Inhaltsverzeichnis

Nürnberg 1998

Was geschieht mit einem unerfüllten Traum? Verschrumpelt er wie eine Rosine, oder dickt er ein wie Zuckersirup, oder zieht er wie ein Bleilot in die Tiefe? Oder – explodiert er?

Carl Wittgenstein hat aus seinem Leben nichts gemacht. Abgebrochenes Studium, keine Ausbildung, arbeitslos, Stütze vom Arbeitsamt. Für die 68er-Revolution und die Hippies ist er zu spät gekommen, und dass Jesus nun sein Seelenführer ist, hat auch nichts geändert. Immer wieder wird er an seine Biografie erinnert, an die Sache mit Sue, an die Arbeit in der K-Gruppe, an die Zeit als Gitarrist einer Band, an den Tod seiner Nichte Rebekka.

Ein alter George-Harrison-Song macht ihm klar, dass es Zeit ist, Bilanz zu ziehen. Die endet auf dem Geländer einer Brücke, wo unten der Strom zieht. Nach einer Nacht im Krankenhaus beschließt Carl, sein Leben wieder in die Hand zu nehmen. Stück für Stück begegnet er der Vergangenheit wieder, dem Traum, der ihn immer noch beherrscht.

Rainer Gross, Jahrgang 1962, studierte Philosophie, Literaturwissenschaft und Theologie. Er lebt mit seiner Frau als freier Schriftsteller in Reutlingen.

Bisher veröffentlicht: Grafeneck (Pendragon 2007, Glauser-Debüt-Preis 2008); Weiße Nächte (Pendragon 2008); Kettenacker (Pendragon 2011); Kelterblut (Europa 2012).

Bei BoD u.a. erschienen: Die Welt meiner Schwestern (2014); Das Glücksversprechen (2014); Yūomo (2014); Haus der Stille (2014); Abendzug nach Blankenese (2014); Schrödingers Kätzchen (2015); Drei Tage Wicklow (2015); Haut (2015); Der Traum der Delphine (2015); Halleluja (2015); Das Herz ist ein Reisender – Liebesgeschichten (2015); Assmanns Inferno (2015).

Gewidmet
dem größten Revolutionär
aller Zeiten

1 My sweet Lord

(George Harrison, 1970)

Was weiß ich von dir? Was weiß ich von mir? Ich will, ich wollte immer nur eines: frei sein. Frei sein von anderen, von der Welt, von der Wut in mir und der Angst und der erstickenden Engmaschigkeit dieses Lebens, das meines sein sollte und es nicht war. Immer nur eine Richtung: vorwärts. Aufwärts. Immer gegen den Strom.

Carl schreibt sich mit C. Auf jedem Amt muss er das korrigieren, aber auf vielen Ämtern ist er nicht. Nur Sozial- und Arbeitsamt, regelmäßig. Er hat einmal studiert, das ist lange her. Jetzt hat er eine Wohnung in der Südstadt, zweiter Stock, ruhiges Haus. Für die Hausordnung muss man mit Stahlwolle das alte Wachs vom Holzboden kratzen, und an jeder Ecke kacken die Hunde hin. So stellt Carl sich das nicht vor, das mit dem erfüllten Leben nicht oder überhaupt das nicht mit dem Leben.

Damals, denkt er, während er einmal im Supermarkt einkauft, hat er was erlebt. Der Trip mit dem alten VW-Bus ans Nordkap zum Beispiel. Das war während des Studiums, mit Sue und Tom. Oder die vielen Konzerte, auf denen sie gewesen sind, mit Tausenden auf Rasen gehockt, als wär’s Woodstock, und die Mädchen flochten ihren Jungs Zöpfe ins Haar, ein Haufen zerdrückter Bierdosen im Gras, das Pot im silbernen Zigarettenetui. Für Woodstock war er damals schon zu spät, ein paar Jahre, damals war er erst zehn und hörte die Kassetten von seinem Vetter auf dem alten Rekorder.

Mit Plastiktüten tritt er auf die Straße und weiß auf einmal, dass er die Kraft nicht mehr aufbringt, in seine Wohnung zurückzukehren. Genau diese Straße, genau dieses Viertel, genau das ist es, was er sich nicht unter Leben vorgestellt hat. Schon damals nicht, als er nach Berlin ging und fürs Studium verdienen musste: Frühschicht in der Fabrik. Wenn in der Dämmerung die Maschinen warmliefen und nachmittags gegen die Hitze Kühlventilatoren bliesen, dass Carl die Zähne klapperten. Die Beklemmung morgens, der scharfe Zahnpastageschmack im Mund, die überhellen Geräusche in der verschlafenen Stille. Wie er das Schlagen der Autotüren und das Starten der Motoren hasste.

Damals, denkt Carl, während er zur Lorenzkirche trottet ohne zu wissen, was er dort will, damals hätte er ein Lied darüber gemacht. Einen Song. Zusammen mit Tom und Sue unten im Keller, den sie mit Isolierwatte schalldicht machten. Einen Song, politisch. Weil sie glaubten, die Einzigen zu sein, die begriffen, was vor sich ging. Oder wie damals, als er auf dem Speicher Schlagzeug übte jeden Nachmittag, sich aus Büchern alles beibrachte und der Schweiß in den Haaren klebte vom Staub. Tom half ihm, besonders bei den Jazzschlägen, Jazz lag ihm nicht so, aber Rock lag ihm im Blut und Blues, eins-und-die-zwei-und-die-drei-und-die-vier. Heute arbeitet Tom in einem Anwaltsbüro.

Vor dem Portal der Kirche sitzt ein Straßenmusikant. Sein Hund daneben, lange Haare und Bart, den Gitarrenkoffer aufgeklappt mit Kleingeld drin. Ein Obdachloser klatscht schwerfällig Beifall und kommt ins Wanken dabei. Carl bleibt eine Zeitlang stehen und wünscht sich, in einer anderen Stadt vor einer anderen Kirche einem Trio zuzusehen: einem hageren, glatzköpfigen Kerl am Riesenbass, einem kleinen Männchen mit Kräuselmatratze im Gesicht, der die Trommelfelle bearbeitet, und einem feschen Blonden mit Walrossbart, der am Saxophon auf und ab wippt und rauchige Schwermut in die Mittagshitze bläst. Tom, Sven und er: Das wär’s damals fast gewesen, das wäre ein Leben, das wären sie heute noch. Eigentlich war die E-Gitarre Carls Domäne, aber er hatte von Anfang an ein Faible für die Schießbude. Gitarre spielt er noch heute, aber heute hat sich zu viel geändert oder zu wenig. Zurück kann Carl nicht mehr. Wohin auch?

Erst jetzt fallen ihm die vielen Leute hier auf. Hinter der Kirche lärmt es, auf dem Hauptmarkt drängt sich die Menge, fliegende Händler überall mit Baumwolltüchern, Indianerschmuck und Glöckchenketten. Das Sommerfestival, richtig. Nach mittelalterlichem Brauchtum benannt: Bardentreffen. Manchmal scheint es, als hätte sich doch nichts geändert. Als bräuchte er bloß sich die Haare wachsen zu lassen und wieder auf Decken auf dem Fußboden zu leben, mit Bukowski und Adorno in zerfledderten Paperbacks nächtelang, hellsichtig, mit brennendem Sinn. Und tagsüber barfuß im Sommer der Liebe, den es nie gegeben hat. Aber Carl braucht bloß die Schmierereien an den U-Bahn-Wänden anzusehen, die Kahlköpfe mit ihren Baseballschlägern oder die Studenten mit ihren Squash-Terminen – zu viel hat sich geändert. Oder für ihn zu wenig.

Selbst das Kiffen hat Carl aufgegeben, obwohl er noch irgendwo ein zerdrücktes Scheibchen verkramt haben muss, in dem silbernem Etui. Auch Sue hat Carl aufgegeben, Sue, mit der er fast einmal ein Kind gehabt hätte und die ihn geliebt hat, auf ihre Art. Bis sie angefangen hat, dieses makrobiotische Zeug zu essen, nur noch Joghurt und Milch und Obst. Nicht einmal Tee hat sie mehr getrunken, und mit Sex war’s sowieso aus. Damals hatten sie eine Wohnung zusammen in Heidelberg. Er ist ihr bis nach Amsterdam nachgefahren, bis zum Flughafen. Aber es gab keinen Abschied, er konnte ihr kein Wort mehr sagen. Sie blieb bei der Gruppe ihrer neuen Brüder und Schwestern, glatzköpfig, in dem orangenen Sari, er erkannte sie kaum aus der Ferne. Es gab kein Wiedersehen, bis heute nicht.

Während er um die Kirchenecke biegt, hört er, dass auf dem Platz eine Band spielt, dass der Straßenmusikant hinter ihm ein vertrautes Lied anstimmt. Plötzlich vertraut wie ein oft gelesener und nie verstandener Straßenname, in der Gegend, in der man zuhause ist. Carl bleibt stehen, dreht sich um, einer der Penner am Boden scheucht ihn von seinem Hund weg, Mensch pass doch auf, wo du hintrittst!

My sweet Lord.

Kennt er das überhaupt? Es ist lange her. Zuerst erkennt er die Melodie und erst dann begreift er, dass es so heißt.

I really wanna see you.

Von wem ist das? John Lennon? Oder nein: Harrison war’s. November siebzig. Gehört das nicht gerade in die Zeit, die er verpasst hat? Um ein paar Jahre. Um fünf Minuten, die fünf Minuten, die er immer zu spät ist, fünf Minuten zu wenig zum Leben. Damals war er erst elf. Die Zeit mit Sue war später, zu spät, als dass es gutgehen konnte. Da gab es die Nächte in Südfrankreich, die Fahrt ans Nordkap, die im Blau segelnde Möwe mit dem schönen Namen auf der Kinoleinwand, die dicken Philosophenbände auf dem Fensterbrett und der Teebecher, der nicht leer wurde an den vielen Morgen und Abenden zwischen den AstA-Sitzungen und den Vorlesungen. Danach kam die Zeit mit Jean.

I really wanna know you.

Jean lud ihn zu einem Bibelkreis ein. Abgefahrene Sache damals. Kümmerte sich niemand drum, die Jesus People waren schon vorbei. Carl ging nur einmal mit und langweilte sich zu Tode. Er hatte sich Diskussionen versprochen. Diskussionen mit messerscharfen Argumenten, verbohrten Idealen und Kritik, unbestechlich. Gerne hätte er sich ja was erzählen lassen von diesem schwarzen Buch, das noch in seiner Sammlung fehlte. Damals noch. Aber Jean schwafelte bloß über kaum verständliche Verse und stellte überflüssige Fragen. Die Anderen saßen brav da, nickten, schauten Carl verstohlen an, ob er nicht endlich auf die Knie fiele und sich bekehrte. Jean war ein lieber Kerl. In den Monaten nach Amsterdam, als Carl die Prüfungen hätte machen sollen, weil die Regelstudienzeit überschritten war, da war es Jean, der nach ihm schaute. Er brachte guten Tee und kiloweise Orangen mit – Carl riecht noch den Duft der Schalen auf dem Chinateller, auf den Jean die Früchte schälte –, Jean besorgte ihm einen Arzt, als es mit den Angstzuständen schlimmer wurde, Jean ging mit ihm hin und holte auf Rezept die Pillen, wozu Carl nicht mehr fähig war.

Damals, denkt Carl, als er ein paar Schritte zurückgeht und dem Musikanten zuhört. Der schrammelt seine Griffe herunter und näselt den Text vor sich hin. Macht dem das Spielen überhaupt Spaß, weiß der überhaupt, was er da singt?

My sweet Lord. I really wanna be with you.

Eigentlich komisch, denkt Carl, dass er den Text nie so gehört hat wie jetzt. Jetzt, da sich so viel geändert hat an seinem Leben, das noch immer keines ist. Oder zu wenig. Jetzt, da ihm der Name dessen, von dem das Lied handelt, etwas Vertrautes geworden ist, vertraut, was Jean mit seinem Kreis und was die Jungs vom Campus und was alle zerkratzten Vinylscheiben, mürbgelesenen Buchseiten, endlosen Chausseen und Zeltnächte und Sues sanfte, trockene, nach Kamille schmeckenden Lippen nicht geschafft hatten. Bekannt wie ein oft gelesener und nie verstandener Straßenname, in der Gegend, in der man zuhause ist. Eigentlich zuhause ist. Aber nie mehr hinkommt. Er hat ihn womöglich immer noch nicht verstanden.

Halleluja. Halleluja.

Jetzt, da er eigentlich ein erfülltes Leben haben sollte. Da sein sweet Lord sich seiner angenommen hat. Unsichtbar. Tagtäglich. Er aber nichts davon spürt. Oder zu wenig. Zu wenig, um damit leben zu können. Nein, das kann nicht alles gewesen sein, denkt Carl im Weitergehen. My sweet Lord. Das kann nicht alles sein, was du mir zu bieten hast. Ich hänge immer noch in den windigen Gassen dieser Welt herum, heimatlos, weil ich die eine Straße nicht mehr finde, in der ich geboren worden bin, in die unerträgliche Freiheit einer Hoffnung hinein. Freier Gang in der einen Straße lebendig von Gesichtern, von lieblichen Männern und Frauen, die noch dort umhergehen, liebliche Geschöpfe sie alle, in ihrer aller Augen das Geheimnis aller…

My sweet Lord.

Was weiß ich von dir? Was weiß ich von mir? Ich will, ich wollte immer nur eines: frei sein. Immer nur eine Richtung: vorwärts. Aufwärts. Immer gegen den Strom.

Hare Krishna. Hare Krishna.

Ach so. Einen Moment lang ist er irritiert, dann enttäuscht. Stimmt ja, das Lied meint ja einen anderen. Harrison hatte es mit dem, für den auch Sue das Singen anfing. Mahamantra auf der Sitar. Immer die gleiche Leier: Hare Krishna, Krishna Krishna, Hare Hare. Harrison hat der Melodie, fällt Carl beim Zuhören ein, ein Mantra als rhythmisches Muster zu Grunde gelegt. My sweet Lord Jesus: das klingt gut. So könnte ich wieder mit dir reden. Vielleicht hat sich auch überhaupt nichts geändert, nur Zeit und Ort oder nicht einmal die: den Rückstand nie eingeholt.

Stattdessen hat das Leben mich eingeholt, denkt Carl, während er sich zwischen den Kebap- und Brezelbuden hindurch drängt, um einen Blick auf die aufgebaute Bühne zu bekommen. Bierbänke und Tische unter Sonnenschirmen, nervöse Hunde an Leinen neben Touristen, die sich mit Plastikgabeln warmes Kraut in den Mund stopfen. Es hat mich eingeholt, bevor ich leben konnte. Nun muss ich es, auch wenn ich’s nicht kann. Dass ich es immer schon tue, macht alles nur schlimmer.

Die Band kennt er nicht, der Gitarrist ist Schweizer, der Bassist könnte Sven sein, im Ernst, ist er das nicht? Sven hier auf der Bühne mit dem Bass in den Armen? Schau nur, wie er an den Strippen schnippt, ist er das nicht? Und der an dem E-Möbel herumfingert: Tom! Tom sitzt doch im Büro siebenhundert Kilometer entfernt, und gar noch er selber, Carl, hinten in den Schwaden der Nebelmaschine, mit den Sticks auf Hi-Hat und Snare, gibt’s das? Carl lässt die Tüten aus den Händen fallen, die Milchtüten klatschen aufs Pflaster.

Er will nur noch schauen und hören.

Der Platz mit den Menschen wird ausgeblendet wie bei einem Film. Das Wesentliche ist immer zwischen den Dingen. Wie bei der Musik. Wie bei den Songs damals, die er sich ins Hirn gedröhnt hat. Schon immer hat Carl daneben gehört: zwischen die Töne in die Stille dahinter. Ins Unsichtbare. Ins Unhörbare. Eine Stimmgabel im inneren Ohr, um den einen Ton zu finden, die eine Frequenz, die die Oberfläche seines Ichs durchsticht wie Seifenhaut. Dort herrscht reglose Stille.

Klar, durchsichtig, süß wie Eiswürfel, die man frisch aus der Gefrierschale bricht so frisch, dass sie noch an den Lippen kleben, süß im Mund und kalt, kalt.

Die Wahrheit ist kalt, denkt Carl, als die Welt längst ausgeblendet ist. Du bist kalt, my sweet Lord.

Ich lasse mich jetzt sinken, my sweet Lord. Hörst du?

Wo bist du?

Sinke ich jetzt auf dich zu?

Er sinkt zwischen die Dinge, zwischen die Musik. In die kühle, wohlige Leere der Blindheit. Vielleicht habe ich dich nie blind geliebt, bin nie blind gefolgt. Vielleicht ist es ja meine Schuld, dass ich so bin, wie ich bin. Meine Schuld, dass ich nicht leben kann. Die Musik soll ihn überströmen, durchtränken und ihn wegwaschen, löschen wie Tinte aus den steifen Blättern eines Lebensbuches, wenn es so was gibt. Von dir überströmt, durchtränkt, weggewaschen zu werden, das wollte ich. Ich hab ich dich nicht verstanden, my Lord, my cold Lord, damals nicht und heute auch nicht! Damals, als ich Ja zu dir sagte wie zu einem Bräutigam.

Seit er Ja sagte, hat sich zu viel geändert, ist zu viel gleich geblieben. Die Wut. Die Sehnsucht. Die Ohnmacht.

Es ist schon spät in der Altstadt, gegen Mitternacht, als die letzten Bands die Schlussakkorde spielen und das Festival zu Ende geht. Vor der Kirche liegen noch die Tüten mit den Lebensmitteln, vergessen, von Tritten zerstreut der Inhalt, ein weißer Fleck von der ausgelaufenen Milch. Carl hat zwischen den Tönen die Stille gefunden, die er gesucht hat. Er hat reglos gestanden und gelauscht. Auf der Holzbrücke federn die Schritte der Darübergehenden, von einem Ufer zum nächsten, und das nächste verliert sich jeweils im Dunkeln. Bis es still wird. Die Lampen senden ein hellgrünes, fädiges Licht aus wie Luftperlen in nächtigem Eis. Unten geht der Strom.

Carl ist es jetzt ernst. Endlich mit dem Strom. Endlich abwärts, ins Dunkel.

My sweet Lord.

Wo bist du gewesen?

Carl denkt nicht mehr. Leise flüstert in ihm noch ein Echo von früher, das Wispern der Tausenden von gelesenen Buchseiten, das Säuseln der hunderttausend Botschaften, und darin, wie ein träges Lot hinab in den Abgrund: der eine Wille. Das eine, nie widerrufene Ja.

Und grob ziehen ihn die Arme über die Brüstung zurück, jemand will die Polizei rufen. Das wird Fragen geben und Forderungen und ausbleibende Antworten, was soll Carl denn auch sagen?

Ob ihm diese Menschen wohlgesonnen sind, weiß Carl nicht. Er treibt dort unten, im Strom, überströmt, durchtränkt von einem Traum, den er, seit er denken kann, nie so leicht und froh geträumt hat. Was soll er erzählen?

Also schweigt Carl auf die Fragen, auf die Ermahnungen, auf das Kopfschütteln und die besorgten Atemstöße mitten in sein taubes Gesicht. Stattdessen beginnt er zu singen, lächelnd zuerst, leise, dann immer lauter, und die Menschen halten ihn für betrunken oder verwirrt, reden ihm gut zu, aber Carl singt aus Leibeskräften: ein Lied, das es noch gar nicht gibt.

2 In a Gadda da Vida

(Iron Butterfly, 1968)

Das Wehen in den Birkengirlanden und die Helle der Grabsteine stimmten ihn froh. Froh, das Geheimnis hinter dem Leben nun zu kennen: Es gab einen Ausweg. Nach dem Leben kam das Große, das Eigentliche, und jetzt schon konnte man einen Blick erhaschen, gab es Augenblicke wie Fenster, durch die man hinausschauen konnte in eine ganz andere Wirklichkeit. Der Friedhof war wie ein blühender Garten.

Im Krankenhaus verwundert sich niemand über seinen Nachnamen. Die Schwester an der Aufnahme notiert ihn einfach, wie das Geburtsdatum: sechsundzwanzigster Juni neunzehnhundertneunundfünfzig. Anders als früher im philosophischen Seminar. Wenn er seinen Namen nannte, grinsten die Kommilitonen und der Professor fragte mit süffisantem Lächeln: Verwandt oder verschwägert? Natürlich wäre es möglich gewesen, dass er mit dem berühmten Sprachphilosophen tatsächlich verwandt war. Aber niemand rechnete damit. Stattdessen besuchte er Seminare und eine Vorlesung über Wittgenstein. Besonders die Philosophischen Untersuchungen hatten es ihm angetan. Sprache als Spiel. Das Verstehen eines Satzes ist dem Verstehen eines Themas der Musik viel verwandter, als man glaubt. Das leuchtete Carl sofort ein. Und: eine Erklärung ist ein Vergleich mit etwas, das denselben „Rhythmus“ hat.

Wie soll Carl aber die Geschehnisse des vergangenen Abends verstehen? Welchen Rhythmus hat das? Scheinbar einen ganz anderen als bisher: Das Streifen durch die Altstadtgassen. Der raue Sandstein der Brüstungen und Pfeiler. Geruch nach Hammelfleisch und indischem Curry. Bühnenscheinwerfer, Verstärkerdröhnen, im Dunkeln stehen neben Wildfremden und, ohne den Blick abzuwenden von den Bands, ein paar Worte sagen: über den Stil, die Gitarrengriffe, das erstaunliche Hiersein. Und irgendwann die Holzbrücke, federnd, und der tief unten gehende Strom.

Er verbringt die Nacht in einem frisch bezogenen Bett in einem leeren Viererzimmer. Er liegt wach, hört die Schritte der Nachtbereitschaft auf den Fluren. Sie haben ihm ein Beruhigungsmittel gegeben, das ihn nur ruhig macht, nichts sonst. Am nächsten Morgen die Untersuchung durch den Arzt, der über den Grund der Einlieferung informiert ist. Carl sagt, er habe sich nur über die Brüstung gelehnt. Kein Gedanke an das, was Sie denken. Nur Kopfweh und so ein Ziehen in der Schulter. Haben Sie öfter Kopfschmerzen? Carl nickt. Der Arzt stellt mit gezielten Fingerdrücken eine Muskelverspannung fest und sieht ihn lange an. Dann gibt er Carl ein Muskelrelaxans, damit die Verhärtung nachlässt, und weil er nichts verschreiben darf, gibt er ihm die ganze Schachtel. Schlafen Sie sich aus, sagt der Arzt. Und wenn Blutdruck und Kreislauf stabil sind, können Sie heim. Er beugt sich vor und drückt Carl den Arm, während er ihm rät, doch zu jemandem zu gehen, mit dem er über seine Probleme reden könne. Carl bedankt sich und nickt. Es ist ein anderer Rhythmus, tatsächlich, denkt er und legt den Kopf ins Kissen zurück, bis die Visite verschwunden ist. Eine andere Sprache. Fast, denkt er, fast verstehe ich etwas.

Mit der U-Bahn fährt er am hellen Tag nach Hause. Das Medikament macht ihn schläfrig und besonnen. Eine Ruhe in den Gliedern wie lange nicht. Die Stadt um ihn her bleibt gleichgültig, er eckt nirgends an, nichts stellt sich quer. Er manövriert gelassen durch die Straßen wie ein träger Lastkahn, der wunderbarerweise Fahrwasser findet. Im Treppenhaus riecht es nach Bohnerwachs.

Ähnlich ist er nur damals nach Hause gekommen, nach dem Unfall seiner kleinen Nichte Rebekka, als er auch keine Erklärung hatte für das, was geschehen war. Er schloss auf, die blanken Fenster im Zimmer, der abgewetzte Dielenboden, das Teenetz im Ausguss, das Wasser im Kessel, wie jetzt. Die Bilder überlagern sich.

Er setzte sich auf das alte Sofa, hörte die alten Federn knacken, schlürfte den heißen Tee, sah dem Dampf zu, wie er im weißen Fensterlicht zerging. Kein Rhythmus mehr in ihm. Daran hielt er sich damals fest. Um das eine Bild zu vergessen, das sich in ihm festgesetzt hatte. Das Bild eines dünnen, dunklen Rinnsals auf Asphalt, das Profil eines Autoreifens darin, festgebacken binnen einer Viertelstunde, die dünne Spur, die ein Leben gewesen war.

Das Bild, das nun wiederkehrt, obwohl er es nicht will. Doch es bleibt kühl und still in ihm. Genau wie damals. Vielleicht macht das nun das Medikament, denkt Carl. Damals verstand er, dass er seinem sweet Lord nicht die richtige Frage gestellt hatte. Dass er womöglich überhaupt keine Frage gestellt hatte. Dass er gemeint hatte, es sei seine Pflicht, auf Antwort zu warten, obwohl er noch gar nicht gefragt hatte. Er wischt mit dem Zeigefinger den braunen Belag von der Porzellaninnenwand des Bechers.

Er will davon nichts mehr wissen. Von ungestellten Fragen und ausgebliebenen Antworten. Er möchte lieber die Ruhe in sich genießen: die sachte, verständnislose Benommenheit. Er nimmt die Gitarre aus der Ecke, die Saiten schnarren. Sie liegt leicht und passend in den Händen wie selten. Ein ganzes Stück, ein Instrument, auf dem er nur die sachten Kräfte ins Spiel zu bringen braucht. Das bin ich auch, denkt er behaglich, während er sie stimmt. Ein empfindliches Instrument des Daseins, auf dem Leben und Tod ihr Spiel treiben. Eine Bühne aus Licht und Dunkel. Ein Kampfplatz. Und so wie ich diese Gitarre spiele, sagt Carl und kichert leise, so spielst du mich, my sweet Lord. Ich habe gar keine Wahl. Ich kann nichts tun. Nur die Melodien erkennen, rasch, bevor sie verklingen. Den Rhythmus, das Muster kommender und gehender Augenblicke.

Das Ohr gerichtet auf die Stimmgabel tief drinnen.

Hinhorchen, mit geschlossenen Augen.

Die Finger der Linken eine Stellung suchen lassen.

Der Mittelfinger der Rechten auf eine Saite legen.

Da es der Mittelfinger ist, muss es die B-Saite sein.

Behutsam zupfen.

Es ist ein Cis.

Tatsächlich.

Noch ein Cis.

Cis - Cis - E - Dis - was kommt dann?

Noch einmal von vorn.

Und jetzt ist der Rhythmus da: Ba ba ba-ba-da-ba ba ba ba.

Kein Mantra: Rock

Die letzten drei sind G, Fis und E. Tonart cis-Moll.

Komisch, denkt Carl und lacht leise. Das kenne ich irgendwoher.

Er spielt die Melodie mehrmals hintereinander, bis er sie im Kopf hat. Dann wartet er, ob noch mehr kommt. Die geschlossenen Lider sind schwer, die Ruhe verlässt ihn nicht. Dabei herrscht in ihm eine Klarheit, eine stechende Brillanz, wie sie Carl nur damals erlebt hat. Das ist das Medikament, denkt Carl, während er spielt: Da muss ich nachher noch eine nehmen. Die haben einen guten Effekt.

Er legt die Gitarre zwar zur Seite, spielt im Kopf aber weiter. Im Schrank hinter der Wandschräge kramt er nach dem alten Silberetui. Das muss er noch irgendwo haben. Er findet einen Stoß alter Platten, zerschlissene Hüllen, vorsintflutliche Cover. Er legt sie achtlos zur Seite. In dem silbernen Etui muss noch ein Scheibchen sein, sicher. Zwar wäre das jetzt stocktrocken und würde ihm zwischen den Fingern zerkrümeln. Aber er könnte es ja versuchen. Zusammen mit dem Medikament müsste es gehen. Das Etui hat Tom ihm geschenkt, damals vor seiner ersten Verhandlung im Kreiswehrersatzamt. Mit einer „kleinen Einlage“ drin: Damit du cool bleibst, sagte er ernst mit seinen blauen Augen. Tom selber hatte es erwischt, das war eine harte Zeit für ihn. Sie wollten ihn fertigmachen wegen seiner langen Haare und dem Haarnetz, das er tragen musste, nannten ihn Schwuchtel, ließen ihn Zusatzrunden mit Marschgepäck um die Baracken drehen. Da waren die Abende im Keller, an denen sie kifften, das Einzige, was ihn durchhalten ließ. Und der Rock. Die alten Platten. Carl sieht sie durch. Eine fällt ihm auf. Das Cover zeigt eine Band vor dem Hintergrund zweier aufeinander getürmter Glaskugeln, ausgefüllt mit Blumenornamenten oder fließenden Farben wie im Kaleidoskop.

Er hat den Rhythmus im Kopf: Ba ba ba-ba-da-ba ba ba ba. Gut, dass er die Platten damals nicht weggeworfen hat. Wollte radikal sein und Schluss machen mit allem, was mit der Vergangenheit zu tun hatte. Dem Studium, dem Kiffen und mit der ganzen Musik, den Dope-Songs, den psychedelischen Hymnen, dem Acid-Rock, wie er damals hieß. Aber er war schlau genug, sie bloß wegzupacken mit der Ausrede, er könne sie später auch noch wegschmeißen. Und jetzt waren sie wieder da, als hätte sich nichts geändert. Er sieht sich das Cover genau an und erinnert sich, dass er unter „psychedelisch“ genau diese beiden mit fließenden Ornamenten gefüllten Glaskugeln verstanden hat.

Darüber steht groß und verschnörkelt der LP-Titel: In a gadda da vida.

Nicht zu fassen, denkt Carl und zieht im Aufstehen die Scheibe aus der Hülle. Das muss ich herausfinden. Diese alten Scheiben werden zwar seinen Saphir ruinieren, aber das ist jetzt egal. Es ist zig Jahre her, seit er dieses Lied zum letzten Mal gehört hat. Von dem Verdienst im CD-Shop hat er sich vor vier Jahren einen Plattenspieler gekauft, was wollen Sie denn heute noch mit einem Plattenspieler, aber die hatten keine Ahnung. Was ist die beste CD gegen die Wärme, die zarte, opake Schwingung, die die in den weichen Kunststoff gegrabenen Klangkanäle auf den zitternden Edelsteinsplitter übertragen, hautnah weitergeben, direkter Impuls, ein Atem aus Frequenzmustern, die ihn in Bewegung versetzen ob er will oder nicht. Und der Saphir singt. Er singt zwar fremde Lieder, aber allmählich werden sie seine eigenen.

Vielleicht soll er gar keine eigenen haben, denkt Carl und ist, die eine Platte zwischen den Handflächen balancierend, schon beim Plattenspieler. Legt auf, pinselt die Nadel, schaltet ein, kippt den Hebel, lüftet den Tonarm – ein guter alter Song wird ihn nicht gleich ruinieren, denkt Carl, so wie mich auch nicht – und im ersten Moment bekommt er vom Rauschen und Knistern eine Gänsehaut.

Und nach wenigen Sekunden hört er die Melodie: seine Griffe, die er vorhin gespielt hat.

Ba ba ba-ba-da-ba ba ba ba.

In a gadda da vida, honey.

Er setzt sich auf den Boden vors Sofa, hält die Hülle in der Hand, schlürft seinen Tee. Das gibt’s nicht. Dass ich das noch kannte.

O want you come with me and take my hand.

In a garden of Eden.