Epub-Version © 2021 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert
Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.
Internet: https://ebooks.kelter.de/
E-mail: info@keltermedia.de
Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.
ISBN: 978-3-74098-598-1
Im ganzen Haus war es noch still, nur vom nahe gelegenen Kirchturm hörte man die Glocke sieben Uhr schlagen, als Magda in die große Küche trat. Die tüchtige Köchin von Sophienlust war seit jeher eine Frühaufsteherin, und auch heute genoss sie die frühmorgendliche Ruhe im Haus. Sie ging zu den beiden großen Fenstern, von denen man in den weitläufigen Park schauen konnte, und öffnete sie weit.
Sofort strömte frisch duftende Morgenluft in die Küche. Magda schloss die Augen und nahm einen tiefen Atemzug. Dann schaute sie hinaus in den schönen, gepflegten Park und ließ ihren Blick langsam darüberschweifen.
Auf der großen grünen Rasenfläche lag noch der feuchte Morgentau und hinterließ einen funkelnden, silbrig glänzenden Schleier. In den Wipfeln der großen alten Bäume bewegten sich die Blätter sanft im leichten Wind. Die aufgehende Sonne strahlte ins Zimmer und Magda fühlte die Wärme auf ihren Armen.
Einige Momente blieb sie noch am Fenster stehen und freute sich über ihr großes Glück, in Sophienlust zu sein. Es war ein wunderbarer Ort, mit wunderbaren Menschen, und sie war schon lange ein Teil davon. Dafür war sie sehr dankbar und gab ihre ganze Liebe und Freude an alle Bewohner des Hauses weiter.
»Jetzt aber genug geträumt«, ermahnte sie sich selbst und streckte energisch die Arme aus. Dann begann Sie tief ein- und auszuatmen. Fast gleichzeitig ging sie, ein wenig steif in den Knochen, in die Knie und richtete sich anschließend langsam wieder auf.
Magda hatte in der letzten Zeit bemerkt, dass ihre Beweglichkeit ein wenig eingeschränkt war und ihr Rücken manchmal schmerzte. Ihr Arzt hatte aber keine Krankheit feststellen können und ihr geraten, täglich Gymnastik zu machen. Lachend hatte er ihr gesagt, dass das Alter und ihr gutes Essen wohl der Hauptgrund für ihre Beschwerden wären.
Die Köchin hatte sich die Worte ihres Arztes zu Herzen genommen und angefangen, täglich Bewegungsübungen zu machen. Sie wollte ja noch lange für alle Bewohner in Sophienlust kochen und backen. Denn sie wusste, dass gutes und gesundes Essen sehr wichtig für die heranwachsenden Kinder war, und auch die Erwachsenen aßen mit viel Appetit die frisch und mit viel Liebe zubereiteten Mahlzeiten der leidenschaftlichen Köchin.
In die Stille hinein fing der Wasserkessel auf dem Herd
hörbar an zu pfeifen und holte Magda damit aus ihren Gedanken. Rasch beendete sie ihre Gymnastikübungen am offenen Fenster. Sie warf noch einen schnellen Blick in den Park und sah die beiden Hunde Anglos und Barri miteinander im Gras toben. Anglos war eine Dogge mit viel Kraft und Energie und Barri ein älterer und behäbigerer Bernhardiner. Trotzdem tollten sie jetzt beide mit wehenden Ohren, wie zwei junge Hunde, durch den Park. Magda lachte als sie es sah, dann wandte sie sich wieder dem kochenden Wasser auf dem Herd zu und goss eine erste Kanne Tee auf.
Als sie einige Minuten später wieder in den Garten schaute, sah sie, dass die beiden Hunde wie angewurzelt auf einem Fleck standen, die Ohren gespitzt, und gebannt in Richtung Waldrand schauten. Auch Magda blickte jetzt neugierig in diese Richtung und erwartete ein Reh oder ein anderes scheues Waldtier zu entdecken.
Aber es war kein Tier, das die Aufmerksamkeit der beiden Hunde geweckt hatte. Es war eine kleine weiße Gestalt, die scheinbar über dem Boden am Waldrand entlangschwebte. Die Köchin rieb sich mit ihren Händen erstaunt die Augen und schaute erneut in Richtung der hohen Bäume und sah, wie die Erscheinung in den Wald hineinhuschte und Sekunden später im Dickicht der Bäume verschwunden und nicht mehr zu sehen war. Die Hunde saßen nach wie vor wie versteinert im Garten und schauten unablässig in die Richtung der hohen und dichten Bäume.
»War das ein Geist? Ein echter Geist? Spukt es in Sophienlust? Oh, das ist so aufregend. Meinst du, das Gespenst kommt mich auch mal besuchen?«, ertönte ein kleines bekanntes Stimmchen aufgeregt neben Magda. Die schrak zusammen und stieß die Luft aus.
»Heidi! Wie kannst du mich so erschrecken«, raunzte sie die kleine Frühaufsteherin an, die unbemerkt zu ihr in die Küche getapst war. Doch sie meinte es nicht so, denn gleich darauf tätschelte sie liebevoll Heidis Blondschopf.
Heidi schmiegte sich an die Köchin. »Aber ein kleines bisschen habe ich auch Angst. Ob das Gespenst ein liebes Gespenst ist?«
Magda schüttelte den Kopf, entspannte sich und schaute zu dem kleinen Mädchen neben sich. Heidi war noch im Schlafanzug, der Haarschopf zerzaust, und in den klaren blauen Augen fanden sich noch Reste vom Sandmann.
Liebevoll fragte die Köchin: »Heidi, warum bist du so früh schon wach? Das ist ja ganz ungewohnt, wo du doch heute ausschlafen kannst?«
»Ich habe unter meinem Fenster Geräusche gehört und bin wach geworden. Als ich aus dem Fenster schaute, sah ich einen kleinen Geist durch den Park laufen«, antwortete das Mädchen ernst und schaute mit großen Augen erwartungsvoll zu Magda.
»Also, du hast auch was am Waldrand gesehen? Ich habe etwas schweben sehen und die Hunde wohl auch. Die saßen ganz still und haben ganz gespannt zum Wald geschaut«, sagte die ältere Frau und machte eine kleine Pause. »Das war aber sicher nur eine Nebelschwade oder so etwas. Du brauchst keine Angst zu haben. In Sophienlust gibt es keine Geister. Das wüsste ich, denn ich bin schon so lange hier.«
Magda schüttelte noch mal, ihre Worte bestärkend, den Kopf und legt ihre Hand beruhigend auf den Haarschopf des kleinen Mädchens. Heidi schaute zu ihr auf und erwiderte den Blick einige Sekunden, dann zuckte sie unbekümmert mit den Schultern und wandte sich zum Esstisch. So ganz hatte sie die Erklärung der Köchin nicht überzeugt, und außerdem war es viel spannender, wenn es einen Geist in Sophienlust gab. Sie nahm sich vor, später im großen Garten suchen zu gehen.
»So, jetzt genug mit dem Unfug und weiter im Tagesgeschäft«, sagte Magda betont munter und ging zum Kühlschrank. »Für dich gibt es jetzt erst einmal einen guten warmen Kakao. Der wird dich beruhigen und auf andere Gedanken bringen.«
Ihr Blick wanderte aber auch noch einmal zum Waldrand und dann zu den Hunden. Die beiden tollten schon wieder über die Wiese. Alles war wie immer, und ein neuer, schöner und ereignisreicher Tag in Sophienlust konnte beginnen.
*
»Elisabeth, Sissi, Sissikind, wo bist du denn?«, rief Karin Schneider leise durch den ersten Stock des kleinen Hauses und ging aufgeregt und schnellen Schrittes durch alle Zimmer. Leise öffnete sie die Zimmertür ihres ältesten Sohnes Moritz und spähte hinein. Der Vorhang vor dem Fenster war zugezogen und ließ nur einen kleinen Lichtschein durch. Es war nicht möglich, irgendetwas in dem Zimmer zu sehen. Karin schüttelte den dunklen Pagenkopf und stöhnte leise. Wo war nur das Kind? »Sissi?«, flüsterte sie ins Dunkle hinein. »Elisabeth, bist du hier?«
»Was willst du Mama? Es sind Sommerferien und ich kann ausschlafen, Sissi tut das wahrscheinlich auch«, kam eine schlaftrunkene Antwort aus dem hinteren Teil des Zimmers.
»Ich suche sie. Sie ist nicht in ihrem Bett, nicht in ihrem Zimmer und nicht im Haus. Ich kann das Kind nicht finden. Es ist noch früh, und ich mache mir große Sorgen«, antwortete Karin leise in Richtung ihres Sohnes. »Aber wenn sie nicht bei dir im Zimmer ist, muss ich weitersuchen. Mach dir keine Gedanken, ich werde sie schon finden. Schlaf weiter und genieße deinen ersten Ferientag.« Vorsichtig schloss die junge Frau die Tür und ging zur Treppe.
Sie hatte jetzt überall im ersten Stockwerk nach Elisabeth gesucht. Hier war sie jedenfalls ganz sicher nicht, deswegen wollte sie jetzt noch einmal sorgfältig im Erdgeschoss und Garten nach ihr schauen. Aber sie fand ihre kleine Nichte nicht im Haus, und auch draußen hatte sie kein Glück. Elisabeth war wie vom Erdboden verschluckt, und Karin begann sich ernsthaft Sorgen zu machen.
Erst der furchtbare Autounfall, dann die überstürzte Abreise ohne ihre Mutter von Gut Sommerfeld und dann noch der Verlust ihres Koffers während der Bahnfahrt hierher, den sie im Zug in all dem Wirrwarr vergessen hatten, mussten dem Kind in der letzten Zeit sehr zugesetzt haben.
Das kleine Mädchen war mit seiner Mutter im Auto unterwegs gewesen, als ein anderer Wagen ihnen die Vorfahrt nahm und es zum Unfall kam. Glücklicherweise hatte Elisabeth nur ein paar oberflächliche Schrammen, aber ihre Mutter erwischte es schlimm. Claudia Bernshausens gesamter Oberkörper war mit Schnittwunden und Prellungen überzogen und sie erlitt größere Verletzungen an beiden Beinen. Sie, Karin, war sofort nachdem sie von dem Unfall erfahren hatte, mit dem Zug zu ihrer Schwester nach Nordheim auf das Gut Sommerfeld gefahren, um für sie und das Kind da zu sein.
Die Gutsbesitzer waren Claudias Arbeitgeber, ein Diplomat und eine bekannte Opernsängerin. Beide hatten ein paar Tage vorher mit dem zehnjährigen Sohn eine lange Auslandsreise angetreten und konnten sich daher nicht um Claudia und ihre siebenjährige Tochter kümmern.
Für ihre Schwester konnte Karin nicht viel tun, sie war vorerst gut im nahe gelegenen Kreiskrankenhaus aufgehoben. Dort war sie sofort operiert worden. Im Anschluss an den Krankenhausaufenthalt war eine längere Rehabilitation geplant. Die Schwestern hatten besprochen, dass Elisabeth, genannt Sissi, mit ihrer Tante Karin nach Wildmoos fahren und so lange dort bleiben sollte, bis Claudia wieder vollständig hergestellt war und nach Hause konnte.
Das Krankenhaus lag in der Nähe von Gut Sommerfeld, daran war nichts zu ändern. Aber die längere Rehamaßnahme konnte in einer Klinik in Maibach durchgeführt werden, und das war in unmittelbarer Nähe zu Karins Wohnort. So könnten Mutter und Tochter so viel Zeit wie möglich zusammen verbringen, und auch für Karin würde es einfacher sein, sich um ihre Schwester zu kümmern.
Das Klingeln des Telefons holte Karin aus ihren Gedanken, und schnell nahm sie den Hörer ans Ohr. »Ja, Schneider?«, meldete sie sich, weil sie nicht aufs Display geschaut hatte. »Oh, Robert, guten Morgen! Das ist gut, dass du anrufst. Ich kann Sissi nicht finden. Sie ist wie vom Erdboden verschluckt, ich mache mir Sorgen«, berichtete Karin. »Hast du heute Morgen in ihr Zimmer geschaut, bevor du gegangen bist?«
«Guten Morgen, meine liebe Frau. Es ist schön, deine Stimme zu hören«, sagte ihr Mann am anderen Ende der Leitung und machte dann eine kleine Pause, bevor er weitersprach: »Nein, ich habe nicht nach ihr geschaut. Es war ja auch erst vier Uhr. Da schlafen die Kinder noch, und ab heute sind Ferien. Ich hatte keinen Grund, nach ihnen zu schauen. Aber jetzt mach dir keine Sorgen. Dem Kind wird schon nichts passiert sein, sie hat sich sicher versteckt und du hast sie noch nicht gefunden. Sie kennt sich ja gut bei uns und in der Umgebung aus. Die Jungs und Sissi haben ja schon immer viel Verstecken gespielt. Auch draußen im Garten und in der nahen Umgebung. Spätestens wenn sie Hunger bekommt, taucht Sissi wieder wohlbehalten bei dir auf.«
Robert redete ruhig und sachlich und hoffte damit, seiner Frau die Angst zu nehmen. Er kannte seine kleine Nichte seit ihrer Geburt und wusste, dass sie ein kluges und vernünftiges Persönlichen war. Niemals würde sie einfach so von zu Hause weglaufen.
Das kleine Mädchen war etwas ganz Besonderes in ihrer aller Leben. Er und Karin hatten drei Söhne. Es waren zweifelsohne freundliche und aufgeschlossene Jungs. Aber eben auch richtige Jungs: Sie kletterten mit Vorliebe auf hohe Bäume, bauten Staudämme im eiskalten Bach hinter dem Haus und schlichen auch schon mal in der dunklen Nacht über den Friedhof und erzählten sich dabei gegenseitig Gruselgeschichten.
Robert musste lachen, als er an sie dachte. Zimperlich waren sie nicht, auch nicht der jüngste. Aber alle drei trugen ihr Herz auf dem rechten Fleck. Und in dem Moment, als die kleine Cousine Elisabeth geboren wurde, schworen sie sich untereinander, immer und ewig auf Sissi aufzupassen. Und dem kamen sie auch vorbildlich nach.
»Was meinst du? Wo könnte sie sein? Hast du eine Idee?«, fragte Karin und holte ihn mit ihrer Frage aus seinen Gedanken zurück.
»Was ist mit den Jungs? Wissen die nichts? Die drei wissen doch sonst immer ganz genau, wo ihr Prinzesschen ist«, antwortete er und konzentrierte sich jetzt ganz auf das Gespräch mit seiner Frau. Er konnte die Unruhe in ihrer Stimme hören, und er bedauerte, jetzt nicht an ihrer Seite sein zu können.
Unter der Woche verdiente er sein Geld als Lastwagenfahrer. Er arbeitete für eine große Spedition und hatte einen sicheren Job. Das Gehalt war gut, und am Wochenende war er zu Hause. Aber in der Woche musste er oft weit weg von zu Hause in seinem LKW übernachten. Dann konnte er nicht bei seiner Frau und den Kindern sein, und Karin trug ganz alleine die Verantwortung für alle. Diese Situation machte Robert oft traurig.
»Gut, dann vertraue ich jetzt darauf, dass sie spätestens nach Hause kommt, wenn sie Hunger hat. Sie kennt sich hier in der Gegend ja gut aus und hat sich sicher nicht verlaufen. Vielleicht ist sie ja auch gar nicht aus dem Haus gegangen und ist noch hier irgendwo ganz in der Nähe«, meinte Karin etwas ruhiger.
»Ja, ich glaube auch, dass du dir keine Sorgen machen musst. Elisabeth kennt sich aus, und sie ist ja kein ganz kleines Kind mehr. Für ihr Alter ist sie ja auch schon sehr vernünftig. Sicher taucht sie gleich aus irgendeiner Ecke auf und ist ganz erstaunt darüber, dass du dir Sorgen machst«, antwortete Robert und legte dabei seine ganze Zuversicht in die Stimme. »Du sagst mir aber gleich Bescheid, wenn sie wieder da ist?«, fügte er noch an. Karin bejahte den Wunsch, und dann legten sie auf.
Robert startete den Motor seines LKWs und fuhr wieder vom Rastplatz auf die Autobahn. Er hatte jetzt noch drei Stunden Fahrt vor sich, dann hatte er den ersten Kunden erreicht. Viele weitere Stunden lagen noch vor ihm. Erst am Freitagmorgen würde er wieder zu Hause sein.
Karin ging hinüber in ihre kleine Wäscherei, die direkt neben dem Wohnhaus lag. So konnte sie immer schnell nach dem Rechten und vor allem nach den drei Jungs schauen, wenn die Zeit es zuließ. Sie war seit einigen Jahren selbständig und hatte sich einen festen Kundenstamm aufgebaut. Das Geschäft lief gut, und zusammen mit dem Verdienst von Robert konnte sich die Familie ab und zu auch ein Extra leisten.
Karin befüllte die Waschmaschine mit der ersten Ladung und ihre Gedanken kreisten um die bevorstehenden Sommerferien. In den letzten Jahren waren sie, Robert und die Jungs stets für drei Wochen auf das Gut Sommerfeld gefahren. Dort waren sie auch von den Besitzern herzlich willkommen gewesen. Die Familie Ortega hatte ihnen sogar das Gästehaus zur Verfügung gestellt, damit alle genug Platz hatten. Daniel, der Sohn der Ortegas, freute sich über den Besuch von Moritz, Christian und Lukas, und zusammen verbrachten sie aufregende und spannende Ferientage.
Karin, Robert und Claudia genossen es, viel Zeit miteinander zu verbringen, und immer mit dabei war Sissi. Jeder liebte das kleine Mädchen mit den langen roten Locken, dem hellen Teint und der zarten Gestalt.
Karin riss sich aus ihren Gedanken und befüllte schnell die letzte Maschine mit Wäsche und wandte sich zum Bügeltisch. Dabei schaute sie wieder aus dem Fenster, um nach dem Mädchen Ausschau zu halten – und plötzlich sah sie Sissi den Weg entlang auf das Haus zukommen.
Schnell ging sie zur Tür, trat auf die Straße und lief ihr entgegen. »Sissi, Kind, Liebes! Wo warst du? Ich habe mir Sorgen gemacht. Warum bist du so früh und ganz alleine aus dem Haus? Hast du schlecht geträumt, oder hat dir etwas Angst gemacht?« fragte Karin besorgt und nahm das Kind vorsichtig in die Arme.
»Bist du hingefallen? Dein Knie ist aufgeschlagen. Und was ist mit deinen Schuhen? Bist du barfuß aus dem Haus? Ach, mein liebes kleines Mädchen, jetzt gehen wir schnell ins Haus und du trinkst erst einmal einen warmen Kakao. Dann wird es dir gleich besser gehen.«
Karin nahm das Kind auf den Arm und ging Richtung Haus. Jetzt war Sissis Gesicht ganz nahe an dem ihren, und Karin drückte ihr einen Kuss auf die Wange. »Ich habe dich sehr lieb, mein kleiner Schatz, und du musst mir versprechen, dass du nächstes Mal Bescheid sagst, wenn du aus dem Haus gehst.
Sissi schmiegte sich an Karin, und mit ihrer kleinen Hand strich sie ihr über die kurzen braunen Haare. Dann lächelte sie ganz leicht und nickte mit ihrem Köpfchen. Sagen konnte das Kind nichts. Seit dem Autounfall vor wenigen Tagen sprach sie nicht mehr. Der Schock hatte ihr die Sprache verschlagen.
*
Wieder hatte die Kirchturmglocke sieben Uhr geschlagen, als Magda am nächsten Morgen in die große Küche trat. Wie am Tag zuvor ging sie zu den beiden großen Fenstern und öffnete sie weit. Auch heute strömte durch einen kleinen Wind frische Morgenluft in die Küche, und Magda nahm einige tiefe Atemzüge.
Bevor sie aber heute ihre morgendlichen Bewegungsübungen machte, setzte sie Teewasser auf und stellte den Backofen an. Am Vorabend hatte sie Hefeteig angesetzt, und heute Morgen sollte es zum Frühstück frisch gebackene weiche Brötchen geben. Alle Bewohner von Sophienlust liebten es, wenn der Duft durch das ganze Haus zog und das nahende Frühstück ankündigte.
Magda schob das letzte Blech in den Ofen, ging zum Fenster und begann ihre täglichen Übungen. Und jedes Mal wenn sie wieder gerade stand, schaute sie in den weitläufigen Park. Irgendetwas war heute anders, aber sie konnte nicht auf Anhieb sagen, was es war, und überlegte bei jeder Kniebeuge erneut. Und dann wusste sie es:
Die Hunde fehlten, und das war wirklich ungewöhnlich. Anglos und Barri waren immer die Ersten, die im Haus wach waren und sofort hinaus wollten. Sobald jedoch im Haus ein Licht anging oder ein Bewohner zu hören war, kehrten die Hunde sofort zurück und setzten sich pflichtbewusst vor die Freitreppe.
Und jetzt war von den Hunden nichts zu hören und nichts zu sehen! Magda war neugierig geworden und verließ Küche. Raschen Schrittes durchquerte sie die Halle und schaute aus den bodentiefen Fenstern neben der Eingangstür auf die unmittelbar davor liegende Freitreppe. Sie erwartete, nichts Außergewöhnliches zu sehen, und war daher umso überraschter über das Bild, das sich ihr bot. Sie stieß einen kleinen überraschten Laut aus und legte sich schnell die Hand auf den Mund.
Sie wollte das kleine Mädchen, das auf der obersten Stufe der Treppe saß, nicht erschrecken. Die Köchin atmete tief durch und schaute nun genauer auf die Szene, die sich vor ihren Augen abspielte: Da saß ein Mädchen mit langen roten Locken und einem feinen hellen Gesicht mit vielen kleinen Sommersprossen. Es trug ein hübsches weißes, ärmelloses Kleidchen mit einer großen Schleife am Rücken. So wie Magda es sehen konnte, hatte das Kind keine Schuhe an.
Auf ihrem Schoß lagen zwei der kleinen Katzenjungen, die im Frühjahr im Gartenschuppen geboren worden waren. Jetzt im Sommer schlief die Katzenmutter mit ihren fünf Jungen oft auf der kleinen Terrasse bei der Treppe.
Und dann sah Magda, dass auch die anderen drei kleinen Katzen neben und vor dem Mädchen waren und sich an ihren Beinen rieben und sie mit ihren Köpfchen anstießen, um Aufmerksamkeit zu bekommen.
Die beiden Hunde aber saßen starr und steif am Ende der Treppe und bewachten ehrfürchtig das ganze Schauspiel. Magda musste lachen und war gleichzeitig sehr gerührt über das, was sie sah.
Leise ging sie zurück in die Küche und bereitete eine Tasse Kakao zu. Sie nahm ein ofenfrisches warmes Brötchen, bestrich es mit Butter und legte es auf einen Teller. Dann stellte sie alles auf ein kleines Tablett und ging zurück zur Haustür. Leise öffnete sie eine der Flügeltüren und trat vorsichtig heraus.
Die Hunde spitzen die Ohren und schauten aufmerksam zu Magda und beobachteten genau, was sie tat. Das Mädchen bemerkte nichts und streichelte und kuschelte unablässig mit den Katzenkindern, und auf ihrem kleinen Gesichtchen lag ein glückliches Lächeln.
Vorsichtig wollte Magda das Tablett neben das Kind auf die Treppe stellen, und dazu musste sie sich tief bücken. Erfreut bemerkte sie, dass die morgendlichen Übungen sich lohnten, denn sie kam gut hinunter und ohne Probleme wieder hoch.
Jetzt hatte das Kind die ältere Frau entdeckt und erschrak ein bisschen, fing sich aber schnell wieder, und auf ihrem Gesicht erschien ein winziges Lächeln.
»Guten Morgen, Prinzessin, und herzlich willkommen in Sophienlust«, sagte Magda leise und lächelte freundlich. »Vielleicht magst du einen Kakao trinken, du hast sicher schon eine weite Reise hinter dir und bist ein wenig durstig?« Sie hoffte, das Kind würde sagen, woher es käme. Aber sie bekam keine Antwort, nur ein weiteres winziges Lächeln.
Das Mädchen nahm den Becher mit Kakao, trank einen großen Schluck und stellte ihn wieder vorsichtig auf das Tablett. Das Brötchen rührte sie vorerst nicht an.
»Kein Geist, eine Prinzessin. Ich wusste es! Also hatte ich gestern Morgen doch richtig gesehen«, erklang ein Kinderstimmchen von der Flügeltür. Magda und das Kind drehten sich gleichzeitig um und schauten zur Tür. Dort stand Heidi, wieder im Pyjama, barfuß und mit zerzausten Haaren. Dann kam sie Schritt für Schritt langsam und ganz leise näher. Sie legte den Finger auf den Mund und zischte: »Pscht«.
Magda lächelte und sah fragend von Kind zu Kind.
»Ich will niemanden erschrecken. Wenn es nun doch nur ein Prinzessinnen-Geist ist und sich erschrickt, verschwindet sie vielleicht wieder«, flüsterte Heidi erklärend und setzte sich neben das Mädchen auf die Treppe.
Dann hob sie ihre rechte Hand und strich ganz vorsichtig über das rot gelockte Haar und das freundliche Gesicht ihrer unbekannten Sitznachbarin. Diese blieb ganz still und machte keinen Mucks.
»Nein«, sagte Heidi dann bestimmt und schüttelte ihren Kopf. »Kein Geist. Alles echt. Eine echte Prinzessin. Eine Prinzessin in Sophienlust. Das passt gut. Das gefällt mir.«
»Guten Morgen, was macht ihr denn schon so früh hier draußen? Und wer ist das kleine Mädchen?«, fragte eine weitere Stimme von hinten. In der Flügeltür stand Pünktchen, auch im Schlafanzug, mit zerzausten Haaren und barfuß. Sie trat einen Schritt nach vorne und schaute neugierig auf den Teller mit dem Butterbrötchen. »Sind die Brötchen schon fertig? Kann ich auch eins haben? Die sind warm am allerbesten. Da mag ich sie am meisten.«
»Guten Morgen, Pünktchen. Warum bist du denn schon so früh wach?«, fragte Magda während sie Richtung Küche ging. »Ich mache noch ein paar Butterbrötchen. Ihr könnt ja so lange hier draußen sitzen und euch kennenlernen. Heidi und ich wissen auch nicht, wer das kleine Mädchen ist. Aber vielleicht bekommst du ja etwas aus ihr heraus«, sagte sie noch und verschwand in der Küche.
»Wer bist du und wo kommst du her?«, fragte Pünktchen freundlich das kleine Mädchen, während sie sich ebenfalls neben sie auf die Treppe setzte. Aber das Kind antwortete nicht, ganz so, als ob sie Pünktchens Frage nicht gehört hätte. Dann leerte sie ihre Tasse Kakao und nahm mit der linken Hand das Butterbrötchen vom Teller, mit der rechten Hand setzte sie die kleine weiße Katze, die bei ihr auf dem Schoß lag, vorsichtig auf den Boden und stand auf. Stufe für Stufe ging sie langsam die Treppe hinunter.
Unten angekommen drehte sie sich noch einmal um, lächelte und winkte Heidi und Pünktchen mit der freien Hand zu und lief dann Richtung Eingangstor. Sekunden später verschwand sie auf dem dahinterliegenden Weg.
Die beiden Hunde Anglos und Barri sowie Heidi und Pünktchen schauten dem Kind sprachlos hinterher.
»Und? Wisst ihr, wie sie heißt?«, fragte Magda, die ein großes Tablett, beladen mit frischen Butterbrötchen und einer Kanne Kakao auf die Treppe hinaustrug. Die beiden schüttelten die Köpfe und schauten zur ihr, die jetzt hinter ihnen stand.
»Nein, sie hat nicht geredet und ist dann auf einmal gegangen. Schade, sie scheint nett zu sein. Sie lächelt sehr freundlich und war ganz lieb mit den Katzen«, erzählte Pünktchen während sie aufstand und Magda mit dem Tablett half.
»Dürfen wir hier jetzt auf der Treppe frühstücken? Das wäre super!«
»Ja, so war das ja jetzt nicht gemeint, aber wenn wir jetzt schon alle hier draußen sind, können wir auch bleiben und den Morgen auf der Treppe genießen.
*
Der Wecker hatte lange und unbeachtet geklingelt, bevor er sich von alleine abstellte. Die Sonne stand schon hoch, und es war acht Uhr vorbei, als Karin aufwachte. Sie drehte sich auf die Seite, um einen Blick auf die Uhr zu erhaschen. Als sie die Zeit las, schloss sie noch einmal die Augen und drehte sich auf die andere Seite. Ein paar Minuten noch, dachte sie, es ist so gemütlich im Bett.
Plötzlich riss sie die Augen auf, setzte sich kerzengerade auf und angelte den Wecker vom Nachtisch. Dieser zeigte jetzt 8.35 Uhr an. Karin schüttelte den Kopf, dann den Wecker und schaute aus dem Fenster. Es musste stimmen, was die Uhr anzeigte. Die Sonne stand in voller Pracht am Himmel, und von der Straße her hörte sie die Menschen sprechen und Autos fahren.
Sie hatte verschlafen, und das war ihr in den letzten Jahren nicht oft passiert! Hastig stand sie auf und zog sich ihren leichten Morgenmantel über ihr Nachthemd. Mit ein paar Schritten war sie über den Flur gelaufen und öffnete die Tür zum Wäschezimmer. Hier hatte Sissi ihr kleines eigenes Reich gefunden, solange sie bei ihnen war. Karin hatte das helle Zimmer so gut es ging leer geräumt und es mit ein paar Handgriffen und ein wenig Dekoration in einen gemütlichen Ort verwandelt.
Sissi fühlte sich in dem Zimmer wohl und schlief auch gerne darin. Sie brauchte nicht viel Platz, da sie tagsüber immer draußen mit den Jungs unterwegs, bei Karin in der Wäscherei oder mit allen Bewohnern in der gemütlichen Küche war.
Die Tür zu Sissis Zimmer stand einen Spaltbreit offen, und Karin sah mit einem Blick, dass das Kind wieder nicht im Bett lag und auch nicht mehr im Zimmer war. Schnell ging sie die Treppe herunter und schaute in der Küche nach ihrer kleinen Nichte. Aber da war das Kind auch nicht. »Sissi, Sissi. Schätzchen, wo bist du?«, rief Karin leise durch das Erdgeschoss und ging mit zügigen Schritten durch das Wohnzimmer und zur Terrassentür und atmete im gleichen Augenblick erleichtert auf. »Da bist du ja, mein kleiner Schatz!«, stellte sie fest und trat auf die Terrasse.
Sissi hatte es sich in der Hollywoodschaukel bequem gemacht und sah zufrieden aus. Sie hatte ihre Puppe und ein paar ausrangierte Stofftiere von den Jungs um sich versammelt und machte Kunststücke mit ihnen. Als sie Karin hörte, unterbrach sie ihr Spiel und schaute ihre Tante glücklich lächelnd an.
»Ach, da bin ich froh, dass ich dich gefunden habe. Ich dachte schon, du bist wieder draußen alleine unterwegs«, sagte sie und nahm Sissi in die Arme. Die Kleine schmiegte sich an sie, drückte ihr einen Kuss auf die Wange und lächelte liebevoll.
»Mein kleiner Engel, leider habe ich verschlafen und bin jetzt ganz spät dran. Die ersten Kunden kommen gleich, und ich bin noch nicht mal angezogen. Daher kann ich dir jetzt kein Frühstück machen, erst etwas später. Aber wenn du Hunger hast oder durstig bist, dann hole dir etwas aus der Küche. Du kennst dich ja aus. Und später habe ich dann Zeit für dich, und wir können zusammen etwas spielen«, erklärte Karin dem Kind und schaute es liebevoll an.
Sissi nickte lächelnd und wandte sich wieder ihrer Puppe zu.
»Die Jungs sind sicher auch bald wach und kommen in den Garten. Dann bist du nicht mehr alleine und ihr könnt alle zusammen etwas spielen«, rief Karin noch und war dann schon wieder im Haus verschwunden.
Tatsächlich tauchte wenig später der neunjährige Lukas im Garten auf und setzte sich zu Sissi in die Hollywoodschaukel.
»Wo ist Mama? Warum hat sie kein Frühstück gemacht? Hast du schon etwas bekommen? Ich habe auch Hunger. Großen Hunger. Sehr großen Hunger«, stellte der Junge fest und rieb sich den Bauch. Dann grinste er frech und griff nach einem der Stofftiere neben sich, und bevor Sissi es ihm wieder wegnehmen konnte, hatte Lukas sich das eine Bein vom Hasen in seinen Mund gestopft und tat so, als ob er es zum Frühstück verspeisen wollte.
Sissi riss die Augen auf und war sehr erschrocken über das, was sie sah. Ihr Cousin wollte den Stoffhasen essen! Das kleine Mädchen schüttelte panisch den Kopf und versuchte, Lukas das Tier aus dem Mund zu ziehen. Doch der Junge hielt es mit den Zähnen fest und freute sich über die vergeblichen Stofftierrettungsversuche seiner kleinen Cousine. Und einen Augenblick später war es dann geschehen: Sissi hielt das eine Teil vom Hasen mit einem Bein in der Hand und das andere Bein hing schlaff aus Lukas Mund heraus. Als er dann den Kiefer ein wenig öffnete, fiel das Bein lautlos auf seinen Schoß.
Beide Kinder waren zuerst erstaunt, aber dann fing der Junge an zu lachen. Er lachte laut, so laut, dass es durch den ganzen Garten schallte und seine Brüder Christian und Moritz neugierig aus ihren Zimmerfenstern in den Garten schauten.
Schnell hob Lukas das Hasenbein auf und stopfte es wieder in seinen Mund und tat so, als ob er damit kämpfte. Dabei schüttelte er wild den Kopf hin und her und lachte mit zusammengebissenen Zähnen immer weiter. Seine Brüder verstanden nicht ganz, was Lukas machte, lachten aber von den Fenstern aus mit.
Nur Sissi war den Tränen nahe. Vorsichtig nahm sie ihren Teil vom Stoffhasen in den Arm, krabbelte dann von der Hollywoodschaukel und huschte schnell ins Haus. Lukas folgte ihr und rief nach seiner Mutter:
»Mama, wann gibt es Frühstück? Ich habe so einen Hunger. Ich musste schon Hasenbeine essen, damit ich nicht verhungere.«
Doch Karin antwortete nicht. Sie war noch in der Wäscherei, eine kaputte Waschmaschine machte ihr zu schaffen. Und dann stand Sissi auf einmal neben ihr. Das kleine Mädchen hielt ihr wortlos, mit Tränen in den Augen den Stoffhasen mit nur einem Bein hin.
»Was ist Sissi? Ich komme gleich und mache Frühstück. Ich muss mich nur noch um die Waschmaschine kümmern. Sie ist wohl kaputt. Sie lässt sich nicht mehr öffnen, und das ist ganz schlecht, weil die Kundin heute noch ihre Wäsche braucht. Das ist jetzt alles ein bisschen viel auf einmal«, sagte Karin mit einem verzweifelten Gesichtsausdruck.
Dann sah sie den Hasen, den Sissi ihr entgegenstreckte. »Was ist mit dem Hasen? Der hat mal Christian gehört. Du kannst ihn aber sicher gerne haben, wenn du möchtest. Chrissi hat gesagt, dass er zu alt für Stofftiere ist und kein Interesse mehr daran hat.«
Sissi hielt den Hasen immer noch anklagend empor und schüttelte ihn direkt vor ihrer Nase.
»Ach, Schätzchen. Es wäre einfacher, wenn du sagen würdest, was du möchtest. Ich wünsche dir so sehr, dass du deine Stimme wiederfindest. Dann wäre dein Aufenthalt bei uns auch für dich viel leichter«, sagte Karin und kniete sich neben das Kind. Sie nahm Sissi in den Arm und ihr den Hasen aus der Hand.
»Ah, jetzt sehe ich, was los ist. Das arme Tier hat nur noch ein Bein. Wie ist denn das passiert?« Karin schüttelte noch einmal den Kopf und stand wieder auf. »Komm, wir machen Frühstück. Dann können wir die Jungs fragen, ob sie wissen, was mit dem Hasen passiert ist. Und wenn sich das andere Bein anfindet, operieren wir deinen Hasen und machen ihn wieder heil. Mit ein paar Nähstichen sollte das zu schaffen sein.«
Sissi nickte versöhnt und ging langsam hinter Karin in die Küche.
*
Am nächsten Morgen war Magda noch zeitiger auf als sonst. Sie wollte unbedingt wissen, aus welcher Richtung das kleine Mädchen kam und ob es auch heute wieder in Sophienlust auftauchen würde.
Die Köchin ging daher als Erstes durch die Halle und öffnete beide Flügeltüren der Haustür und ließ sie offen stehen. Sie trat hinaus und schaute in alle Richtungen. Aber sie sah kein Mädchen weit und breit, nur die Hunde tollten schon wieder über den Rasen, und die Katzenfamilie saß auf der Treppe.
Magda ging in die Küche, setzte Wasser auf und begann ihre Übungen. Sie war ein wenig neugierig und machte daher schneller als sonst ihre Kniebeugen. Jedes Mal, wenn sie wieder stand, schaute sie schnell aus dem Fenster, um nach dem Kind Ausschau zu halten.
Plötzlich hielt sie inne, drehte den Kopf zur Seite und lauschte. Sie hatte Musik gehört. Zuerst dachte sie, dass irgendwo ein Radio lief, aber diese wunderschöne Musik war kein Radio, da war sich Magda schnell sicher. Es spielte jemand ein fröhliches Musikstück auf dem Klavier.
Mit leisen, schnellen Schritten ging sie durch die Halle zum Musikzimmer, dessen Tür ein wenig geöffnet war, und lugte vorsichtig hinein. Das kleine Mädchen saß auf der Bank vor dem dunkel glänzenden Klavier und ließ seine kleinen Finger schnell über die Tasten fliegen!
Eine wunderbare Melodie erfüllte das ganze Haus, und fasziniert schaute die Köchin zu dem Kind, sah, dass die Kleine wieder barfuß war und ein schneeweißes Kätzchen auf dem Schoß hatte. Sie sah aber noch etwas anderes: Auf dem Gesicht des Kindes lag ein Ausdruck wahrer Glückseligkeit, der Magda unwillkürlich die Tränen in die Augen trieb.
Die ältere Frau war so gerührt wie schon lange nicht mehr. Daher merkte sie zuerst auch gar nicht, dass sie nicht mehr alleine in der Tür stand. Fast alle Bewohner von Sophienlust hatten sich, geweckt von der Musik, eingefunden und erlebten dieses außergewöhnliche Schauspiel. Und keiner machte einen Mucks.
Selbst die Kleinen standen wie angewurzelt und lauschten minutenlang den wunderbaren Klängen. Das Kind spielte virtuos und machte auch nicht den kleinsten Fehler. Man konnte hören und an ihrer Haltung sehen, dass sie keine Anfängerin war.
Der kleine Körper bewegte sich harmonisch mit der Musik, und die Finger huschten sicher und ohne Zögern über die vielen Tasten. Ihre roten Locken hüpften auf ihrem zarten Rücken bei jeder Bewegung leicht auf und ab, und ihre kleinen nackten Füße wippten sanft im Takt. Das kleine Kätzchen lag ganz ruhig und zusammengerollt auf dem Schoß und hatte die Augen geschlossen. Auch ihm schienen die Harmonien zu gefallen.
Und dann konnte man das Ende vom Stück erahnen. Nach dem letzten Anschlag ruhten noch sekundenlang die beiden kleinen Hände auf den Tasten, bevor sie das Kätzchen vom Schoß nahm und von der Bank aufstand. Sie setzte das Tier behutsam auf den Boden, ging leichtfüßig aus dem Zimmer und durch die Halle zur Eingangstür. Dabei lag immer noch das glückselige Lächeln auf ihrem Gesicht.
Ihre heimlichen Zuschauer vor der Tür hatte sie nicht bemerkt. Magda hatte rechtzeitig alle sanft hinter die Tür geschoben.
»Na, wer war denn dieses reizende kleine Wesen?«, fragte Nick nach einigen Momenten laut und unerwartet in die schweigsame Runde. Auch der junge Besitzer von Sophienlust war von der Musik geweckt worden und neugierig in die Halle gekommen.
Magda schaute zu Heidi und Pünktchen, und alle beide zuckten gleichzeitig mit den Schultern, schüttelten die Köpfe und warfen einen ratlosen Blick auf Nick. Der lachte, als er die Reaktion sah. »Oh, das sah aber jetzt wie einstudiert aus.« Und dann wandte er sich an die anderen: »Wisst ihr etwas?«
»Wer ist das Mädchen?«
»Ob das eine Prinzessin ist?«
»Die kann aber gut spielen. Darf ich auch Klavier lernen?«
»Ich kenne sie gar nicht. Ob sie hier in der Gegend wohnt?«
Alle schwatzten plötzlich aufgeregt durcheinander, und es wurde richtig laut in der Halle. Das kleine Kätzchen, welches immer noch auf dem Boden im Musikzimmer gesessen und sich geputzt hatte, rannte erschrocken durch die Halle nach draußen zu seiner Mutter und den Geschwistern auf die Freitreppe.
Das Durcheinander war groß, und Magda und Nick hatten einiges zu tun, wieder Ruhe ins Haus zu bringen. Die Köchin rief dann hörbar in die Menge: »In zehn Minuten ist das Frühstück fertig. Es sind noch weiche Brötchen da. Wer also welche haben will, sollte sich schnell anziehen und in den Frühstücksraum kommen.«
Das ließen sich die Kinder nicht zweimal sagen. Jeder liebte Magdas selbst gebackene weiche Brötchen, und kurze Zeit später waren alle auf ihren Zimmern verschwunden.
»Uff, das war eine gute Idee. Jetzt ist hier wieder Ruhe für die nächsten paar Minuten eingekehrt«, bemerkte Nick und folgte Magda in die Küche. Er wollte jetzt schnell helfen, das Frühstück zuzubereiten, denn auch er hatte Hunger bekommen.
»Also nein, ich kenne das Kind auch nicht«, begann Magda ungefragt. »Gestern Morgen saß sie auf einmal auf der Freitreppe und spielte mit den Kätzchen. Ich habe ihr einen Kakao gemacht und ein Brötchen mit Butter gegeben. Aber ich habe nicht mit ihr gesprochen. Dann kamen Heidi und Pünktchen dazu. Die beiden haben sich neben die Kleine gesetzt und versucht, mit ihr zu reden. Aber sie hat nicht gesprochen, sondern nur freundlich gelächelt. Kurze Zeit später ist sie aufgestanden und im Wald verschwunden.«
Während Magda Nick das erzählte, was sie wusste, hatte sie alles für das Frühstück zusammengesucht und auf zwei große Tabletts gestellt. Jetzt nahm sie das eine und wies den jungen Mann mit dem Kopf an, das andere zu nehmen. Zusammen gingen sie in das Esszimmer und deckten routiniert den Tisch.
»Das klingt ja spannend. Ein kleines Mädchen aus dem Nichts. Na ja, sie wird irgendwo hingehören. Aber ein Kind aus der unmittelbaren Nachbarschaft ist es nicht. Die kennen wir ja alle«, bemerkte Nick und angelte sich ein Brötchen. »Aber ich werde mich mal umhören und auf alle Fälle mit meiner Mutter sprechen. Es scheint so, als ob das Kind, da, wo es jetzt ist, keine Möglichkeit hat, Klavier zu spielen. Und wer so spielen kann, hat sicher viel Talent und sollte Zugang zu einem Instrument haben.«
Nick hatte das Brötchen verspeist und machte sich jetzt auf den Weg in sein Büro. Er wollte danach zu Wolfgang Rennert, dem Musiklehrer, gehen und mit ihm die Lage besprechen. Vielleicht kannte er das begabte Kind oder hatte zumindest von ihm gehört.
Und dann würde er mit seiner Mutter reden. Denise von Schoenecker gehörte zu den wichtigsten Menschen in seinem Leben, und auch jetzt, da er mit seiner Volljährigkeit Sophienlust alleine führte, war sie seine erste Ansprechpartnerin. Er konnte sich immer auf seine Mutter verlassen und besprach gern alle Angelegenheiten rund um das Kinderheim zuerst mit ihr. Ihre große Kenntnis und Erfahrung gab ihm die Sicherheit und Zuversicht, für alle Probleme eine gute Lösung zu finden.
*
Nach dem Frühstück ging Nick in den neu gebauten Nebentrakt vom Herrenhaus. Hier wohnte der Musiklehrer Wolfgang Rennert mit seiner Frau Carola und den Zwillingen, Andreas und Alexandra.
Die Familie saß noch beim Frühstück am Küchentisch, als Nick in die Küche trat. Wolfgang hatte ihm die Tür geöffnet und ihn hereingebeten. »Guten Morgen, Wolfgang, guten Morgen, Carola. Entschuldigt den frühen Besuch. Aber es gibt etwas, dass ich gerne mit dir, Wolfgang, besprechen möchte. Vielleicht kannst du auch helfen, ein wenig Licht in einen mysteriösen Besuch eines reizenden kleinen Mädchens in Sophienlust zu bringen.«
»Oh, das klingt spannend. Guten Morgen, lieber Nick. Du bist zu jeder Uhrzeit herzlich willkommen bei uns. Das weißt du doch. Und besonders, wenn wir vielleicht helfen können, ein Mysterium zu lösen«, erwiderte Carola lachend, stand vom Tisch auf und holte eine frische Tasse aus dem Hängeschrank.
»Du trinkst doch sicher eine Tasse Tee mit uns?«, fragte sie und wartete gar nicht erst auf eine Antwort, sondern füllte Nicks Tasse mit duftendem Tee.
Wolfgang bot Nick einen Platz am Tisch an, und der junge Mann setzte sich auf die gemütliche Bank. Er zog die Tasse mit dem frischen Tee zu sich und nippte einmal.
»Eine gute Tasse Tee ist doch immer wieder ein Genuss«, sagte er lächelnd und wurde dann ernst. »Also, heute Morgen um sechs Uhr dreißig hat ein kleines Mädchen auf unserem Klavier gespielt. Sie hat ein schwieriges Stück ganz ohne Fehler und aus dem Gedächtnis gespielt. Sie hat so schön gespielt, dass innerhalb von Minuten alle Kinder an der Tür zum Musikzimmer standen und ehrfürchtig der Musik gelauscht haben.«
Nick musste lachen, als er an die Situation am frühen Morgen dachte. »Das war ein sehr ungewohntes Bild. Alle Kinder im Türrahmen gedrängt und mucksmäuschenstill. Das kennt man von der Rasselbande doch sonst gar nicht.« Der junge Mann nahm noch einen Schluck Tee und schaute zu Wolfgang und Carola, die ihn gespannt anschauten und auf die Fortsetzung der Geschichte warteten und auch mucksmäuschenstill waren.
»Euch scheint die Geschichte ebenfalls zu faszinieren«, stellte Nick lächelnd fest und stellte die Tasse ab.