt keine Vorstellung machen können. Im ganzen südlichen Teil, der nach Afrika hin absinkt und den die im Landesinneren liegenden Kordillere und die schroffen Abhänge der nördlichen Küstenbereiche vor den fürchterlichen Windstößen des Nordens bewahren, ist das Klima in der Regel gesund und angenehm für Mensch und Tier. So bietet sich also die Insel im Wesentlichen als eine Fläche dar, die vom Nordwesten zum Südosten hin abfällt, und die Schifffahrt, die wegen der Zerklüftetheit und Steilheit der Küste im Norden so gut wie unmöglich ist, escarpada y horrorosa, sin abrigo ni resguardo (Miguel de Vargas), stößt im Süden auf keinerlei landschaftliche Hindernisse.
Mallorca, das trotz des mitunter stürmischen und rauen Wetters von den Menschen des Altertums zu recht die ›goldene Insel‹ genannt wurde, ist äußerst fruchtbar, und seine Produkte sind von hervorragender Qualität. Der Weizen ist so rein und schön, dass er ausgeführt wird, und nur er dient in Barcelona ausschließlich für die Herstellung einer leichten hellen Gebäckart, die pan de Mallorca, mallorquinisches Brot, genannt wird. Umgekehrt führen die Mallorquiner zu ihrer eigenen Ernährung gröberes und billigeres Getreide aus Galizien und der Biskaya ein, mit dem Ergebnis, dass man im Land mit dem allerbesten und in Hülle und Fülle vorhandenen Getreide nur grauenhaftes Brot vorgesetzt bekommt. Mir ist nicht bekannt, ob sich die Mallorquiner darüber im Klaren sind, auf welch schlechten Tausch sie sich da eingelassen haben.
In unseren Provinzen im Herzen Frankreichs, wo die Landwirtschaft noch weit zurück geblieben ist, beweist die Arbeitsweise des Bauern nur zwei Dinge: seine Sturheit und seine Ignoranz. Noch viel mehr gilt dies freilich für Mallorca, wo die Landwirtschaft, obwohl sie mit aller Hingabe betrieben wird, noch regelrecht in den Kinderschuhen steckt. Nirgendwo sonst habe ich erlebt, dass die Leute ihr Ackerland so geduldig wie wirkungslos bearbeiten wie auf Mallorca. Noch die einfachsten Maschinen sind unbekannt; die Arme der Männer, überaus dünne und schwächliche Ärmchen, verglichen mit denen unserer Bauern, leisten die gesamte Arbeit, dies aber mit unfassbarer Betulichkeit. Für eine Fläche, die man bei uns problemlos in zwei Stunden umgraben würde, braucht man hier gut und gern einen halben Tag, und um eine Last irgendwohin zu befördern, die der schwächste unserer einheimischen Lastenträger locker auf seine Schultern packen würde, müssen sich hier gleich fünf oder sechs von den stämmigsten Burschen zusammentun.
Trotz dieses Mangels an handwerklicher Professionalität wird die ganze Insel landwirtschaftlich genutzt, und – wie es den Anschein hat – sogar ganz gut. Ihre Bewohner kennen angeblich das Wort ›Elend‹ nicht; aber inmitten all dieser Schätze der Natur und unter diesem wunderschönen Himmel führen sie doch ein härteres und freudlos-kargeres Leben als unsere Bauern.
Leute, die viel in den Süden reisen, reden gerne davon, welch glückliche Menschen doch diese Südländer seien; aber deren Gesichter und ihre malerischen Gewänder haben sie nur am Sonntag, und wenn die Sonne scheint, zu sehen bekommen, und so halten sie deren Denkfaulheit und Planlosigkeit für den idyllischen Inbegriff ländlicher Existenz schlechthin. Das ist ein Irrtum, dem auch ich selbst nicht selten erlegen bin, von dem ich allerdings gründlich kuriert wurde, nicht zuletzt seit ich Mallorca gesehen habe.
Es gibt nämlich keinen traurigeren und ärmeren Menschen auf der Welt als diesen Bauern, der nicht mehr kann als beten, singen, arbeiten und der eine ganz bestimmte Sache niemals tut, nämlich seinen Kopf zum Denken zu benutzen. Sein Gebet ist eine stupid abgespulte Formel, ohne jeglichen Nutzen für seinen Verstand; seine Arbeit ist eine Tätigkeit der Muskeln, bei der ihm seine Intelligenz nicht die geringste Hilfe liefert, und sein Gesang ist der Ausdruck dieser dumpfen Melancholie, die auf ihm lastet, ohne dass er sich dessen so recht bewusst wird, sodass dessen poetischer Gehalt zwar uns beeindruckt, ihm selbst aber in seinem Tiefsinn verborgen bleibt. Gäbe es da nicht die Eitelkeit, die ihn von Zeit zu Zeit aus diesem Dauerzustand lähmender Lethargie herausreißen und zum Tanzen anstacheln würde, würde er selbst seine Festtage im Dämmerschlaf zubringen.
Aber ich bin schon dabei, den von mir selbst gesteckten Rahmen zu überschreiten. Fast hätte ich übersehen, dass ein erdkundlicher Artikel korrekterweise in erster Linie Landwirtschaft und Handel darzustellen hat und erst ganz zuletzt, nach Ackerbau und Viehzucht, auch auf den Menschen eingehen darf.
In der gesamten von mir eingesehenen einschlägigen Literatur habe ich unter dem Stichwort Balearen folgenden kurzen Eintrag gefunden, den ich an dieser Stelle erst einmal bestätige, mit dem Vorbehalt, später auf Gesichtspunkte einzugehen, die die Gültigkeit dieser Angaben mit einem gewissen Fragezeichen versehen: »Diese Inselbewohner sind überaus leutselig (bekanntlich zerfällt die Bevölkerung auf allen Inseln in zwei Gruppen: die einen fressen die Besucher auf, die anderen freunden sich mit ihnen an). Sie sind sanftmütig und gastfreundlich; Verbrechen sind selten, und der Diebstahl ist bei ihnen so gut wie unbekannt.« Auf diesen Text werde ich wahrlich noch zurückkommen.