Alle Illustrationen:
© Michaela Talkenberger, 2020
Pierre Alizé
DIE VERLORENGEGANGENE GROSSMUTTER
DTII FERLORENKEKONGENE MODR
In Altai-Wolga-Rheinallemanischem Dialekt aus Marjánowka in Sibirien
Sprachliche Bearbeitung: Rabea Tjaden
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 978-3-7526-1816-7
© Pierre Alizé, 2021
© Gestaltung Pierre Alizé, 2021
Dialektschreibweise und Ausspracheregeln am Märchenende!
Gkwidm(e)t mojn(e)r Modr Ernstina,
dtr Modr in jejd(e)r Familje
un(t) dr Modr in jejdem fun uns
Es war einmal eine alte Frau, die lebte in einem ruhigen Dorf an einem breiten Fluss, der in einen grossen See mündete, am Rande eines tiefen Waldes, über dem ein wunderschöner Berg in all seiner Schönheit erstrahlte. Ihr ganzes Leben hatte sie mit dem Sammeln von Kräutern verbracht und allen Menschen geholfen, die in ihre bescheidene Hütte kamen.
S warr mol ej alde Fraa, dtii lebte in ejnm rruighn Dtorrf on ejnm brrajdn Fluss, dtæ in ejn-n krrousn Sej mindete, om Rront ejnes dtiiwn Waldes, iwrr dtem ejn wundrrschejnrr Pærrch in all sojnrr Schejnhajt errschtrahlte. Ihr gkonzs(e)s Leb(e)n long hot sii midm Sommle fun Krajtrr fe(r)brocht un(t) alln Menzschn k-holwe, dtii in irr pbschajdenes Hajssje komme sin.
Eines frühen Morgens, als sie gerade wieder Kräuter sammelte, hörte sie auf einmal ein fröhliches Lachen. Sie schaute sich nach allen Seiten um, konnte jedoch niemanden entdecken. Das Lachen ähnelte dem lichtvollen Klang eines Glöckchens. Plötzlich mischte sich in diesen Klang eine sehr weiche und liebevolle Stimme. Sie wandte sich zu der Stimme um. Mit Bewunderung erkannte sie eine hochgewachsene, weiss schimmernde Birke, die zu ihr sprach. Noch nie zuvor hatte ein Baum mit ihr gesprochen.
«Geh hinunter zum Fluss in die Richtung, aus der die Sonne scheint, und du wirst sehen.»
Ejnes frijen Morijens, als sii krat widr Krajtrr gsommlt hot, heert sii uff ei(n)mol ejn frejliches Lakhe. Sii kukt sich nach alln Sajdn um, konnte awr niimont seje. Dts Lakhe ejnelt dtem lichtfolln Klong ejnes Glekchens. Plezlich mischte sich in dtiizsn Klong ej gkons weghe un(t) liibefoll(e) Schtimm(e). Sii trejt sich zu dtrr Schtimme um. Sii war erschtount iwrr ejne houchgewachsne, wais schimmernde Pirge, dtii zu ihr gkschprokhe hot. Noch niimols forhær hot ejn Boum mit ihr gkschprokhe.
„Kej rrunner zum Fluss in dtii Richtung, fun wu dtii Sunn schojnt, un(t) dtu wærst seje.“
Die alte Frau nahm ihren Korb, der mit verschiedenen Kräutern halbgefüllt war, auf und ging durch Bäume und Sträucher und über eine Blumenwiese zum Fluss hinunter.
In der angegebenen Richtung sah sie auf dem Fluss in einem Kreis aus zwölf grossen Wasserlilien eine Wiege, in der ein Kind lag, das in den Himmel blickte und voller Freude die Sonne anlachte. Eine weisse Taube erschien über dem Kopfende der Wiege, hielt in der Luft an und flatterte auf der Stelle. Die Stimme der schlanken Birke ertönte aus dem Wald herüber: «Dieses Kind wurde dir gesandt. Nimm es mit nach Hause und in deinem Herzen auf, als wäre es dein eigenes.»
Die alte Frau watete ins Wasser, hob das Kind behutsam aus der Wiege und legte es in ihren Korb auf die wohlduftenden Kräuter. Dann machte sie sich mit dem Kind auf den Weg zurück durch den Wald zu ihrer heimeligen Hütte.
Tagein tagaus vom frühen Morgen bis zum späten Abend kümmerte sie sich nun liebevoll um dieses sonnenhafte Wesen. Das Kind wuchs zu einem fröhlichen und kräftigen Knaben heran. Die alte Frau war für ihn wie eine Grossmutter und er nannte sie zärtlich «Nonna», was Oma bedeutet. Sie tat alles, damit es ihrem Sonnenwesen stets gut ging und er keine Sorgen hatte.
Dtii alde Fraa hot ihr(e)n Korp uffgenomme, dtæ mit feschiidenen Krajter halpgefillt war, un(t) is dturch Pbejm unt Schtrajghr un(t) iwr ejne Blumewiise zum Fluss runnerkonge. Dott hot sii kseje uwn Fluss in ejnem Krajs us zwelf krousn Wazsrlilien ejne Wighje, in dtæ ejn Kint gelekhe hot, dtes in dten Himml kukte unt follr Frajdt dti Sunn oulachte. Ej(ne) wajzse Taube erschojnte iwr dtem Kopfende dtr Wighje, hot in dtr Luft ougehalle unt fladderte uwm Platz. Dti Schtimme dtær dtinnen Pirge ertejnte us dtem Walt riwwer: „Dtiises Kint is dtir gsonnt worre. Tu(e)s hejm nemme unt in dtojn Hærz uffnemme, als wærs dtojn ajghjenes.“