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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.
ISBN: 978-3-74098-597-4
»Mama, sind wir bald da?«, quengelte der achtjährige Moritz auf der Rückbank.
»Oh Manno, das hast du erst vor einer Minute gefragt. Du nervst, du Baby!«, mischte sich sein großer Bruder ein, ohne von seinem Handy aufzusehen.
»Mama! Leon soll mich nicht immer so nennen! Ich bin kein Baby!«
»Wenn du dich wie eins benimmst, bist du auch eins«, sagte Leon ungerührt.
»Mama!«
»Jetzt reicht’s, Jungs! Hört endlich mit euren Streitereien auf!« Maria Scharper sah angestrengt auf die Straße. Bald kam die Bushaltestelle, an der sie abbiegen musste. Die Haltestelle war als solche kaum zu erkennen. Es gab kein Wartehäuschen, nur ein einsames, verrostetes Schild an einem unscheinbaren Pfahl, der schnell zu übersehen war, wenn man nicht sorgsam achtgab. Bei ihrem letzten Besuch hatte sie ihn zu spät entdeckt und war daran vorbeigefahren. Anschließend hatte sie ewig gebraucht, bis sie eine Möglichkeit zum Wenden fand. Zum Glück blieb ihr das diesmal erspart. Da war die Haltestelle!
Maria bremste und setzte den Blinker, um auf einen schmalen, unbefestigten Weg zu fahren. Zu beiden Seiten wuchsen hier dichtstehende Büsche und Sträucher, die nicht erkennen ließen, was sich dahinter verbarg. Maria wusste, dass es Wiesen und Äcker waren, die von einem Landwirt bestellt wurden. Ihm gehörte auch der baufällige Hof, den Marias Bruder gepachtet hatte und zu dem sie jetzt fuhren.
Moritz machte einen langen Hals, als er aus dem Fenster sah. »Sind wir hier wirklich richtig?«, fragte er skeptisch. »Das sieht aus wie in einem Urwald.«
Damit weckte er sogar das Interesse seines großen Bruders, der nun sein Handy vergaß und die Umgebung kritisch musterte. Seine Mutter fuhr inzwischen fast im Schritttempo und versuchte, den tiefen Schlaglöchern auszuweichen. Nicht immer gelang ihr das.
»Solche Straßen müssten verboten werden«, schimpfte Leon, als der Wagen rumpelnd durch ein besonders tiefes Loch fuhr.
»Genau genommen ist das keine richtige Straße«, erklärte Maria, während sie das Tempo weiter drosselte. »Das Gehöft eures Onkels steht mitten im Nirgendwo. Wir können froh sein, dass der Weg heute überhaupt passierbar ist. Vor ein paar Tagen, als es so stark regnete, hätten wir wohl einen Jeep gebraucht, um durchzukommen.«
»Wir hätten ja auch zu Hause bleiben können«, maulte Leon. »Ist doch blöd, dass du uns unbedingt mitschleppen wolltest. Beim letzten Mal durften wir in Coburg bleiben.«
»Leon, bitte! Geht das schon wieder los? Ich dachte, diese Diskussion wäre endlich vorbei. Ihr seid mitgekommen, weil es für euch vielleicht die letzte Gelegenheit ist, eure Urgroßmutter zu sehen. Ihr wisst doch, wie krank sie ist.« Maria gefiel es nicht, diese Karte auszuspielen.
Es konnte nicht gut sein, zwei Kindern den nahen Tod der Uroma vor Augen zu führen, nur damit sie mitfuhren. Wenn es nach Maria ginge, bräuchten ihre Söhne nie zu erfahren, was Tod und Sterben bedeuteten. Doch dafür war es ohnehin längst zu spät.
Ihre Buben hatten vor vier Jahren den Vater verloren. Leon war damals zehn gewesen, Moritz fast vier. Sie hatten um ihren Vater getrauert und taten das auf ihre Weise sicher noch immer. Aber es gelang ihnen inzwischen, den Verlust zu akzeptieren und damit umzugehen.
»Ist ja schon gut, ich werde mich benehmen«, murmelte Leon nun und sah angestrengt nach draußen. »Hauptsache, wir bleiben nicht so lange hier. Das wird bestimmt total ätzend werden.«
»Ja, aber ich freue mich trotzdem ein bisschen«, plapperte Moritz fröhlich. »Ich war noch nie auf einem Bauernhof. Da gibt’s bestimmt ganz viele Tiere. Hühner und Enten. Und Katzen und …«
»… einen Esel, der genauso dumm ist wie …«
»Leon!«, fuhr Maria so energisch dazwischen, dass ihr Großer auf dem Beifahrersitz schuldbewusst zusammenzuckte und den Rest seines Satzes lieber für sich behielt.
Moritz war trotzdem zutiefst beleidigt. Er verschränkte seine Ärmchen vor der Brust und torpedierte Leon mit bitterbösen Blicken. Maria seufzte, als sie das sah. Ihr Kleiner hatte es wahrlich nicht leicht, sich gegen seinen pubertierenden Bruder zu behaupten.
Besonders leid tat ihr, dass sie ihm nun auch noch eine schlechte Nachricht bringen musste. »Mo, mein Schatz, der Bauernhof von Onkel Sascha ist nicht so, wie du dir ihn vielleicht vorstellst. Bis auf Hasso, einen großen, unfreundlichen Hofhund, gibt es dort keine Tiere. Und Hasso gehst du lieber aus dem Weg. Ich glaube nämlich nicht, dass du dich mit ihm anfreunden kannst.«
»Okay«, erwiderte Moritz frustriert. Seinen Ausflug auf den Bauernhof hatte er sich ganz anders vorgestellt. »Hoffentlich beißt er uns nicht.«
»Haltet einfach ein bisschen Abstand zu ihm.«
»Das sag mal lieber dem Köter.« Leon sah jetzt hochkonzentriert nach draußen, so, als erwartete er, dass der Hund jeden Moment aus dem Dickicht sprang. »Wenn Hasso Abstand hält, machen wir das eben auch.«
»Hasso liegt an der Kette. Er kann nur so weit laufen, wie seine Kette reicht.«
»Mama!«, rief Moritz empört. »Hasso ist ein Kettenhund? Das ist Tierquälerei!«
»Ist das überhaupt erlaubt?«, wollte nun auch Leon wissen.
»Nein, wahrscheinlich nicht. Ich weiß es nicht.« Maria hielt kurz an. Sie hatten fast ihr Ziel erreicht, und es wurde Zeit, mit ihren Söhnen zu sprechen. »Hört mal«, begann sie. »Bei Onkel Sascha ist nicht alles so, wie wir es uns vielleicht wünschen würden.«
»Ja«, rief Moritz dazwischen. »Er hält den Hund an einer Kette! Das ist schrecklich grausam!«
Maria nickte. »Das mag sein, Mo. Leider können wir nichts dagegen tun. Wir sind dort nur zu Gast. Onkel Sascha wird sich nicht darum scheren, was uns gefällt oder nicht. Bitte denkt daran, dass wir nur herkommen, um Oma Hilda zu besuchen. Wir plaudern ein bisschen mit ihr, essen den Kuchen, den ich gebacken habe, und danach fahren wir wieder zurück. Bis dahin werden wir uns benehmen und uns nicht daran stören, dass Onkel Sascha etwas … unhöflich oder brummig ist. In Ordnung, Jungs?«
Maria beobachtete ihre Söhne aufmerksam. So entging ihr nicht, dass Moritz zu seinem großen Bruder sah und dieser mit einem knappen Nicken darauf reagierte. Sofort entspannte sich Moritz. Maria hatte Mühe, ihr Lächeln zu verbergen. Wenn es darauf ankam, hielten die beiden zusammen und standen sich gegenseitig bei. Es gab also keinen Grund, sich Sorgen zu machen. Und dennoch fragte sie sich jetzt, ob es ein Fehler gewesen war, ihre Kinder herzubringen.
*
Nach einer letzten Kurve wurde der Weg breiter und führte auf einen großen Hof mit heruntergekommenen Ställen und einem alten Bauernhaus, dessen beste Jahre schon lange vorbei waren. An vielen Stellen blätterte der graue Putz großflächig ab. Die Fensterläden aus verwittertem Holz hatten ihren letzten Anstrich vor ewigen Zeiten erhalten und hingen windschief in den Angeln.
Maria hielt vor dem Haus. Ihre Söhne sahen aus dem Fenster und musterten beklommen die Ansammlungen von Müll und Schrott, die großzügig verteilt herumlagen.
Plötzlich sprang ein riesiger, schwarzer Hofhund zwischen den Müllbergen hervor und begrüßte sie mit einem heiseren, hysterischen Gekläff. Eine schwere Eisenkette, die an seinem Halsband befestigt war, hielt ihn auf sicheren Abstand. Doch das schien ihn nicht davon abzuhalten, wieder und wieder nach vorn zu preschen, um anschließend von der Kette zurückgerissen zu werden. Er reagierte darauf jedes Mal mit einem wütenden Geheule und einem erneuten Versuch, an die Eindringlinge heranzukommen.
»Er kann uns nichts tun«, sagte Maria, um die Kinder und sich selbst zu beruhigen. »Kommt, wir steigen aus und gehen ins Haus.«
»Wir könnten doch auch im Auto warten«, schlug Moritz beklommen und ängstlich vor.
»Stell dich nicht so an!« Leon rollte mit den Augen und stieg aus. Maria tat es ihm gleich. Dann öffnete sie die hintere Wagentür und hielt ihrem Jüngsten die Hand hin. »Komm, Mo. Bleib einfach bei mir, ja?«
Moritz nickte tapfer, und Maria tat es weh, so viel Mut von ihrem kleinen Liebling zu verlangen. Er hatte Angst vor diesem aggressiven Hund und dem schrecklichen Ort, an den sie ihn gebracht hatte. Aber ihr zuliebe besiegte er seine Ängste. Beherzt griff er nach der Hand seiner Mutter und stieg aus.
»Hasso! Aus! Halt die Klappe!«, brüllte es auf einmal hinter ihnen.
Moritz zuckte zusammen, und Maria fuhr herum. Sascha Peters, ihr jüngerer Bruder, stand in der offenen Haustür und sah sie grantig an. »Kommt rein«, sagte er schließlich und verschwand wieder im Haus.
Maria nahm den Käsekuchen, den sie am Vorabend gebacken hatte, aus dem Kofferraum. »Na los, Jungs«, versuchte sie, ihre Söhne aufzumuntern. »Eure Uroma wartet sicher schon auf euch. Sie wird sich ganz doll freuen, euch endlich mal wiederzusehen.«
Doch Hilda Peters interessierte sich nicht für die Ankömmlinge. Sie saß in einem Sessel vor dem Fernseher und sah nicht auf, als sie das Wohnzimmer betraten.
Maria ging zu ihr und gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Hallo, Oma«, sagte sie weich. »Wie schön, dich zu sehen.«
Ein flüchtiges Lächeln war Hildas einzige Reaktion auf die Begrüßung. Sie sah zum Fernseher und beachtete ihre Besucher nicht.
Maria war verwirrt. Beim letzten Mal hatte sich ihre Großmutter fast überschwänglich über ihr Kommen gefreut – auch wenn sie sie damals nicht sofort erkannt hatte. Maria hatte ihr erst umständlich erklären müssen, wer sie sei, aber danach war alles gut gewesen. Sie hatten sich lange unterhalten, und Oma Hilda hatte viel aus ihrer Jugendzeit erzählt. Ihre Alzheimererkrankung hatte man ihr kaum angemerkt. Aber heute schien alles anders zu sein.
»Omi, ich bin’s, die Maria, deine Enkelin. Du erinnerst dich doch bestimmt an mich.«
»Ja, ja, ja …«, erwiderte Hilda nur, ohne sie anzusehen.
Maria ließ nicht locker. »Ich habe heute Leon und Moritz mitgebracht. Deine Urenkel«, unternahm sie einen weiteren Versuch, die Aufmerksamkeit ihrer Großmutter zu bekommen. Doch Hilda reagierte nun gar nicht mehr auf sie. Ihre Augen fixierten den Fernseher, in dem eine Nachmittagssendung lief.
Maria sah besorgt zu Sascha. Ihr Bruder lehnte am Türrahmen zur Küche. Seine Lippen hatte er zu einem spöttischen Grinsen verzogen. Mit dem Zeigefinger machte er eine kreisende Bewegung in der Nähe seiner Schläfe. Maria funkelte ihn wegen dieser respektlosen Geste empört an.
Mit seinen fünfundzwanzig Jahren war Sascha dreizehn Jahre jünger als seine große Schwester. Er war ein Nachzügler, den ihre Eltern tüchtig verwöhnt hatten. Sie hatten ihm alles durchgehen lassen und sich keine große Mühe bei seiner Erziehung gegeben. Maria hatte damals versucht, ihm Grenzen zu setzen und ihm wenigstens etwas Respekt und Anstand beizubringen. Doch als seine Schwester hatte sie nicht viel ausrichten können. Und als sich ihre Wege vor vielen Jahren trennten, hatte niemand mehr darauf geachtet, ob aus dem Jungen etwas Anständiges wurde. Heute war Sascha ein erwachsener Mann und tat sowieso nur noch das, was ihm gefiel.
»Omi, ich gehe mit Sascha in die Küche und mach uns einen Kaffee. Leon und Moritz leisten dir so lange Gesellschaft. Einverstanden?«
»Ja, ja, ja …«, erwiderte Hilda prompt, aber Maria wusste, dass ihre Großmutter nichts verstanden hatte. Sie streichelte ihr kurz über die Wange und sagte dann zu ihren Söhnen, die unbeholfen im Raum standen: »Bitte bleibt bei ihr. Ich kümmere mich nur um den Kaffee und schneide den Kuchen auf. In fünf Minuten bin ich wieder zurück.«
»Ach, Mama!«, jammerte Moritz leise, doch seine Mutter schüttelte nur bedauernd den Kopf und verschwand mit seinem Onkel Sascha in der Küche.
»Stell dich nicht so an und setz dich irgendwo hin.« Leon kam mit dieser ungewohnten Situation besser zurecht als sein kleiner Bruder. Er wartete, bis Moritz auf dem schäbigen Sofa Platz genommen hatte und ging dann zu Hildas Sessel.
»Tag, Uroma«, sagte er betont lässig und hielt ihr seine Hand hin. Als ihm die alte Dame keinerlei Beachtung schenkte, räusperte sich Leon und sprach dann etwas lauter: »Guten Tag!«
Doch auch diesmal reagierte Oma Hilda nicht auf seine Worte oder auf die Hand, die er ihr immer noch hinhielt.
Verlegen zog Leon sie schließlich zurück. Seine zur Schau gestellte Gelassenheit bröckelte. Dass ihn Moritz die ganze Zeit aufmerksam beobachtete, machte es nicht leichter für ihn.
Immerhin war er der große Bruder, der gern zeigte, wie cool und erwachsen er schon war. Stattdessen stand er nun fast hilflos vor seiner Uroma und wusste nicht, wie er angemessen auf ihr seltsames Verhalten reagieren sollte.
Äußerlich halbwegs gelassen und unbeeindruckt, schlenderte Leon schließlich zu Moritz und ließ sich neben ihm auf die Couch fallen. Mit ein bisschen Glück verlor Moritz kein Wort über das, was gerade geschehen war.
»Leon, was hat sie denn?«, flüsterte Moritz. »Warum guckt sie uns denn gar nicht an?«
»Weiß nicht«, gab Leon genauso leise zurück. »Ich glaube, mit ihr stimmt ’was nicht. Wir fragen nachher Mama. Wir warten hier einfach, bis sie wieder da ist.«
Moritz nickte stumm und rückte ein bisschen dichter an seinen großen Bruder ran. Auch wenn Leon manchmal ganz schön gemein sein konnte, war Moritz froh, ihn jetzt in seiner Nähe zu haben. Dieses Haus machte ihm Angst. Der Bauernhof war ganz anders als in seiner Vorstellung. Der schwarze, zottelige Hund war zum Fürchten, und Onkel Sascha war unfreundlich und beachtete seine Neffen gar nicht. So wie Uroma Hilda …
Moritz sah zu ihr hinüber. Noch immer starrte sie auf den Bildschirm des Fernsehers, ohne sich um ihn oder Leon zu kümmern. Sollte sie sich nicht freuen, ihre Urenkel endlich mal wiederzusehen? Er hatte gedacht, sie würde ihn mit einer Umarmung und einem Kuss begrüßen. Und dass sie ihm viele Fragen stellen würde – wie es ihm ginge, ob er viele Freunde hätte, womit er gerne spielte …
Doch sie tat nichts von alldem. Es war fast so, als würde sie ihn und Leon gar nicht hören oder sehen. Und als würde sie ihre Urenkel überhaupt nicht lieb haben. Moritz verzog traurig das Gesicht. Was war denn bloß los mit ihr?
Auch seine Mutter machte sich Gedanken um Oma Hilda.
»Sie hat Alzheimer. Das weißt du doch«, sagte Sascha in der Küche zu ihr. »Besser wird’s nicht. Die Krankheit schreitet voran. Daran kann niemand etwas ändern.«
Maria stellte das Kaffeegeschirr auf ein Tablett. »Ja, aber bei meinem letzten Besuch …«
»Dein letzter Besuch ist vier Monate her. Hast du wirklich gedacht, sie wäre immer noch so fit wie damals?«
»Ja … ich weiß nicht … vielleicht.« Maria war schockiert. Von Hildas Demenzerkrankung wusste sie schon seit einigen Jahren. Doch bisher war sie eher langsam und schleppend verlaufen. »Sie hat mich nicht erkannt, und gesprochen hat sie auch nicht mit mir«, sagte Maria traurig.
»Mit dem Sprechen hat sie schon vor einigen Wochen aufgehört. Mehr als dieses ›Ja, Ja, Ja‹ kommt nicht mehr raus. Inzwischen braucht sie volle Pflege beim Anziehen, Waschen, Essen, bei allem halt. Da kann man nichts machen.«
Maria schluckte. Ihr Ärger über Saschas ungehöriges Benehmen war verflogen. Natürlich fand sie es immer noch nicht gut, aber sie behielt die Standpauke, die sie sich zurechtgelegt hatte, nun doch für sich. Es stand ihr nicht zu, sich ein Urteil zu erlauben, wenn sie nur alle Jubeljahre hier hereingeschneit kam, während Sascha den Mammutanteil leistete und sich ganz allein um die kranke Großmutter kümmerte.
Sicher, es lief nicht alles so, wie sie es sich gewünscht hätte. Die Unordnung störte sie und auch Saschas respektloses Verhalten. Aber ihrer Oma schien es gut zu gehen. Sie machte einen gepflegten und zufriedenen Eindruck. Sascha war vielleicht nicht der liebevolle Enkel mit perfekten Umgangsformen, aber er versorgte sie gut. Und damit tat er mehr als sie.
»Kommst du denn mit allem zurecht?«, fragte sie beschämt.
»Ja, keine Sorge, es läuft hier bestens. Der Pflegedienst kommt morgens, um sie zu waschen und anzuziehen. Danach holt sie der Fahrdienst ab und bringt sie in die Tagespflege. Am späten Nachmittag wird sie zurückgebracht. Dann sitzt sie vor der Glotze, bis die Schwestern kommen, um sie ins Bett zu bringen.«
»Aber heute …«
»Heute ist Samstag. Am Wochenende hat die Tagespflege zu. Dann kommen die Schwestern eben öfter, um sich um sie zu kümmern. Alles ganz easy.«
Easy? Maria konnte sich nicht vorstellen, dass es wirklich so leicht war, wie Sascha tat. Jemand, der so viel Pflege brauchte wie ihre Oma und außerdem dement war, machte Arbeit. Viel Arbeit. Und alles lastete auf den Schultern ihres Bruders. »Sascha, ich hatte keine Ahnung …«
»Woher auch? Du bist ja nie da oder fragst mal nach.«
»Es tut mir wirklich leid. Ich …«
Sascha winkte ab. »Lass mal gut sein. Es stört mich doch gar nicht. Oma und ich kommen bestens zurecht. Wir haben einen guten Deal. Sie muss nicht ins Pflegeheim, und dafür übernimmt sie die Miete und alles andere.«
»Aha«, erwiderte Maria nur. Sie wusste, dass ihre Oma eine sehr gute Witwenrente bekam. Über die verfügte Sascha nun, und für Maria war das in Ordnung. Schließlich hatte er auch die ganze Arbeit mit der Großmutter.
»Gefällt es dir hier eigentlich?«, fragte sie ihn. »Falls du auf der Suche nach einer neuen Wohnung bist und umziehen möchtest, helfe ich dir gern.«
»Umziehen?« Sascha sah sie verständnislos an. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein, mir gefällt es hier. Es ist ruhig und abgelegen, und ich habe genug Platz für meine Geschäfte.«
»Geschäfte?«, fragte Maria sofort alarmiert nach. Ihr kleiner Bruder war in der Vergangenheit schon mal mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Er hatte dafür eine Bewährungsstrafe bekommen und Besserung gelobt. Ob er sich daran hielt, wusste Maria nicht. »Was sind das denn für Geschäfte?«
»So dies und das. Trödel, den ich mit ein paar Kumpels aufkaufe und anschließend verschachere. Nichts Besonderes, aber zum Leben reicht’s.« Er schenkte ihr ein breites Grinsen. »Und es ist ehrliche Arbeit. Ich bin nämlich auf dem Pfad der Tugend unterwegs.«
Maria konnte es nur hoffen. Vielleicht war aus ihrem Bruder ja tatsächlich ein ehrbarer Mann geworden. Möglich wäre es, wenn man bedachte, wie vorbildlich er für die kranke Großmutter sorgte.
»Es trifft sich übrigens gut, dass du heute gekommen bist.« Sascha trat ans Küchenfenster und sah hinaus. »Ich habe mit meinen Kumpels noch ein oder zwei Stunden zu arbeiten. Du könntest in der Zeit auf Oma aufpassen.«
»Ja, natürlich. Kein Problem.« Maria hörte, wie ein Wagen auf den Hof fuhr. Als Sascha sich sofort anschickte hinauszueilen, hielt sie ihn zurück. »Ich dachte, wir trinken wenigstens noch einen Kaffee zusammen.«
»Keine Zeit. Die Geschäfte rufen. Hebt mir ein Stück Kuchen auf.« Und schon war er weg.
Die nächsten beiden Stunden vergingen schleppend. Maria saß mit den Kindern bei Oma Hilda im Wohnzimmer. Der Kuchen wollte ihnen heute nicht schmecken, obwohl er verführerisch duftete. Wehmütig sah sich Maria um. Das alte Büffet an der Wand und die große Kommode, in der die gute Tischwäsche aufbewahrt wurde, kannte sie noch aus ihrer Kindheit. Früher hatten die Großeltern in einem kleinen Häuschen am Stadtrand gelebt. Maria hatte es geliebt, bei ihnen ihre Ferien oder das Wochenende zu verbringen. Es hatte ihr gefallen, morgens mit den Hühnern aufzustehen, ihnen die frischen Eier aus den Nestern zu stibitzen oder im Garten mitzuhelfen. Doch das schien eine Ewigkeit her zu sein. Irgendwann hatte Maria das Interesse daran verloren, die Tage mit den Großeltern zu verbringen und ihren alten Geschichten zuzuhören. Sie hatte lieber etwas mit ihren Freunden unternommen. Und später hatte sie München dann ganz verlassen, um mit ihrer Familie in Coburg zu leben.
Maria sah traurig zu der Frau, die ihre Oma war und die sich nicht mehr an ihre Enkelin erinnern konnte. Plötzlich wünschte sie sich, sie hätten mehr Zeit zusammen verbracht.
Es dämmerte bereits, als sie aufbrachen. Die Jungs waren erstaunlich schweigsam, fast so, als würde die düstere Atmosphäre des Hauses auf ihnen lasten.
»Ich setze mich nach hinten zu Moritz«, sagte Leon. »Dann kann er mit meinem Handy spielen.«
Maria lächelte ihn dankbar an. Für Leon bedeutete es ein großes Opfer, auf seinen angestammten Platz auf dem Beifahrersitz zu verzichten. Dass er es jetzt tat, bewies, dass er ein mitfühlendes Herz besaß und seinen Bruder von den Eindrücken der letzten Stunden ablenken wollte.
Vor ihnen lag eine mehrstündige Autofahrt. Sie mussten erst auf der Landstraße bis München fahren, von dort ging es dann auf die A9 in Richtung Coburg.
Maria stellte die Lautstärke des Radios runter, damit sie dem Gespräch ihrer Söhne lauschen konnte. Es ging um das neueste Spiel, das Leon auf sein Handy geladen hatte. Bisher hatte Leon immer behauptet, dass Moritz noch viel zu klein sei, um es zu verstehen. Doch anscheinend hatte er seine Meinung geändert. Mit einer Engelsgeduld, die Maria ihm gar nicht zugetraut hatte, erklärte er immer und immer wieder die einzelnen Schritte, ganz egal, wie oft Moritz nachfragen musste.
Maria sah lächelnd in den Rückspiegel. Je älter Leon wurde, desto ähnlicher wurde er seinem Vater. Er hatte die gleichen ausdrucksstarken Augen, ein energisches Kinn und dunkelblondes, kurzes Haar. Moritz’ Gesichtszüge hingegen waren noch kindlich und viel weicher. Er hatte dunkle Locken, große braune Kulleraugen und einen hinreißenden Schmollmund, wenn es mal nicht nach seiner Nase ging. Moritz war der Süße, den man am liebsten den ganzen Tag knuddeln wollte, während Leon der gut aussehende, lässige Typ war, der schon jetzt die Mädchenherzen höherschlagen ließ. Maria lächelte bei diesem Gedanken. Nicht mehr lange, und ihr Großer würde sich mehr für die Mädchen in seiner Klasse als für den geliebten Fußball oder die Computerspiele interessieren.
Inzwischen war es dunkel geworden. Maria machte den Blinker an, um auf die Autobahn zu fahren. Die Auffahrt war zwar etwas kurvenreich, aber sie war ihr gut vertraut, sodass sie zügig beschleunigen konnte. Als Maria eine letzte sanfte Kurve nahm, wurde sie plötzlich von einem grellen Licht geblendet. Sie brauchte nur den Bruchteil einer Sekunde, um zu verstehen, dass ihr ein anderer Wagen entgegenkam. Ein Geisterfahrer!
Marias Schrei mischte sich mit dem ihrer Söhne. Sie verriss das Lenkrad, um dem anderen Fahrer auszuweichen. Ihr Auto kam ins Schleudern und drehte sich ein paar Mal um die eigene Achse, bevor es eine Böschung hinabstürzte und sich mehrfach überschlug.
*
Oberbrandmeister Christian Heine hatte sich gerade einen Kaffee eingegossen, als der Notruf einging. Zusammen mit drei Kollegen der Berufsfeuerwehr rannte er zum Gerätewagen, um zum Einsatz rauszufahren.
»Ein Geisterfahrer auf der A9.« Markus Never, der den Notruf von der Zentrale entgegengenommen hatte, informierte das Team über die Details. »Als er seinen Irrtum erkannte, hat er die Ausfahrt genommen. Dort kam ihm ein anderer Wagen entgegen, der auf die A9 fahren wollte. Beim Ausweichmanöver hat dieser Wagen sich überschlagen und liegt jetzt im Straßengraben. Die Insassen sind eingeklemmt und können nicht geborgen werden.«
»Wie viele sind es?«, fragte Christian dazwischen.
»Drei. Eine Mutter mit ihren beiden Kindern. Es sieht wohl nicht gut aus.«
Der Rest der Fahrt verlief schweigend. Die Männer waren gedanklich längst bei den Unfallopfern und hofften, dass sie nicht zu spät kämen. Als sie die Unfallstelle erreichten, versuchte Christian, sich einen ersten Überblick zu verschaffen. Mehrere Polizeiwagen und Rettungsfahrzeuge waren schon vor Ort. Das Auto des Geisterfahrers stand am Straßenrand und wirkte völlig unversehrt. Der Fahrer saß zusammen mit zwei Beamten in einem Transporter der Polizei, um seine Aussage zu machen. Christian sah keine Sanitäter in seiner Nähe und nahm deshalb an, dass er unverletzt und mit dem Schrecken davongekommen war. Nur schade, dass es für das andere Fahrzeug und ihre Insassen nicht so glimpflich ausgegangen war. Das Auto, ein Fünftürer mit Coburger Kennzeichen, lag in einem Straßengraben, der so schmal war, dass niemand die Seitentüren öffnen konnte. Die Hälfte des Motorraums hatte sich in den morastigen Grund gebohrt.
Ein Dutzend Rettungskräfte, Ärzte und Polizisten umringten den Wagen, sodass Christian das ganze Ausmaß des Schadens erst erkennen konnte, als er dort eintraf. Beim Anblick der demolierten Karosse setzte sein Herzschlag für eine Sekunde aus. Das hier konnte niemand überlebt haben.
Und doch war es so. Den hinteren Teil des Wagens hatte es nicht so arg erwischt. Zum Glück für die beiden Kinder, die auf der Rückbank saßen und ihren Rettern völlig verstört und ängstlich entgegenblickten. Rettungssanitäter Jens Wiener und Dr. Fred Steinbach beugten sich durch die zerstörte Heckscheibe ins Wageninnere und sprachen auf sie ein. Kurz darauf zog sich Jens zurück, um mit der Feuerwehr die Bergung abzusprechen.
»Wir haben drei Verletzte, die wir nicht rausbekommen«, klärte er sie auf.
»Wie ist ihr Zustand?«, wollte Christian wissen.
»Die beiden Buben, Leon und Moritz, haben wohl nur leichtere Verletzungen. Ganz genau können wir das aber erst nach einer gründlichen Untersuchung sagen. Sie müssen auf alle Fälle in die Klinik gebracht werden.«
»Und die Mutter?«, fragte Christian.
»Maria Scharper.« Jens zuckte bedauernd die Schultern. »Wir kommen nicht an sie ran, aber sie scheint noch zu leben.« Er sah zurück zum Fahrzeugwrack. »Kaum vorstellbar, wenn man den Fonds des Wagens sieht. Sie hat sich nicht gerührt, seit wir vor Ort sind. Wenn wir ihr nicht bald helfen, wird es wohl zu spät sein.«
Christian, der den Einsatz heute leitete, nickte. Mehr musste er im Moment nicht wissen. »Die Jungs holen wir über die Heckscheibe raus«, bestimmte er. »Sobald sie geborgen sind, zerlegen wir das Dach mit der Hydraulikschere, bis wir an die Mutter rankommen.«
Während seine Männer ihr Werkzeug nahmen, ging Christian zu den Kindern, um mit ihnen zu sprechen. Er stellte sich ihnen vor und erklärte dann kurz, was jetzt passieren sollte. »Das könnte ein bisschen beängstigend für euch sein, wenn wir hier mit schwerer Technik anrücken«, sagte er zum Schluss.
»Kein Problem«, sagte der Ältere, der sich als Leon vorgestellt hatte. »Mein Bruder und ich … wir schaffen das schon … aber … aber unsere Mutter … sie … sie rührt sich nicht. Sie braucht zuerst Hilfe. Bitte! Es macht uns nichts aus zu warten.«
Sein kleiner Bruder nickte heftig, während ihm unaufhörlich die Tränen über das Gesicht liefen.
Christian zögerte kurz mit seiner Antwort. Dann entschied er, ehrlich zu den Kindern zu sein. »Das ist sehr tapfer von euch. Aber wir können eurer Mutter erst helfen, wenn ihr aus dem Wagen seid. Vorher kommen wir nicht an sie heran.« Er reichte den Jungs eine Decke. »Legt die bitte über euch, damit ihr geschützt seid, wenn wir die Scheibenreste entfernen und das Metall wegbiegen. Sobald die Öffnung groß genug ist, holen wir euch hier raus. In Ordnung?«
Der kleine Moritz schaffte es nun nicht länger, seine Fassung zu wahren. »Bitte helfen Sie meiner Mama doch endlich«, schluchzte er laut. »Sie darf nicht sterben! Bitte!«
»Mo«, mahnte Leon leise, aber auch er schien den Tränen nahe und hatte Mühe, sie zurückzuhalten. Er legte einen Arm um die Schultern seines kleinen Bruders und zog ihn zu sich heran. »Sie wird nicht sterben, hörst du? So etwas darfst du noch nicht mal denken!«
Christian folgte Leons bangem Blick nach vorn, wo seine Mutter bewusstlos im Gurt hing. Sie wirkte unnatürlich bleich, und für einen kurzen Moment befürchtete Christian, dass es bereits zu spät für sie war. Doch dann sah er das leichte Heben ihres Brustkorbs.
Sie atmete …
Christian sah die Kinder an. »Wir werden alles tun, um eurer Mutter zu helfen.«
»Versprechen Sie das?«, fragte Moritz immer noch weinend, aber in seiner Stimme schwang auch ein wenig Hoffnung mit.
»Ich verspreche euch, dass wir unser Bestes geben werden. Aber jetzt seid ihr erst mal dran.« Christian breitete die Decke über den Kindern aus. Dann setzte Markus Never die Hydraulikschere an, um die hinterste Fahrzeugsäule zu zerschneiden. Mit vereinter Kraftanstrengung gelang es den Männern kurz darauf, so viel Platz zu schaffen, dass die Kinder herausgeholt werden konnten.
Leon half zuerst seinem kleinen Bruder. Dann war er an der Reihe. Er warf seiner regungslosen Mutter noch einen letzten traurigen Blick zu, bevor er sich von den Männern der Feuerwehr herausziehen ließ.
»Ich geh rein zu ihr«, entschied Christian, als die Kinder auf dem Weg zum Rettungswagen waren. »Vielleicht kann ich zu ihr nach vorne klettern und sie schützen, wenn ihr das Dach abreißt.«
Es kostete ihn alle Anstrengung, sich durch die schmale Öffnung am Heck hindurchzuzwängen. Als er endlich auf der Rückbank angekommen war, rutschte er so weit nach vorn, dass er an die Fahrerin herankam, um ihre Atmung und den Herzschlag zu überprüfen. Sie atmete flach, aber regelmäßig. Ihr Puls war sehr schnell und kaum tastbar. Ihre braunen Haare klebten an der Stirn, und als Christian sie zurückstreichen wollte, bemerkte er das Blut daran. Sie hatte eine Kopfverletzung, die völlig harmlos oder auch lebensbedrohlich sein konnte.
»Wie sieht’s aus?« Dr. Fred Steinbach, der Notarzt, stand am Heck, und Christian berichtete, was er bisher festgestellt hatte.
»Ich brauche ein paar Vitalwerte«, sagte Fred. »Und Sie müssten ihr einen Zugang legen, damit wir ihr eine Infusion und etwas für den Kreislauf geben können.«
»Ich versuch’s.« Christian Heine hatte auf der Feuerwehrschule auch eine Ausbildung zum Rettungssanitäter absolviert. Wie wichtig das war, zeigte sich jetzt.
Mit ein wenig Anstrengung gelang es Christian, die Lehne des Beifahrersitzes nach vorn zu klappen, so dass er an einen Arm der Frau herankam.
Fred Steinbach reichte ihm das medizinische Equipment, und nur wenige Minuten später lief eine klare Flüssigkeit über eine Armvene in den Körper der jungen Mutter. Erst dann machten sich Christians Kollegen daran, das Wagendach mit der Hydraulikschere zu bearbeiten, um die Verletzte bergen zu können.
Lag es am Lärm des berstenden Metalls oder an der Infusion, die Marias Zustand verbesserte, plötzlich schlug sie die Augen auf und sah sich verwirrt um. »Was … wo …«, brachte sie mühsam hervor. »Wo bin ich?«
»Pscht, ganz ruhig, Maria«, beruhigte sie Christian schnell. »Es wird alles wieder gut. Sie hatten einen Unfall. Wir holen Sie hier raus und bringen Sie ins Krankenhaus.«
»Unfall? Krankenhaus?« Plötzlich schien sie zu verstehen. Mit einer Energie, die Christian ihr nicht zugetraut hatte, richtete sie sich panisch auf. »O Gott! Meine Kinder! Ich muss zu ihnen. Wo sind sie? Was ist mit meinen Kindern?«
»Ihnen geht es gut!« Christian hielt sie an den Schultern fest und drückte sie sanft hinunter. »Leon und Moritz ist nichts passiert! Bitte, Sie müssen ruhig bleiben! Sie dürfen sich nicht aufregen! Ich habe Ihren Kindern versprochen, dass wir unser Bestes geben, Sie hier rauszuholen. Aber Sie müssen uns helfen. Bitte versuchen Sie, Ruhe zu bewahren. Mehr brauchen Sie nicht zu tun. Glauben Sie mir bitte, dass es ihren Söhnen gutgeht. Ein paar harmlose Schrammen, mehr haben sie nicht abbekommen.«
Maria schloss kurz die Augen. Als sie sie wieder öffnete, konnte Christian sehen, dass sie sich etwas beruhigt hatte. Sie glaubte ihm.
»Dieser Lärm …«, sagte sie schleppend.
»Wir müssen das Wagendach entfernen, um Sie rauszubekommen. In ein paar Minuten haben Sie’s geschafft. Dann kommen Sie ins Krankenhaus. Halten Sie einfach noch ein bisschen durch, in Ordnung?«
»Ich kann nicht … ins Krankenhaus … meine Kinder. Ich muss mich um sie kümmern.« Immer wieder versagte ihr jetzt die Stimme, und Christian machte sich deswegen Sorgen. Ihr Zustand verschlechterte sich wieder, und es gab nichts, das er dagegen tun konnte. Nichts, außer ihr gut zuzusprechen, damit sie ruhiger wurde und sich nicht zu sehr aufregte.
»Wir werden uns um Ihre Söhne kümmern«, versicherte er ihr. »Und wir werden den Vater benachrichtigen …«
»Nein … ihr Vater … mein Mann lebt nicht mehr.«
»Gibt es andere Verwandte, zu denen die beiden können?«
»Nein … nicht hier. Hier gibt es nur meinen Bruder … Sascha und meine Oma …« Maria verstummte, ihre Augen waren geschlossen. Gerade als Christian dachte, dass sie erneut das Bewusstsein verloren hatte, schlug sie die Augen wieder auf und sah ihn an. »Bitte … bitte lassen Sie meine Kinder nicht allein. Geben Sie auf die beiden acht … bitte, ich flehe Sie an …«
»Maria, es wird alles gut. Ich werde auf Ihre Söhne aufpassen. Das verspreche ich Ihnen, wenn Sie mir dafür versprechen, zu kämpfen und wieder gesund zu werden.«
Maria lächelte, und eine einzelne Träne lief ihr über die Wange. Sie schaffte noch ein schwaches Nicken und ein gehauchtes »Danke«, bevor sie ohnmächtig wurde.
Im selben Moment wurde das Wagendach abgehoben, und Maria Scharper konnte geborgen werden. Die Männer betteten sie vorsichtig auf eine Vakuummatratze und trugen sie dann zum Rettungshubschrauber, der in der Zwischenzeit gelandet war. Nur Minuten später hob er ab und brachte Maria in die Behnisch-Klinik.
Christian sah dem Hubschrauber noch einen Moment lang hinterher, bevor er zu dem Rettungswagen ging, in dem Marias Söhne versorgt wurden. Er hatte ein Versprechen gegeben, und er wollte es unbedingt erfüllen.
*
»Wann wird der Rettungswagen eintreffen?«, fragte Dr. Daniel Norden, als er in die Notaufnahme kam.
»Jeden Augenblick.« Schwester Inga warf einen letzten prüfenden Blick auf den Tisch mit den vorbereiteten Infusionsbeuteln und Spritzen. »Dr. Berger und Frau Rohde sind oben beim Landeplatz. Der Hubschrauber mit der Mutter ist schon eingetroffen. Wenn sie einigermaßen stabil ist, bringen sie sie gleich in den OP und nicht erst in den Schockraum. Das CT wird dann unter der OP gemacht.«
Daniel nickte zufrieden. Es hatte ihn viel Überzeugungskraft gekostet, den Computertomografen für die OP-Abteilung durchzuboxen. Letztendlich hatten sich dann seine legendäre Beharrlichkeit und Geduld ausgezahlt.
Die Verwaltungsleitung genehmigte die Mittel, und in der Behnisch-Klinik konnten nun auch während einer Operation Computertomografien durchgeführt werden. Die operativen Eingriffe waren dadurch sicherer geworden, und wertvolle Zeit konnte eingespart werden. Zeit, die früher oft für Transporte in die Radiologie verlorenging und die manchmal über Leben und Tod entschied.
»Sind Sie hier fertig, Schwester Inga? Dann lassen Sie uns an die Rampe gehen, damit wir den Rettungswagen gleich in Empfang nehmen können.«
Es gab einen etwas abseits gelegenen Seiteneingang, vor dem die Rettungsfahrzeuge halten konnten. Von hier aus wurden die schwerkranken Patienten in die Notaufnahme gebracht, ohne dass sie den den neugierigen Blicken von Passanten oder Klinikbesuchern ausgesetzt waren.
Dr. Felicitas Norden, die Leiterin der Pädiatrie, stand bereits draußen und wartete auf den Krankenwagen.
»Bist du schon lange hier?«, fragte Daniel seine Frau.
Fee schüttelte den Kopf. »Nein, noch keine Minute. Weißt du schon etwas Genaueres? Wie schwer sind sie verletzt?«
»Fred Steinbach hat sich von unterwegs gemeldet. Er meint, die Kinder hätten nicht viel abbekommen. Wahrscheinlich haben sie nur oberflächliche Verletzungen; ein paar Abschürfungen und Prellungen. Die beiden hatten Glück, dass sie hinten saßen. Ganz genau werden wir es aber erst wissen, wenn sie hier sind und uns die Untersuchungsergebnisse vorliegen.«
»Hat Fred auch etwas zur Mutter gesagt?«
»Um sie steht es denkbar schlecht. Sie ist jetzt im OP, und wir können nur hoffen, dass sie überleben wird. Es hat zu lange gedauert, bis sie endlich aus dem Wrack befreit werden konnte. Es grenzt fast an ein Wunder, dass sie es überhaupt bis hierher geschafft hat.«
»Sie ist eine Mutter«, erwiderte Fee, als würde das alles erklären. »Sie hat zwei Kinder, die sie brauchen. Es gibt keinen größeren Ansporn als diesen, um zu überleben.«
»Da magst du recht haben, Feelein. Die nächsten Stunden und Tage werden zeigen, ob genau das reichen wird.«
Fee nickte abwesend. Soeben bog der Rettungswagen von der Straße ab, um die Einfahrt zur Behnisch-Klinik zu nehmen. Mit einer vernünftigen Mischung aus Konzentration und Anspannung warteten Fee und Daniel, bis der Wagen vor ihnen anhielt und sich die Türen öffneten. Als Fee die beiden Jungen sah, atmete sie sofort erleichtert auf. Die Kinder saßen auf den Klappsitzen und machten einen guten Eindruck auf die versierte Kinderärztin. Natürlich sahen sie mitgenommen aus, und die Sorgen um die verletzte Mutter standen ihnen ins Gesicht geschrieben. Aber die Einschätzung von Fred Steinbach stimmte zweifellos: Sie hatten keine schwerwiegenden Verletzungen davongetragen. Trotzdem wurden sie jetzt gründlichst untersucht.
Schnell konnte Fee dann Entwarnung geben. Der äußere Anschein hatte nicht getäuscht; den beiden ging es erstaunlich gut. Zumindest körperlich.
Während es Leon irgendwie schaffte, ruhig und gefasst zu bleiben, brach der kleine Moritz schnell in Tränen aus.
»Wo ist meine Mama? Ist sie … ist sie … tot?«
»Nein!« Fee setzte sich zu dem Jungen auf die Untersuchungsliege und nahm ihn in ihre Arme. »Pscht, nicht weinen, Moritz. Eure Mama lebt.«
Daniel hoffte, dass Fees Worte noch der Wahrheit entsprachen. Er stand neben Leon und legte ihm eine Hand auf die Schultern. Er konnte sich vorstellen, wie schwer es dem älteren Jungen fallen musste, nicht in das Weinen seines Bruders einzustimmen. »Eure Mutter wird gerade operiert«, erklärte Daniel behutsam. »Ihr wisst sicher, dass sie bei dem Unfall schwer verletzt wurde. Deshalb müssen sich jetzt unsere besten Chirurgen um sie kümmern.«
»Wird sie wieder gesund?«, fragte nun auch Leon leise.
Fee und Daniel sahen sich an. Sollten sie den Kindern sagen, wie schlecht es um ihre Mutter stand und ihnen damit jede Hoffnung nehmen?
»Es wird nicht leicht werden«, gestand Daniel schließlich. »Sie muss jetzt erst mal die Operation gut überstehen. Und danach wird sie viel Zeit und Ruhe brauchen, um sich zu erholen.«
»Ich hab’ vorhin schon ganz viel gebetet«, schniefte Moritz. »Vielleicht hilft das ja.«
Fee strich dem Jungen, der sie so verzweifelt anschaute, sanft über die Haare. »Beten hilft immer«, sagte sie weich. »Du hast dich doch danach schon ein klein wenig besser gefühlt, nicht wahr?«
»Ja, kann sein.« Moritz schaute zu Fee auf. »Das Beten soll aber eigentlich meiner Mama helfen. Meinen Sie denn, das klappt auch bei ihr?«
»Das werden wir sicher bald wissen«, sagte Fee ausweichend. Als sich in diesem Moment die Tür des Untersuchungszimmers öffnete, war sie froh, dass sich Moritz vorerst mit dieser vagen Antwort begnügen musste.
»Ich hoffe, ich störe nicht«, sagte Christian Heine und blieb in der offenen Tür stehen. »Schwester Inga meinte, dass die Untersuchungen abgeschlossen sind und ich kurz reinkommen darf.«
»Natürlich, Herr Heine.« Daniel winkte ihn ins Zimmer. »Sie möchten sicher nach unseren tapferen Patienten sehen.«
Christian nickte und fragte dann die Jungen: »Geht es euch gut? Seid ihr in Ordnung?«
»Ja, wir sind nicht verletzt«, antwortete Leon, der bis jetzt kaum gesprochen hatte. »Aber unsere Mutter …«
»Sie ist hier in den besten Händen, Leon. Ich konnte noch kurz mit ihr sprechen, als ich bei ihr im Wagen war. Ihre größte Sorge galt und gilt euch.«
Daniel sah überrascht auf. »Ich wusste gar nicht, dass sie ansprechbar war. Hat sie Ihnen noch sagen können, wer sich um die Kinder kümmern soll?«
»Nicht direkt, aber sie sprach von ihrem Bruder Sascha …«
»Onkel Sascha?«, riefen beide Kinder entsetzt aus. Leon schüttelte heftig den Kopf. »Das kann ich mir nicht vorstellen! Mama und Onkel Sascha verstehen sich gar nicht gut. Und mein Bruder und ich kennen ihn kaum. Wir waren vor dem Unfall bei ihm, um unsere Urgroßmutter zu besuchen. Da hat er kein einziges Wort mit uns gesprochen.«
»Ja, als ob wir unsichtbar wären«, pflichtete ihm Moritz bei. »Onkel Sascha ist richtig komisch. Ich glaube, der kann uns gar nicht leiden. Da wollen wir nicht hin.«