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INHALTSVERZEICHNIS

SECRET CITYS WELTWEIT – Einleitung

EUROPA

1AACHEN – Stadt der Krönungen

2COTTBUS – Von der Platte zur Villa

3MARBURG – Geh doch in die Oberstadt!

4TÜBINGEN – Heilig’s Bleche!

5SCHAFFHAUSEN – Per Anhalter ins Paradies

6INTERLAKEN – »C’est merveilleux!«

7INNSBRUCK – Das Herz der Alpen

8TRIENT – Ein Dino als Hingucker

9MANTUA – Verliebt in die Kunst

10CREMONA – Ein Himmel voller Geigen

11NEAPEL – Liebe auf den zweiten Blick

12GRASSE – Die Duftmischer

13NANTES – Zauberhafte Loire-Stadt

14CARCASSONNE – Wie aus dem Märchenbuch

15SANTIAGO DE COMPOSTELA – Heiliges Spektakel

16CADIZ – Altes Tor zur neuen Welt

17LAS PALMAS – Von Hunden und Traditionen

18ÉVORA – Viel Charme, reichlich Geschichte

19ENNIS – Hier spielt die Musik

20INVERNESS – König Macbeth lässt bitten

21BRISTOL – Street-Art, Brücken und Ballons

22GENT – Ostflanderns Schmuckkästchen

23MAASTRICHT– Wo der Euro zur Welt kam

24ROSKILDE – Königsort und Festivalmeile

25YSTAD – Alles klar, Herr Kommissar?

26TRONDHEIM – Stark seit tausend Jahren

27ROVANIEMI – Wo der Weihnachtsmann wohnt

28TALLINN – Ein Schiff wird kommen

29KRAKAU – Die Stadt aus »Schindlers Liste«

30KARLOVY VARY – Europas Jungbrunnen

31KUTNÁ HORA – Großer Dom, bizarre Kapelle

32ČESKÝ KRUMLOV – Alles in der Schleife

33PULA – Schauplatz der Jahrhunderte

34RHODOS – Der Sonne geweiht

35NIKOSIA – Eine Stadt – zwei Welten

ASIEN

36BAKU – Im Land des Aliyev

37BUCHARA – Das blaue Wunder

38MANAMA – Im jüngsten Königreich

39HATTA – Dubais natürlicher Nachbar

40SHARJAH – Die Vergangenheit im Herzen

41MUSCAT – Willkommen im Musterland!

42AMRITSAR – Im Bann des Goldenen Tempels

43SHIMLA – Die Bergkönigin

44VARANASI – Baden, Beten, Sterben

45KOLKATA – Die Unergründliche

46JAFFNA – Wo die Hindugötter herrschen

47THIMPHU – Dem Glück auf der Spur

48SUKHOTHAI – Meilenstein der Geschichte

49UBON RATCHATHANI – Der Zwei-Länder-Tempel

50AYUTTHAYA – Königsstätte und Kraftplatz

51NAKHON PATHOM – Der Weg zum Himmel

52MALAKKA – Der bunte Zauber Asiens

53YOGYAKARTA – Der Sultan lässt bitten

54GOROKA – Krieger zwischen den Welten

55BANAUE – Treppen zum Himmel

56DALAT – Ein Hauch von Nostalgie

57LUANG PRABANG – Magische Stadt am Mekong

58GUANGZHOU – Denkmal mit sieben Ziegen

59CHONGQING – Die Mega-Mega-Metropole

60TAINAN – Stadt mit vielen Namen

61BUSAN – Strand mit Stadtanschluss

62HIROSHIMA – Ein Mahnmal für den Frieden

63ULAN BATOR – Dschingis Khans Erben

64WLADIWOSTOK – Sibiriens Tor zum Pazifik

OZEANIEN

65DARWIN – Das Hauptstädtchen

66COOBER PEDY – Ort im Nirgendwo

67CAIRNS – Das Tor zum Riff

68HOBART – Neues vom Ende der Welt

69WELLINGTON – Ein Spiel der Elemente

70NUKU’ALOFA – Der Platz der Liebe

71APIA – Wo die Sonne zuletzt aufgeht

72AVARUA – 71 Götter und die Kokosnuss

AMERIKA

73HILO – Tanz auf dem Vulkan

74ANCHORAGE – Wildnis vor der Haustür

75BEVERLY HILLS – Alles, nur kein Friedhof

76OTTAWA – Aufs Glatteis geführt

77HAMILTON – Rosarot – auch ohne Brille

78SANTIAGO DE CUBA – Der Asphalt brennt

79TRINIDAD (KUBA) – Weltkulturerbe! Na und?

80SANTO DOMINGO – Strände ohne Ende

81BRIDGETOWN – Der perfekte Mix

82CANCÚN – Palmen, Partys, Pyramiden

83SAN JOSÉ – Gold im Untergrund

84PANAMA – Miami-Weiß am Kanal

85CARTAGENA – Bunt wie ein Papagei

86PARAMARIBO – Die kleine Unbekannte

87MANAUS – Oper im Urwald

88CUSCO – Am Nabel der Welt

89LA PAZ – Dem Himmel so nah

90SAN PEDRO DE ATACAMA – Die Wüste kocht

91MONTEVIDEO – Lebensgefühl Tango

92USHUAIA – Wo das Abenteuer beginnt

AFRIKA

93ALEXANDRIA – Versunkene Schätze

94KAIROUAN – Wo Paul Klee die Farbe entdeckte

95CASABLANCA – Besichtigung einer Legende

96TIMBUKTU – Noch 52 Tage bis Tombouctou

97WINDHOEK – Emu statt Ente

98KIMBERLEY – Die Goldgrube

99MAMOUDZOU – Das andere Frankreich

100SANSIBAR – Steinstadt mit Wunderhaus

Register

Bildnachweis

Impressum

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FÜNF UNSERER SECRET CITYS: SANTIAGO DE CUBA, NANTES IN WESTFRANKREICH, AYUTTHAYA IN THAILAND, AVARUA AUF DEN COOK ISLANDS UND SANSIBAR CITY

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SECRET CITYS WELTWEIT

ERSTE WAHL FÜR ENTDECKER

»Die beste Bildung findet ein gescheiter Mensch auf Reisen«, sagte einst Goethe. Aber Corona hat das Reisen eingeschränkt und verändert. Da kommen Städte der zweiten Reihe gerade richtig: Sie sind nicht nur äußerst spannend, weil sich dort nicht schon alle tummeln, sondern sie regen auch bereits zuhause die Fantasie an.

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New York, Paris, Tokio: Selbst wenn man noch nicht dort war, glaubt man die Stars unter den Weltstädten bereits zu kennen. Man hat davon gehört, darüber gelesen, Fotos, Video-Clips und Filme gesehen. Aber verraten Anchorage in Alaska, Nantes in Frankreich oder Hiroshima in Japan nicht viel mehr über die jeweiligen Länder als ihre Aushängeschilder? Natürlich hat jeder schon von Anchorage, Nantes und Hiroshima gehört, jedoch fehlen die Geschichten, die Bilder und eine Einordnung dazu. Ganz ehrlich: Mehr als Atombombe fällt vielen zu Hiroshima doch nicht ein, oder?

Bei diesem Buch über die Secret Citys der Welt ging es darum, Städte zu finden, die in der zweiten Reihe stehen und dennoch erste Wahl sind, weil sie beachtliches touristisches Potential haben und vom Overtourism bisher weitgehend verschont geblieben sind. Wir wollten dem Versteckten auf die Spur kommen, den 100 ausgewählten Städten auf den Grund gehen oder auch aufs Dach steigen und natürlich ihre Einwohner kennenlernen.

»Einmal im Jahr solltest du einen Ort besuchen, an dem du noch nie warst«, meint der Dalai Lama. Eine wunderbare Anregung! Werden dabei nicht sogleich Fantasiebilder im Kopf freigesetzt? Und freut man sich nicht sofort auf eine solche Reise – ohne das vermeintliche Déjà-vu-Gefühl wie bei New York, Paris, Tokio?

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DIE WELT IST BUNT – OB IN SÜDFRANKREICH (LINKE SEITE) ODER SÜDAMERIKA. DIE WELT IST AUCH MANCHMAL TON IN TON WIE IN AFRIKA. ABER DIE WELT IST (FAST) IMMER SCHÖN.

Stadtentdeckungen von A bis Z

Unsere Reisen führten vom tiefsten Outback Australiens bis ins nahe Zypern. Gefunden haben wir Städte, die am Ende der Welt liegen wie Ushuaia. Wo man weitgehend unter der Erde lebt wie in Coober Pedy. Wo sogar im Parlament kurze Hosen getragen werden dürfen wie in Hamilton. Wir haben die flächenmäßig größte Stadt der Welt besucht, Chongqing, die kaum einer auch nur namentlich kennt. Wir sind auf Kleinode gestoßen und auf Städte, die es einem nicht leicht machen, auf Orte in ländlicher Idylle und andere in riesigen urbanen Gebieten. Und wir haben die Hauptstadt des 101. Departements von Frankreich besucht. Sie liegt gut 8000 Kilometer von Paris entfernt: Mamoudzou. Wahrscheinlich haben Sie noch nie von ihr gehört.

Die Reisen führen auf alle fünf Kontinente und in 70 Länder dieser Erde. Reisen Sie mit und entdecken Sie die Welt, spielen Sie ein bisschen Jules Verne oder Thomas Cook. Die zwischen Alaska und Australien angesiedelten Reportagen zeigen den Weg. Margit Kohl trampte per Schiff auf dem Rhein in Schaffhausen. Bernd Schiller fand in Jaffna die schillernde Exotik, die am besten für Sri Lanka steht. Klaus Viedebantt tummelte sich im Fernen Osten, Thomas Bickelhaupt im nahen Innsbruck. Silke Martin schrieb über den höchstgelegenen Regierungssitz der Welt, La Paz, Britta Mentzel über das legendäre Casablanca. Und ich dachte mir, mich tritt ein Elch, als ich mitten in der Großstadt Anchorage tatsächlich eine Elchkuh liegen sah.

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Insgesamt laden hundert persönliche Reportagen zu Entdeckungsreisen ein: mit viel Platz für Freiräume und Fantasien, mit Akzentuierungen und Anregungen. Eine Entdeckung ist – so sagt es das Konversationslexikon – die Auffindung dessen, was schon vorhanden, aber noch nicht bekannt war.

Also dann: Viel Spaß beim Blättern und Lesen, beim Erkunden und Träumen!

Jochen Müssig

EUROPA

Abenteuer auf Schritt und Tritt

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EUROPA BIETET VIEL MEHR ALS PARIS UND LONDON, WIEN UND VENEDIG. BELLA NAPOLI ZUM BEISPIEL IST SO GANZ ANDERS …

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AACHEN – DEUTSCHLAND

STADT DER KRÖNUNGEN

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Der Dom zu Aachen war Deutschlands erstes Bauwerk, das 1978 den Titel einer Weltkulturerbestätte der UNESCO erhielt. 30 deutschen Königen wurde in dem mächtigen Bauwerk Karls des Großen die Krone aufgesetzt. Moderne Kunst, heiße Quellen und leckere Printen sind andere Qualitäten Aachens.

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Wie kein zweiter deutscher Ort steht die westlichste Stadt der Republik ganz im Schatten eines Bauwerks. Der Dom zu Aachen wurde im Jahr 786 von Karl dem Großen mit einem achteckigen Mittelbau, der Pfalzkapelle, gegründet. Karl wollte in Aachen die Manifestation eines neuen Roms realisieren. Als er 814 starb, wurde die Kirche seine Begräbnisstätte. Mit der Krönung von Otto I. 936 begann die 600-jährige glanzvolle Geschichte der Krönungen deutscher Könige im Dom. Aachen war Ausgangspunkt neuer Staatsordnungen und Kirchenreformen, die für Jahrhunderte prägend blieben. In gotischer Zeit gewann die Kirche zudem auch als Wallfahrtsziel an Bedeutung. Das alles interessiert bis heute die Menschen: Rund eine Million besuchen die 250 000-Einwohner-Stadt, um die Bischofskirche des Bistums Aachen zu besichtigen.

Die Pfalzkapelle bildet das Herz des Doms. Papst Hadrian ermächtigte Karl den Großen, Marmor aus Italien nach Aachen zu transportieren. Die Überführung von Reliquien 799 und 800 trieb die Vollendung des Baus voran; dagegen gehört die Domweihe durch Papst Leo III. wohl ins Reich der Legenden. Der Kuppelbau war zu dieser Zeit mit 32 Metern Höhe der größte nördlich der Alpen. Erhalten sind bis heute der Westteil mit der Eingangshalle, der Kaiserloge und den beiden Wendeltreppentürmen sowie der gewaltige achteckige Kuppelbau mit seinem nach außen 16-eckigen doppelgeschossigen Umgang. Auch der Königsthron geht auf die Zeit Karls des Großen zurück. Er wirkt äußerst schlicht: Sechs Stufen führen zu dem aus vier Marmorplatten zusammengefügten Kaiserstuhl. Immerhin 30 Könige bestiegen ihn.

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AACHEN UND DER DOM WERDEN STETS IN EINEM ATEMZUG GENANNT. DOCH DIE DEUTSCHE KRÖNUNGSSTADT BIETET AUCH WELLNESS (ELISENBRUNNEN) UND KUNST (LUDWIG FORUM).

Die Aachener Domschatzkammer birgt einen der bedeutendsten Kirchenschätze Europas, sakrale Kulturgüter aus spätantiker, karolingischer, ottonischer, staufischer und gotischer Zeit, die zum Teil zu den größten Kunstwerken ihrer Epoche zählen: unter anderem die Büste Karls des Großen mit der Schädeldecke des Kaisers und das prächtige Evangeliar.

Printen und 15 Saunen

Dem Aachener Dom gegenüber steht das Rathaus an der Nordseite des Katschhofs, wo sich früher der Pranger befand. Heute gibt der Platz die historische Kulisse für den Wochen-, Altstadttrödel- und Weihnachtsmarkt ab, für Konzerte oder Feste wie den Wein-Sommer.

Ebenfalls im Zentrum der Stadt gelegen, gilt der Elisenbrunnen als Wahrzeichen der Kur- und Badestadt Aachen. Neben diesem Trinkbrunnen gibt es noch zahlreiche weitere Brunnen und Quellen mit Temperaturen bis zu 74 Grad. Das wussten bereits die Römer zu schätzen. So heiß wie hier sprudelt nördlich der Alpen keine Quelle auf dem europäischen Festland aus dem Boden. Der klassizistische Bau ist ein beliebter Treffpunkt für Aachener und Nicht-Aachener. 1827 wurde er erbaut, 1953 nach schweren Kriegsschäden originalgetreu wiedererrichtet. Zum Baden und Saunieren geht man freilich in die Carolus Thermen: Acht unterschiedlich temperierte Innen- und Außenbecken, 15 verschiedene und unterschiedlich warme Saunen, Saunarien und Dampfbäder sowie ein Saunasee und Saunagarten lassen keine Badewünsche offen.

Zum rechten Glauben gehört seit jeher die rechte Nahrung. Auch in dieser Hinsicht hat die Domstadt Besonderes zu bieten: die traditionellen Aachener Printen. Das ursprünglich harte Honiggepäck wird heutzutage feuchter Luft ausgesetzt und damit weich. Die schokoladen überzogenen Printen ähneln im Geschmack den Lebkuchen. Der Name kommt von prenten wie: in eine Form pressen.

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KUNST VOM SCHOKOLADENKÖNIG

Andy Warhol und Roy Lichtenstein, Jenny Holzer und Georg Baselitz sowie viele andere namhafte Künstler vorwiegend des 20. Jahrhunderts sind die Stars im Ludwig Forum für Internationale Kunst in Aachen. Die spartenübergreifende, zeitgenössische Kunstinstitution basiert auf der Sammlung von Schokoladenkönig Peter Ludwig und seiner Frau Irene. Sie trugen Schlüsselwerke der Pop Art, des Fotorealismus und der europäischen Kunst seit den 1960er-Jahren zusammen – insgesamt mehr als 3000 Exponate. Untergebracht sind sie in der von Fritz Eller im Bauhausstil errichteten Schirmfabrik Brauer. Ludwigs Schenkungen und Dauerleihgaben sind weltweit in mehr als 20 Museen zu finden.

WEITERE INFORMATIONEN

Am Dreiländereck Deutschland, Belgien, Niederlande,

www.aachen-tourismus.de, www.aachendom.de

Thermen,
www.carolus-thermen.de
Ludwig Forum,
http://ludwigforum.de

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EIN STERNENHIMMEL AUS MEHR ALS 2000 NACKTEN GLÜHBIRNEN BILDET DIE EINDRUCKSVOLLE LICHTARCHITEKTUR IM KUPPELFOYER DES COTTBUSER STAATSTHEATERS.

2

COTTBUS – DEUTSCHLAND

VON DER PLATTE ZUR VILLA

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Vom Jugendstil bis zu spektakulären Neubauten reicht die architektonische Bandbreite in Cottbus. Den Aufstieg der brandenburgischen Stadt dokumentiert das Monumentaltheater genauso wie seine Kraftwerksarchitektur, mit der Cottbus Teil der Lausitzer Industriekultur ist. Aber auch viele Grünanlagen umgeben die größte Stadt der Lausitz.

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Was für ein Theater! Noch dazu eines, das seine Existenz ganz allein seinen Bürgern verdankt. Eine gut florierende Textilindustrie hatte zu Beginn des 20. Jahrhunderts die ökonomische und politische Stellung des Cottbuser Bürgertums enorm verbessert und dadurch auch ein gesteigertes kulturelles Interesse geweckt. Selbstbewusst wollten die Cottbuser ihre gestärkte Position mit einem Theaterneubau zur Geltung bringen und schrieben dafür einen Architekturwettbewerb aus. Den Zuschlag erhielt Bernhard Sehring, der bereits 1896 mit dem Theater des Westens in Berlin großes Aufsehen erregt hatte. Die veranschlagten Kosten von etwa 920 000 Reichsmark brachte allein die Bürgerschaft über Anleihen und Spenden auf. Am Ende des Zweiten Weltkriegs waren es ebenfalls Cottbuser Bürgerinnen und Bürger, die eine geplante Sprengung des Theaters verhinderten, das während des Krieges als Munitionslager gedient hatte, denn sie erkannten den unschätzbaren Wert des Hauses.

Unterm Sternenhimmel

Gekonnt hatte Sehring bei seinem Staatstheater, einem Bauwerk des sezessionistischen Jugendstils, Architektur, Kunsthandwerk, Malerei und Plastik miteinander verwoben. Der tempelartige Zuschauerraum feiert mit Prunk und barocken Putti das Schauspiel, wie auch Oper und Operette, Musical und Ballett. Bis heute ist das Haus das einzige Mehrspartentheater Brandenburgs. Zentrales Gestaltungselement im Inneren sind die nackten Glühlampen, die Sehring seinerzeit mutig zu einem modernen Sternenhimmel anordnete. Mehr als 2000 Glühbirnen sollen es insgesamt sein. Im ganzen Haus gibt es keine Lüster oder andere verkleideten Beleuchtungskörper. Am eindrucksvollsten wirkt diese Lichtarchitektur in einem der opulentesten Räume des Theaters, im Kuppelfoyer, das an die Rotunde in Schinkels Altem Museum in Berlin erinnert.

Panther auf dem Dach

Auch wenn der Platz vor dem Theater rechtzeitig in Schillerplatz umbenannt wurde und nicht mehr Viehmarkt heißt, gibt es reichlich Tierbezüge in Sehrings monumentalem Prachtbau: Auf Steinsockeln ruhen Löwen, Widderköpfe tauchen unverhofft an vielen Stellen auf, und die exotischen Panthergespanne vom Dach finden sich auch im Zuschauerraum wieder.

Hier wird deutlich, was der Autor Carsten Jung in seinem Buch über »Historische Theater in Deutschland, Österreich und der Schweiz« schreibt: »Sehring war kein Jugendstil-Architekt. Sein Prinzip war es, Stile verschiedener Zeiten in einem Gebäude aufeinandertreffen zu lassen, und dazu konnte auch der Jugendstil gehören.«

In der Interaktion von historischen und neuen Formen scheint die stilverbindende Sehring-Herrlichkeit fast stellvertretend für die besondere Architektursprache der Stadt zu stehen. Das jetzige Kunstmuseum war einst ein Leuchtturm der Kraftwerksarchitektur. Der 1927 von Werner Issel als Dieselkraftwerk erbaute backsteinexpressionistische Klinkerbau dient nach dem Umbau durch das Berliner Architekturbüro Anderhalten als Landesmuseum für moderne Kunst. Dagegen spielt der Bibliotheksbau der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg, den Herzog & de Meuron als Solitär auf eine Anhöhe gestellt haben, mit Perspektiven und Blickwinkeln. In seiner fließenden Form sieht das Gebäude aus jeder Perspektive anders aus. Seine psychedelisch anmutende Wendeltreppe in Grün und Pink wird innen zum Farbleitsystem in die Lesesäle.

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SPEKTAKULÄRE ARCHITEKTUR DAMALS WIE HEUTE: BRANITZER PARK MIT SEEPYRAMIDE UND BIBLIOTHEKSNEUBAU DER BRANDENBURGISCHEN TECHNISCHEN UNIVERSITÄT COTTBUS-SENFTENBERG

Dagegen wirkt der Altmarkt im Stadtzentrum mit seinen barocken Bürgerhäusern, der 400 Jahre alten Löwenapotheke und dem achteckigen Brunnen mitten auf dem Platz wie die kleine, feine Stube der Stadt. Die barocken Fassaden kontrastieren auf das Angenehmste mit dem Beton der realsozialistischen Bebauung. Doch auch die Verwandlung eines Plattenbaus in eine Stadtvilla war in Cottbus kein Problem. Noch zu DDR-Zeiten besaß die Stadt mit ihren Siedlungen in den Stadtteilen Madlow und Sandow die kompaktesten Plattenbauten in ganz Brandenburg. Tief war vor allem der wirtschaftliche Sturz nach Betriebsschluss der DDR gewesen. Der Kohletagebau verwaiste, weil sich die Kohle als minderwertig erwies, und es blieb nur noch das Kraftwerk Jänschwalde am Kabel, danach ging auch noch die Textilwirtschaft pleite. Cottbus war lange Zeit ein Aschenputtel unter den deutschen Städten.

Aus Plattenbau wird Steinbruch

Der Leerstand von Plattenbauten in ostdeutschen Kommunen nahm seinerzeit ständig zu und zog bauliche wie soziale Probleme nach sich. In Cottbus grenzte die größte Plattenbausiedlung des Landes an ein Wohngebiet mit Einfamilienhäusern. Was für eine städtebauliche Herausforderung, da einen gekonnten Übergang zu schaffen! Ein ungenutzter Plattenbau wurde aber nicht einfach abgerissen, sondern recycelt, indem er quasi als Steinbruch herhalten musste. Die Gemeinnützige Wohnungsbaugenossenschaft Cottbus ließ aus den Plattenbauelementen des elfgeschossigen Hochhauses im Stadtteil Sachsendorf-Madlow 2002 gleich nebenan fünf kleine Stadtvillen mit 13 Wohneinheiten bauen.

Voraussetzung für ein derartiges Projekt war natürlich ein Standort, an dem sich Rückbau und Neubau parallel organisieren ließen und wo sich die Finanzierung auch deshalb in Grenzen von 1,8 Millionen Euro hielt, weil neben dem wiederverwendbaren Material auch keine Transportkosten anfielen. Das innovative Projekt, betreut vom Cottbusser Architekturbüro Zimmermann & Partner, stieß auf großes Interesse bei künftigen Mietern und wurde mit dem Bauherrenpreis vom Bund Deutscher Architekten ausgezeichnet. Und so war sogar mancher Plattenbau nach erfolgreicher Sanierung kaum noch als solcher zu erkennen.

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DER OSTSEE – WO COTTBUS BADEN GEHT

Schon Fürst Pückler erschuf in Cottbus aus einer Sandwüste den Branitzer Park samt See und Pyramiden. Nun planen die Cottbuser ihre ehemalige Braunkohle-Tagebauhalde in den mit 19 Quadratkilometern größten, künstlich angelegten See Deutschlands zu verwandeln. Bereits 2015 verließ der letzte Kohlezug den Tagebau Cottbus-Nord. Er war mit etwa 83 Millionen Tonnen abbaubarer Braunkohle der kleinste der fünf Vattenfall-Tagebaue und diente der zusätzlichen Versorgung des Kraftwerks Jänschwalde. Seit 2019 wird das Areal nun Stück für Stück mit Wasser aus der Spree geflutet. 150 Millionen Kubikmeter Wasser soll der Cottbuser Ostsee bis zu seiner geplanten Fertigstellung 2030 einmal haben. Das Holzschiff »Mia« hat bereits am Seeufer festgemacht und dient als künftiger Ausguck auf den See. Weißer Sandstrand und Relax-Liegen lassen erahnen, worauf sich Cottbuser wie Besucher schon heute freuen: grenzenlosen Freizeit- und Badespaß.

WEITERE INFORMATIONEN

Cottbus Tourismus,
www.cottbus-tourismus.de

Staatstheater,

www.staatstheater-cottbus.de

Informations-, Kommunikations- und Medienzentrum (IKMZ) der Brandenburgisch Technischen Universität Cottbus-Senftenberg,

www.b-tu.de/ikmz
Cottbuser Ostsee,
www.cottbuser-ostsee.de

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OBERSTADT UND UNTERSTADT – IN MARBURG SIND BEIDE SCHON IMMER DURCH UNZÄHLIGE TREPPEN UND GESCHICHTEN MITEINANDER VERBUNDEN.

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MARBURG – DEUTSCHLAND

GEH DOCH IN DIE OBERSTADT!

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Treppauf und Treppab erlebt man Marburgs Einzigartigkeit im Stufenschritt. Denn die Stadt der vielen Stiegen hat ihren städtebaulichen Nachteil längst zur Attraktion gemacht. Schließlich waren Oberstadt und Unterstadt immer auch ein Abbild gesellschaftlicher und politischer Hierarchien, die bisweilen durch Treppen überwunden wurden.

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Treppen, überall Treppen. Steile Treppen, flache Treppen, lange Treppen, kurze Treppen, aber nur selten breite Treppen. 109 Höhenmeter gilt es zu überwinden zwischen Lahnufer und Schloss, das hoch oben über der Stadt Marburg thront. Schon zur Zeit der Stadtgründung im frühen 13. Jahrhundert hatten sich die Marburger auf eine Anhöhe zurückgezogen, zu sumpfig war der Boden im Tal. Bald lehnten ganze Zeilen von Fachwerkhäusern schief und krumm an den buckligen Hängen, verbunden durch enge Gässchen, die bis heute nicht verbreitert wurden, sodass man schwerlich mit aufgespanntem Regenschirm durch sie hindurchkommt.

»Die Lage Marburgs und umliegende Gegend ist gewiss sehr schön. Besonders, wenn man in der Nähe des Schlosses steht und da herunter sieht, die Stadt selbst aber sehr hässlich. Ich glaube es sind mehr Treppen auf den Straßen als in den Häusern. In ein Haus geht man sogar zum Dache hinein«, schrieb einst Jacob Grimm. Der spätere Mitbegründer der deutschen Sprachwissenschaft und Märchensammler studierte hier zusammen mit seinem Bruder Wilhelm an der weltweit ältesten protestantischen Universität. Allein als Zentrum der Romantik ist Marburg eine Stadt von großer literaturgeschichtlicher Bedeutung. Hier lebten Clemens von Brentano, Achim von Arnim und seine Frau Bettina Brentano. Häuser und Plätze der Altstadt erinnern noch heute an ihre Protagonisten.

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DIE STADT ALS ABBILD GESELLSCHAFTLICHER UND POLITISCHER HIERARCHIEN: OBEN IM SCHLOSS HERRSCHTEN IM MITTELALTER DIE LANDGRAFEN ÜBER IHRE UNTERGEBENEN IN DER UNTERSTADT.

Oben und unten

Von jeher prägen Treppen das Stadtbild Marburgs und gleichzeitig auch das Bewusstsein der Einwohner. »Spiel nicht mit den Schmuddelkindern, sing nicht ihre Lieder. Geh doch in die Oberstadt, mach’s wie deine Brüder«, textete der Liedermacher und überzeugte Kommunist Franz Josef Degenhardt, ehemals Jura-Student in Marburg. Oberstadt und Unterstadt sind auch immer ein Abbild gesellschaftlicher und politischer Hierarchien gewesen. Oben herrschten im Mittelalter die thüringischen Landgrafen im Schloss über ihre Untergebenen in der Unterstadt. Und die Treppen als eine Verbindung von oben und unten überwanden manchmal nicht nur Höhenunterschiede. So stieg 1228 die Landgrafenwitwe Elisabeth, bekannt für ihre Wohltätigkeit, über viele Treppen vom Schloss hinunter ins Tal und gründete dort ein Hospiz für Arme und Kranke.

Oben erlebt man heute das historische Marburg als putziges Puppenheim voll schmaler, hoch aufragender Fachwerkhäuser, die über den Gassen ihre Dächer wie Köpfe zusammenzustecken scheinen, als gebe es ständig etwas zu tuscheln. Unten hingegen dominiert manch funktionaler Wohncontainer weit jüngeren Datums. Beliebtes Schmähobjekt ist ein Apartmenthaus im Stil der 1970er-Jahre, das die Einheimischen »Affenfelsen« nennen. Oben aufpoliertes Mittelalter, unten Pyramidenbau aus Beton. Oben intimes Altstadtidyll, nahezu untauglich für motorisierten Verkehr, unten dröhnende Stadtautobahn.

Im Dreckloch

In Marburg begann man im 12. Jahrhundert damit, Treppen zu bauen. Eine der ältesten dürfte die Mühltreppe an der Dominikanerpforte sein, an deren Tor ein Wächter Zoll von denen kassierte, die das zur Beleuchtung ihrer Wohnungen erforderliche Öl aus der Mühle in den Ort bringen mussten. Die Treppen sind auch noch heute wesentliche Verbindungswege der Stadt. Bis hin zu einer der jüngsten und längsten Treppen Marburgs, dem Dreckloch. Es diente früher als Abwasserleitung von der Oberstadt in die Lahn. Nach den 159 Stufen durchs Dreckloch hatte manch Treppensteiger vermutlich die Nase voll. Vielleicht erweist es sich ja als kluge Geschäftsidee, dass der glücklich oben Angekommene zumindest heute direkt auf die Parfümerie Gröbel zuläuft. Denn wer sitzt schon gern an einem Ort wie diesem, von wohnen ganz zu schweigen. Auf die Frage nach der Adresse sagt wohl keiner gern: Dreckloch 7. Doch nicht nur wegen seiner Anrüchigkeit hat die Stadt den Namen 1912 in Enge Gasse geändert. Man war es irgendwann auch leid, das Schild immer wieder erneuern zu müssen, nur weil etliche Passanten es entwendeten, um es sich über der heimischen Toilette aufzuhängen.

Der schiefe Turm

Freier atmen lässt es sich in luftigeren Höhen, und die bessere Aussicht hat man allemal. Doch den im Laufe der Jahre zum schiefen Turm von Marburg gewordenen Kirchturm der Lutherischen Pfarrkirche würden abergläubische Marburger ohnehin nicht besteigen, denn sie halten ihn für einen Fingerzeig Gottes. Das Holz des Dachstuhls wurde zu jung verarbeitet, sagen hingegen die Realisten. Was allerdings nicht erklärt, warum sich die Turmspitze, als graute ihr davor, ausgerechnet vom Schloss abwendet. Wo doch 1583 Ludwig IV., um bequemer in eben diese Kirche zu kommen, eigens eine Treppe vom Schloss dorthin hatte bauen lassen.

Dass manche Marburger den Treppen aber eines Tages den Rücken kehrten, hatte indirekt mit Literatur zu tun. Alles begann in einer alteingesessenen Universitätsbuchhandlung, deren beide Aufzüge, 1961 eingebaut, sich die Einheimischen rasch als öffentliches Transportmittel aneigneten. Selbst wer sich nicht unbedingt für das Angebot der ehemaligen Buchhandlung Elwert interessierte, hatte schnell eine Ausrede parat. Um zu den feinen Leinenbänden auf Höhe der Oberstadt zu gelangen, musste er schließlich den Lift benutzen. Erst in den 1980er-Jahren bescherte die Stadt ihren fußfaulen Passanten einen modernen Oberstadtaufzug. Bei der Fahrt nach oben kommen einem unweigerlich wieder die Worte von Franz Josef Degenhardt in den Sinn: »Geh doch in die Oberstadt!« – wonach mit dem Weg nach oben eigentlich bereits das Dilemma eines vermeintlichen sozialen Aufstiegs beginnt. Zumindest in Degenhardts Lied ging der alles andere als gut aus.

AUF GRIMMS SPUREN

Wer steigt schon gern viele Stufen hinauf, nur um 109 Höhenmeter von der historischen Altstadt zum Schloss zu kommen? Das Kulturamt der Stadt Marburg hat sich deshalb unterhaltsame Erlebnisse entlang des Weges ausgedacht: den Grimm-Dich-Pfad. Er lockt mit verschiedenen Märchenfiguren an Häusern, Treppen und Mauern zum kurzen Verweilen und Weitersteigen. Sie stammen aus Erzählungen der Brüder Grimm, die einst in der Stadt studierten. Da ist auf der Ludwig-Bickell-Treppe beim Aufstieg nicht nur das bekannte Zitat von Jacob Grimm zu lesen, in Marburg gäbe es mehr Treppen auf den Straßen als in den Häusern. Im Teich des Alten Botanischen Gartens am Pilgrimstein schwimmt der Butt aus Grimms Märchen »Der Fischer und syn Frau«, und Aschenputtels roter Schuh ziert unterhalb der Schlossmauer den Weinberg.

WEITERE INFORMATIONEN

Touristische Auskünfte,

www.marburg-tourismus.de

Romantik-Museum,

www.romantikmuseum-marburg.de

Hotel- und Restauranttipp,

Villa Vita Rosenpark,

www.rosenpark.com/de/spezialangebot/maerchen-arrangement

Restaurant 5 Jahreszeiten,

www.das5.de

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TÜBINGEN – DEUTSCHLAND

HEILIG’S BLECHLE!

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Knapp ein Drittel der 90 000 Einwohner von Tübingen sind Studenten. Die Universitätsstadt zog stets auch Dichter und Denker an – allen voran den romantischen Dichter Friedrich Hölderlin. Er lebte in der Obhut einer Tischlerfamilie im sogenannten Hölderlinturm über dem Neckar. In jüngerer Zeit machte die Stadt öfter mal politisch von sich reden.

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Boris Palmer, Oberbürgermeister der Stadt und Grünen-Politiker, hat sein Tübingen in der Corona-Krise mehrfach in die Schlagzeilen gebracht. Mit der Ausgabe kostenloser FFP2-Masken für alle über 65, Einkaufszeitfenstern für Ältere, mit Seniorentaxen zum Preis eines Bustickets, engmaschigen Corona-Testungen in Alten- und Pflegeheimen sowie öffentlichen Corona-Testungen für alle beschritt man den Tübinger Weg – durchaus mit Erfolg. Das Land Baden-Württemberg hatte dem Modellprojekt zugestimmt, und die Einwohner freuten sich über die Öffnung von Außengastronomie sowie Kunst- und Kultureinrichtungen wie Theater, Kinos und Bibliotheken, als in allen anderen Gemeinden noch der Lockdown galt. Heilig’s Blechle! Womöglich hätten den Tübinger Sonderweg auch die vielen Dichter und Denker gutgeheißen, die in der Universitätsstadt wohnten und arbeiteten, ob Theologen oder Philosophen, Naturwissenschaftler oder Dichter. Schriftsteller Ludwig Uhland wurde in Tübingen geboren und starb dort. Der Astronom Johannes Kepler, der Aufklärer Christoph Martin Wieland, der Dichter Wilhelm Hauff und der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel studierten in Tübingen, der Lyriker Eduard Mörike ging dort zur Schule, der spätere Nobelpreisträger für Literatur, Hermann Hesse, machte hier eine Buchhändlerlehre. Und für Friedrich Hölderlin war Tübingen die große Liebe: Nach seiner Studienzeit von 1788 bis 1793 kehrte er 1807 an den Neckar zurück. Er bezog im Haus des Schreinermeisters Ernst Zimmer den Turm direkt am Fluss und lebte darin bis zu seinem Tod 1843.

Was sind Herrgottsbescheißerle?

Die Neckarfront ist das bekannteste Fotomotiv der Stadt. Von der Neckarbrücke aus hat man den schönsten Blick auf Tübingens Schokoladenseite mit dem gelb gestrichenen Hölderlinturm. Die Geschichte des Turms lässt sich bis ins 13. Jahrhundert zurückverfolgen. Die ältesten Teile gehörten der mittelalterlichen Stadtbefestigung an. Schießscharten sind bis heute zu sehen. Hinter der reizvollen Außenansicht verbirgt sich das Hölderlin-Museum, das Einblicke in die letzten Lebensjahrzehnte des Dichters gibt, der mit den »Tübinger Hymnen« die Befreiung der Menschheit und die Französische Revolution feierte. Neben zeitgenössischen Darstellungen der Stadt und des Umfelds von Hölderlin finden sich auch zahlreiche persönliche Dokumente und Briefe des Romantikers im Museum.

Bis heute sind rund ein Drittel der Bevölkerung Studenten, die für eine weltoffene und fröhliche Atmosphäre sorgen. Von allen Städten Deutschlands hat Tübingen den niedrigsten Altersdurchschnitt. Das merkt man besonders am Marktplatz in lauen Sommernächten oder am Neckarufer, wenn die Sonne scheint. Besonders schön ist die Platanenallee auf der Neckarinsel, die parallel zur Neckarfront verläuft.

Die Altstadt ist geprägt von Fachwerk mit spitzen Giebeln sowie steilen Staffeln und engen Gassen, die hinauf zum Schloss führen, das erhaben über der Stadt thront. Zur heiteren Stimmung passt das gute Essen in der Stadt, auch sprachlich ein Genuss. Etwa die Herrgottsbescheißerle: Das sind die berühmten Schwäbischen Maultaschen, die ihren Namen einer Anekdote verdanken. Während des Dreißigjährigen Krieges bekamen die Mönche des Klosters Maulbronn Fleisch geschenkt. Da gerade Fastenzeit herrschte, waren sie unsicher. In ihrer Not hackten sie das Fleisch klein und vermischten es mit Kräutern und Spinat. In Teigfladen eingerollt, konnte der Herrgott ja nicht sehen, was sie aßen …

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GRÜN, SAUBER, SEXY: TÜBINGEN MIT SEINER HÜBSCHEN NECKARFRONT UND EIN KUSS FÜR DEN MUSEUMS-CAESAR IM INNENHOF VON SCHLOSS HOHENTÜBINGEN

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AUF DEM STOCHERKAHN

Was auf dem Canal Grande in Venedig die Gondeln und singenden Gondoliere sind, sind auf dem Neckar in Tübingen die Stocherkähne und Stocherer, die bei ihren Fahrten Gedichte von Hölderlin oder Mörike zum Besten geben. Die Kulisse ist ebenfalls fast so schön wie in der Lagunenstadt: Die Blicke auf die historische Neckarfront mit dem Hölderlinturm sind so hübsch wie romantisch. Und man lernt dabei auch Einheimische kennen, die das Freizeitvergnügen vor ihrer Tür ausgiebig nutzen. Im Kahn sitzt man sich gegenüber, lehnt sich entspannt zurück und schwätzt miteinander. Manch ein Gast traut sich und versucht, selbst einmal zu stochern. Allerdings haben auf diesem Wege schon einige Besucher Bekanntschaft mit dem Neckarwasser geschlossen … Stocherkahnfahrten dauern etwa eine Stunde und finden von Mai bis September statt.

WEITERE INFORMATIONEN

Tübingen ist geografischer Mittelpunkt von Baden-Württemberg,

www.tuebingen-info.de,
www.hoelderlin-gesellschaft.de

Kahnfahrten,

https://stocherkahn-viaverde.de

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HEIMELIGE ATMOSPHÄRE: DIE MARKTGASSE GILT ALS EINE DER SCHÖNSTEN STRÄSSCHEN VON TÜBINGEN.

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SCHAFFHAUSEN – SCHWEIZ

PER ANHALTER INS PARADIES

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Ob Rheinfälle, Rheinbadi oder Weidlinge – in Schaffhausen, der Stadt der vielen prunkvollen Erker, hat die Liebe zum Rhein eine lange Tradition. Wer am Schaffhausener Hochrheinufer auf einer knallroten Bank Platz nimmt, kann sogar auf eine kostenlose Mitfahrgelegenheit im Bötchen hoffen.

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Beschaulicher könnte die Gegend nicht sein. Unter uralten Lindenbäumen haben am sogenannten Lindli in Schaffhausen mehr als 270 Weidlinge ihre Liegeplätze und schaukeln an lauen Sommertagen in den Wellen des Rheins wie venezianische Gondeln am Canal Grande. Im Kanton gehört der traditionelle Bootstyp längst zum Wahrzeichen der Gegend. Früher dienten die etwa neun Meter langen, flachen Holzkähne noch zum Warentransport und mussten unter Einsatz eines sogenannten Stachels, einer langen Holzstange, flussaufwärts gestoßen werden. Heute sind sie eines der beliebtesten Freizeitfortbewegungsmittel der Einheimischen.

An der zwei Kilometer langen Promenade des Hochrheinufers ist unter schattigen Bäumen auf Höhe der Rheinhaldenstraße 50 eine knallrote Sitzbank unübersehbar. Sie trägt die weiße Aufschrift: »Boot-Stopp«.

Daneben ist ein Schild angebracht mit einem Weidling als Symbol und dem Hinweis, dass in Privatbooten die Passagiermitnahme gratis und auf eigenes Risiko erfolgt. Kostenlos durch die sonst hochpreisige Schweiz zu reisen, erscheint einem schon fast als verwegene Idee – so selten trampen Leute heute noch.

Sehen und nicht gesehen werden

Obendrein hat auch der Ort selbst Erstaunliches zu bieten. Da kann es schon vorkommen, dass man beim Sightseeing Nackenstarre bekommt, will man alle Details an den mehr als 170 Erkern genau inspizieren. Je üppiger verziert die lichtspendenden Anbauten sind, desto wohlhabender waren ihre Bauherrn. Da staunte schon Goethe über die Lust der Schaffhausener, viel zu sehen und dabei selber lieber nicht gesehen zu werden. Unübersehbar ist aber zweifellos der Munot, jenes mächtige Kastell, das auf einem mit Reben bewachsenen Hügel über der Stadt thront und sich noch heute eine eigene Wächterin leistet. Karola Lüthi, die hier oben im Kastell wohnt, läutet jeden Abend um 21 Uhr von Hand die Munot-Glocke. Der alte Brauch, den es schon seit 1589 gibt, war früher das Zeichen zum Schließen der Stadttore. Auch unterhalb des Munot kann man in eine Welt wie anno dazumal im sogenannten Rhybadi eintauchen, dem größten in der Schweiz noch existierenden Kastenbad. Seit 1870 stellt das Holzbad seinen schiffsähnlichen Bug in die Rheinströmung.

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UNTER URALTEN LINDENBÄUMEN SCHAUKELN AM SOGENANNTEN LINDLI IN SCHAFFHAUSEN MEHR ALS 270 WEIDLINGE AN IHREN LIEGEPLÄTZEN IN DEN WELLEN DES RHEINS.

Apropos Schiff: Bei der Tramper-Bank am Lindli hat inzwischen ein Weidling angelegt. Der Mann, der sich als Pascal Mändli vorstellt, ist Bootsbauer und erzählt, dass seine Familie schon in der fünften Generation Weidlinge und Fährboote fertigt. Weil sich nicht jeder so einen kostspieligen Weidling leisten kann, hatte ein Schaffhausener Unternehmer 2011 die Idee, eine Boot-Stopp-Bank aufzustellen. Zum Glück verfügt Pascals Weidling über einen Motor und muss nicht händisch mühsam gegen die Strömung manövriert werden. Er kann einen aber nur bis ins nächste Dorf mitnehmen.

Doch dort trägt schon das Kloster den vielversprechenden Namen Paradies. Als Nonnen 1250 aus dem Konstanzer Stadtteil Paradies hierher umsiedelten, nahmen sie diesen Namen gleich mit. Heute bietet das ehemalige Klostergut den historischen Rahmen für geschäftliche oder private Feiern. Gleich gegenüber lockt unter schattigen Bäumen eine Gartenwirtschaft am Rheinufer, die sich ebenfalls den Namen Paradies gegeben hat. Neben dem geistigen ist also auch für das leibliche Wohl ausreichend gesorgt: Paradies-Burger oder ein Paradies-Plättli mit Fleischkäs und gereiftem Bergkäse stehen hier auf der Speisekarte. Paradiese, wohin man schaut. Wer möchte da noch weiterfahren?

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TOSENDE RHEINFÄLLE

Die Bötchen haben gegen die wogenden Fluten der Rheinfälle ganz schön anzukämpfen, um die Passagiere auf dem Felsen inmitten der tosenden Wassermassen abzusetzen. Dort führt eine steile Treppe nach oben auf eine kleine Aussichtsterrasse mit Schweizer Fahne. Außerhalb der Betriebszeit kann man den Felsen sogar exklusiv für ein Champagner-Frühstück oder einen Cocktail zur blauen Stunde mieten. Die Musik dazu geben die Rheinfälle. Der Schriftsteller Eduard Mörike sah hier »donnernde Massen auf donnernde Massen geworfen«, stürzt doch vier Kilometer südwestlich von Schaffhausen das Wasser des Rheins in einer Breite von 150 Metern über eine Schwelle aus Jurakalk bis zu 22 Meter in die Tiefe. Am eindrucksvollsten ist der mächtigste Wasserfall Europas im Juni und Juli. Pro Sekunde donnern dann bis zu 600 000 Liter Wasser über die Rheinfälle. www.maendli.ch

WEITERE INFORMATIONEN

Stadt und Umland,

www.munot.ch,

https://schaffhauserland.ch

Bad,
www.rhybadi.ch
Kloster,
www.paradiesli.ch

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INTERLAKEN – SCHWEIZ

»C’EST MERVEILLEUX!«

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… »Das ist wunderbar!«, soll Joséphine de Beauharnais gejauchzt haben, als die Gemahlin von Napoleon I. Anfang des 19. Jahrhunderts zum ersten Mal das Jungfrau-Massiv erblickte. Zwei Jahrhunderte später kann man Berge, Seen und Interlaken nach vielen Jahren wegen Corona wieder ohne Scharen von Touristen erleben.

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Man gönnt sich ja sonst nichts. Eigens für die Überfahrt auf dem Thunersee nach Interlaken ließ sich Napoleons Gattin ein Schiff bauen, und die standesgemäße Kutsche brachte Joséphine de Beauharnais gleich aus Paris mit. Zwischen den Seen – also in Interlaken – waren auch andere illustre Gäste zu Besuch: Goethe kam und Lord Byron, dazu jede Menge Mogule, Scheichs, Prinzen, Potentaten und Prälaten. Sie alle flanierten, kutschierten, dinierten und machten Interlaken zu einem Treffpunkt der gehobenen Gesellschaft. Interlaken war zur Zeit der Reiseromantik des 19. Jahrhunderts bis zur Belle Époque einfach zu erreichen, aber trotzdem abenteuerlich: Zahlreiche 3000-er, einige 4000-er, Gletscher, Wasserfälle, darunter der Trümmelbach, der im Berginneren tosend abwärts donnert. Dichterfürst Byron schwärmte vom »Devil of a Path«.

So entstand bald eine prosperierende Hotellerie in Interlaken. Ein Spielcasino ergänzte das Angebot, schließlich waren ja auch die Dostojewskis dieser Welt unterwegs. Und es entstand der Höheweg: 700 Meter Flanier- und Einkaufsweg gegen das großartige Alpenpanorama hin offen und unverbaut. Wer hier die Jungfrau bestaunte, gehörte dazu: zur adeligen oder doch wenigstens geldigen Gesellschaft.

Auf den Spuren von Filmhelden

Im 21. Jahrhundert sah die Gästeschar bis zur Zeit der Pandemie ganz anders aus. Wenn das Thermometer auf der arabischen Halbinsel im Sommer die 40-Grad-Markierung überstieg, machten sich rund 100 000 Menschen auf und pilgerten in die Schweizer Sommerfrische. Per Helikopter anreisende Etagenreservierer genossen hier den unwiderstehlichen Charme von Luxus. Die Historie, das Gewachsene macht den Unterschied: Ein Victoria-Jungfrau Grand Hotel braucht keine Auszeichnungen, es atmet Geschichte. Und passt sich an. Man bietet Gebetsteppiche mit integrierten Kompassen, die nach Mekka zeigen, sowie arabische Speisekarten, es gibt einen arabischen Friseur, eine Moschee.

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DIE JUNGFRAU-REGION IST ATEMBERAUBEND. DAS FANDEN AUCH DIE JAMES-BOND-MOTIVSCOUTS, UND DAS PIZ GLORIA WURDE DREHORT FÜR »IM GEHEIMDIENST IHRER MAJESTÄT«.

Viele Inder dagegen klapperten die Drehorte von Bollywood-Filmen ab, die mit Vorliebe im Berner Oberland gedreht wurden. Dass es auch mal einen James-Bond-Streifen gab, ist dabei eher nebensächlich. Das Schilthorn – mit 360-Grad-Panorama-Blick rund ums Restaurant Piz Gloria – lockte 1969 George Lazenby an: Als 007 durfte er sich in luftiger Höhe »Im Geheimdienst Ihrer Majestät« tummeln, wenn auch unterm Strich erfolglos … Es war der einzige Bond-Film mit Lazenby überhaupt.

Programmpunkt Interlaken

Bei den chinesischen Touristen verhielt es sich wiederum anders. Interlaken stand bei großen Reiseagenturen im Programm. Und ist ein Ort erst einmal gelistet, kommen die Besucher gleich in ganzen Busladungen. Doch seit der Pandemie ist Interlaken wieder das kleine 6000-Einwohner-Städtchen, das inmitten des UNESCO-Weltnaturerbes Jungfrau-Aletsch liegt.

Bis ganz nach oben, zum Jungfrau-Massiv, haben es einst weder Joséphine noch Goethe geschafft. Die Jungfraubahn, eines der großen Pionierwerke des Bergbahnbaus, wurde erst 1912 in Betrieb genommen. Auf nur 9,3 Kilometern überwindet die Zahnradbahn 1400 Höhenmeter. Sieben Kilometer führen im Tunnel durch die Bergmassive von Eiger und Mönch, ehe das Jungfraujoch auf 3454 Metern die Endstation markiert: der höchstgelegene Bahnhof Europas. Draußen wartet eine gewaltige Aussicht – egal, wie viele Besucher kommen.

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ATHLETISCHE INFERNOS

Darauf sind die stärksten Schweizer Männer stolz: Die Rekordweite eines Wurfs liegt bei 4,11 Meter. Fast unvorstellbar, wenn man weiß, dass das Sportgerät, der Unspunnenstein, 83,5 Kilogramm schwer ist. Seit 1808 steht er beim einwöchigen Unspunnenfest auf den Matten, der großen Wiese vor dem Victoria-Jungfrau Grand Hotel, im Mittelpunkt. Der Wettkampf findet allerdings nur alle zwölf Jahre statt; das nächste Mal 2029. Jährlich im August fordert stattdessen der Inferno Triathlon den Sportlern alles ab: Mit 5500 zu bewältigenden Höhenmetern gehört er zu den schwersten der Welt, denn es geht fast ausschließlich bergauf. Glacier Bungy und Canyon Jump in der Grindelwalder Gletscherschlucht gehören zu den weiteren außergewöhnlichen Sportangeboten der Jungfrau-Region.

WEITERE INFORMATIONEN

Stadt- und Berginfo,
www.interlaken.ch, www.victoria-jungfrau.ch
Sportereignisse,
www.unspunnenfest.ch, www.inferno.ch
Bungy und Canyon,
www.adventurebase.ch

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DEN FASZINIERENDEN BLICK VON DER BERGISEL-SCHANZE ERLEBEN SKISPRINGER UND BESUCHER DES SCHANZEN-RESTAURANTS BERGISEL SKY GLEICHERMASSEN. DIE MARIA-THERESIEN-STRASSE MIT DER SPITALSKIRCHE

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INNSBRUCK – ÖSTERREICH

DAS HERZ DER ALPEN

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Den Beinamen »Herz der Alpen« trägt Innsbruck zu Recht. Denn die Metropole im Tal des Inns bietet zwischen hohen Berggipfeln alpenländisches Flair genauso wie südländisches Ambiente. Die mannigfaltige europäische Geschichte gibt’s als Zugabe gratis.

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In der beschaulichen alpenländischen Umgebung von Bergdörfern, Almwiesen und Kuhglocken offenbart sich die Tiroler Landeshauptstadt als lebendiges Kontrastprogramm. Großstädtisches Flair verbreiten besonders die Maria-Theresien-Straße und die Herzog-Friedrich-Straße mit ihren vielen Shopping-Angeboten für unterschiedlichste Budgets und Neigungen. Darüber hinaus gibt es von Theater und Promenadenkonzert bis zu Alter Musik Unterhaltung für jeden Geschmack. Zahlreiche Restaurants laden ein zu Tiroler oder internationaler Küche, Cafés im traditionellen oder im modernen Ambiente locken mit der lebendig gebliebenen Kaffeehausatmosphäre früherer Zeiten. Und nur wenige Schritte entfernt umgibt sich die Altstadt mit dem Grün des Hofgartens und des Englischen Gartens. Hier treffen sich Studentinnen und Studenten der acht Innsbrucker Hochschulen und Universitäten ebenso gern wie Einheimische und Touristen.

Die zentrale Fußgängerzone beginnt an der Triumphpforte von 1765, die der Hochzeit von Erzherzog Leopold und Maria Ludovica gewidmet ist, und führt direkt zum zweifellos berühmtesten Wahrzeichen von Innsbruck, dem Goldenen Dachl. Exakt 2657 vergoldete Kupferschindeln überdachen den gotischen Prunkerker, den der Herr der Habsburger und spätere Kaiser Maximilian I. (1459–1519) kurz vor der Zeitenwende zum 16. Jahrhundert errichten ließ. Von dort aus konnte er das bunte städtische Treiben beobachten, Ritterturnieren zusehen oder sich huldigen lassen. Doch der Platz vor seiner Residenz erlebte auch dunkle Momente, blutige Kämpfe etwa oder öffentliche Verbrennungen. Das Schicksal von Jakob Hutter, der dort 1536 als Führer der Tiroler Täuferbewegung auf dem Scheiterhaufen starb, war kein Einzelfall.

Goldenes Dachl und »letzter Ritter«