Über den Wassern der Nordsee stand ein schweres Gewitter. Träge lief die Flut an den Strand von Norderney, tiefe Finsternis bedeckte Erde und Meer; die immer so stille, weltabgeschiedene Insel schien in dieser Frühlingsnacht wie ausgestorben.
Und doch regte sich auf dem Wasser ein dunkler Körper, ein Kanonenboot, dessen Besatzung emsig spähend nach allen Seiten ausblickte. Einer der bärtigen Soldaten legte beide Hände an den Mund und rief mit lauter Stimme in die Finsternis hinaus:
»Qui vive?« (Wer da?)
Keine Antwort. Das kleine Boot, welches dicht unter dem Bug des Franzosen dahinglitt, schien steuerlos zu treiben; auch das schärfste Auge hätte in dem Rund desselben keinen Menschen entdeckt, keine Bewegung wahrgenommen. Leise wiegend und schaukelnd führten es die Wellen hinaus bis in das offene Meer, der äußersten Landspitze der Insel entgegen.
Auf dem Kanonenboot ballte der Soldat die Faust. »Alle tausend Teufel«, rief er, »ich habe doch eine Nussschale von einem Fahrzeug hier vorbeischwimmen sehen – wo ist denn nun das Ding geblieben?«
»Flucht nicht so lästerlich!« mahnte eine andere Stimme. »Jeden Augenblick kann der erste Blitz vom Himmel herabfahren; gebt lieber einen Schuss ab und bohrt das Schmugglerboot in den Grund. Sie paschen doch alle, diese langen deutschen Lümmel mit ihren blauen Augen und ihren Bärenkräften.«
Der Soldat ließ sich den Befehl nicht zweimal geben. »Sehr wohl, Unteroffizier Durand«, rief er, »die Kanaille soll es haben, dass ihr Funken und Tropfen zugleich um die Ohren spritzen.«
Er hantierte einen Augenblick bei den Geschützen herum, dann kommandierte er selbst: »Feuer!« und der Schuss krachte donnernd durch die stille Nacht dahin, dass in den Dünen am Strande die kleinen Vögel erschreckt auffuhren und durch die Luft schwirrten. Fast im gleichen Augenblick schrie der Franzose laut auf:
»Mille tonnerres! da ist das Boot wieder. Ein Knabe liegt darin!«
Er wollte den zweiten Schuss abgeben, aber Unteroffizier Durand fiel ihm hastig in den Arm.
»Lasst es bleiben, Chatellier – ich habe die Erscheinung auch bemerkt. Das da ist kein Mensch.«
Der Soldat sah sich plötzlich um, als vermute er, dass jemand ihm in den Rücken fallen werde. »Aber was könnte es denn sein, Unteroffizier?« fragte er flüsternd.
»Ein Geist! Wir haben kürzlich zur Kirchzeit mit dieser selben Kanone ein Boot in den Grund gebohrt, wie Ihr wisst – da unten an der Wattgrenze – es war nur ein Knabe darin, ein armes Kind, das für die Badegäste Seeteufel und Muscheln gesammelt hatte, aber wir konnten natürlich das Geschehene nicht ungeschehen machen, der Junge starb und sah mich fest an – die Glocken da unten im Dorfe läuteten – er hielt im Todeskampfe den Blick auf meine Stirn geheftet. – Wisst Ihr noch, Chatellier, wir warfen den Körper ins Meer. Das Läuten wollte an jenem Tage gar kein Ende nehmen.«
Der Soldat bekreuzigte sich. »Und Ihr glaubt, dass das sein Geist war, Unteroffizier Durand?«
Der andere nickte. »Gerade so lag er in seinem Boot! – Er will uns hinauslocken, bis der Sturm losbricht – kein Splitter würde von der ›Hortense‹ heil bleiben, ich sage es Euch.«
»Die heilige Jungfrau beschütze uns. Soll ich das Steuer wenden?«
Der Unteroffizier nickte. »Das Gewitter zieht herauf, alle Offiziere sind in Norden auf dem Balle, ich mag die Verantwortung nicht tragen. Bergen wir uns, solange es Zeit ist.«
Das Steuer der »Hortense« wurde gedreht, alle Segel vor den, übrigens kaum bemerkbaren, Wind gebracht und der Rückweg zur schützenden Reede angetreten. Wenige Minuten später war das Kanonenboot verschwunden.
Aus dem kleinen Fahrzeuge erhob sich langsam, vorsichtig spähend die schlanke Gestalt eines etwa sechzehnjährigen Knaben. Das hübsche Gesicht lachte, die Finger machten den Franzosen eine lange Nase.
»Ihr Esel! also das ist eure ganze Schießkunst. Ha, ha, ha, schwimme vier Fuß unter den Planken des Schiffes vorüber und ihr schleudert die Ladung fast ebenso viele Hunderte weit ins Meer hinein. Tröpfe! Welsche Schnattergänse!«
Nachdem er sich diesen Ausbruch spöttischen Zornes gestattet hatte, ergriff der junge Norderneyer seine beiden, auf dem Grunde des Fahrzeuges versteckten Ruder und holte aus, dass sich leuchtende Streifen durch das Wasser zogen.
Es war die Gegend unter der heutigen »Giftbude« am Herrenstrand, wo sich im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts diese Szene zutrug. Die Kontinentalsperre hatte ein ausgedehntes Schmugglerwesen zur Folge gehabt, französische Kanonenboote kreuzten überall zwischen den ostfriesischen Inseln und hatten häufig kleine Gefechte sowohl mit den Bewohnern derselben, als auch mit englischen Fahrzeugen, welche den Schmuggelhandel unterstützten. Damals galt eben für Deutschland als Gesetz, was Napoleons Willkür beliebte – kein Wunder also, dass sich auch hier, wie überall im Leben, die List der Tyrannei entgegenstellte.
Unser junger Freund ruderte so hastig, wie es seine Kräfte erlaubten. Am Himmel zuckten zuweilen einzelne Blitze durch das Gewölk, der Ausbruch des eigentlichen Gewitters aber schien noch fern, und eben diese Pause musste er benutzen, um vorwärtszukommen. Der Strohhut flog auf die Bank, das Halstuch mit der Jacke folgte nach, immer schärfer und schärfer spannte der Knabe seine kräftigen Muskeln.
Plötzlich schien es ihm, als bewege stärkerer Wellenschlag seinen Kahn. Er hielt inne und horchte, das weit geöffnete Auge sandte spähende Blicke voraus über das stille dunkle Meer.
Ob nicht in geringer Entfernung ein Etwas, ein schwarzer Schiffsrumpf auf den Wogen lag?
Ein Blitz zerriss die Wolken, nur ein schwacher gelber Schimmer, nicht kräftig genug, um zu leuchten, aber dennoch glaubte der Knabe, während dieses kurzen Augenblicks ein weißes Segel gesehen zu haben.
Er trocknete den Schweiß von der Stirn, dann brachte er den kleinen Finger in den Mund und langgezogen schrillte ein lauter Ton über das Meer.
Es war das Geschrei des Regenpfeifers.
Sekunden vergingen, dann, während der Knabe atemlos, mit klopfendem Herzen lauschte, erklang aus ziemlicher Nähe derselbe Ton, nur anhaltender, durchdringender, als befinde sich das Tier in großer Aufregung.
Der Knabe lächelte. Jetzt veränderte er seine Stimme. Das eintönige, ermüdende Geschrei der kleinen Möwe erfüllte die Finsternis.
Es blieb unbeantwortet, aber statt jedes anderen Zeichens erschien auf dem Wasser ein rotes Licht, das eine Schanzkleidung und die nächsten Segel und Taue der Takelage beleuchtete. Das Gesicht eines älteren Mannes sah ängstlich über Bord.
»Onnen«, sagte eine Stimme, »Onnen, bist du es?«
»Allstunds, Vater!« war die Antwort. »Nehmt mich an Deck!«
Die Schaluppe legte back und das Fallreep wurde herabgelassen, während der junge Mensch sein Boot mittels einiger geschickter Ruderschläge unter den Stern brachte. Es an das Fahrzeug zu befestigen war Sache einer halben Minute, dann kletterte er wie eine Katze zum Deck hinauf.
Wenigstens zehn Männer empfingen ihn; sein Vater, der Kapitän des Schiffes, streckte ihm beide Hände entgegen.
»Um Himmels willen, Onnen, was tust du hier?« »Bringst sicherlich böse Botschaft, nicht wahr?«
»Nur heraus damit, Junge, was ist geschehen?«
Es war ein eigentümliches Bild, das sich jetzt den Blicken des Knaben darbot. Überall an Deck standen und lagen Kaufmannsgüter jeder Art, Zuckerhüte, Kaffeesäcke, Tranfässer, Teekisten und unzählige Ballen Tabak. Zwischen diesen Gegenständen drängten sich Männer mit unruhigen, erwartungsvollen Gesichtern, während nur eine einzige kleine rote Lampe die ganze Szene mit ihrem rubinfarbenen Schimmer notdürftig erhellte.
Onnen sah in diesem Augenblick sehr ernst aus. »Ich bringe wirklich schlimme Kunde«, sagte er, »sehr schlimme. Die Insel hat heute Abend eine französische Besatzung erhalten.« »Landmilitär? – Gott verderbe die Elenden!« »Ja, es ist eine Kompanie des in Norden liegenden Regimentes unter Oberst Jouffrin, den sie dort den Schinder nennen.« Klaus Visser, der Kapitän, schüttelte den Kopf. »Bös genug, wenn wir jetzt auch noch eine Besatzung durchfüttern müssen«, sagte er, »aber bei alledem sehe ich nicht ein, weshalb du dich in dem kleinen Boote auf das Meer hinauswagtest, mein Junge. Die Kanonenboote mussten dir ja doch den Weg versperren.« Onnen lachte belustigt. »Ich bin unter dem Bug der ›Hortense‹ hindurchgefahren – die Kerle haben mir auch eine Kugel über den Kopf weggeschossen.«
»Herrgott, Kind!«
»Schadet ja nicht, Vater! Ich musste euch um jeden Preis warnen; seht, ihr könnt die Waren auf keinen Fall in das Dorf bringen – überall stehen Wachtposten.«
Diese Nachricht fiel wie ein Stein auf die Herzen der Männer; ein lähmendes Schweigen folgte den Worten des Knaben.
»Ganz umstellt ist das Dorf?« fragte endlich der Kapitän.
»Ganz umstellt.«
»Und wo haben die Franzosen Quartier genommen?«
»Im Badehause. Das ganze Dorf ist auf den Beinen – dreihundert Betten mussten noch vor Abend abgeliefert werden, sechshundert Handtücher, Kochgeräte, Stroh, Brennmaterial – der alte Amtsvogt war so außer sich, dass er weinte.«
»Und er hat dich zu uns geschickt, Onnen, mein Junge?«
»Nein, Vater, ich schlich mich heimlich fort, als die Wachtposten alle Straßen besetzten. Die ›Taube‹ muss gewendet werden und bis zur Wattgrenze gehen, – dann bringen wir in meinem Boot die Waren aufs Land und in die Dünen.«
»Wo der nächste Regen alles verdirbt! – das gibt möglicherweise einen Schaden von Tausenden.«
»Ihr müsst Fischernetze darüber legen, alte Segel und dergleichen. Es ist ja doch alles bestimmt, um über das Watt nach Hilgenriedersiel und von dort in das Binnenland zu wandern, nicht wahr?« »Bis auf das, was wir hier an Ort und Stelle brauchen, ja. Kornelius Houtrouv in Emden hat die ganze Ladung der ›Queen Elizabeth‹ gekauft, sie liegt auf Baltrum sicher geborgen – und nun müssen uns die Franzosen den Weg abschneiden.« »Der Teufel hole sie alle!«
Wieder folgte ein längeres Schweigen, dann sagte endlich der Kapitän: »Nun, Kinder, wir müssen uns ruhig fügen, das geht nicht anders. Ehe der neue Tag beginnt, sollen die Waren sicher versteckt sein, das bedenkt.«
Niemand antwortete ihm, aber mehrere Hände griffen zu, als er die Schaluppe zu wenden begann; eine Stunde später lag sie unweit jener Stelle, an der heute der Leuchtturm steht und die damals ganz öde, ganz verlassen war, nur von Seehunden und großen Seevögeln bewohnt.
Die schwierige Arbeit der Ausschiffung nahm ihren Anfang. Das Boot brachte Fass, Ballen auf Ballen auf den festen Saugsand des Watts, dann trugen die Schmuggler mit vereinten Kräften alles hinein in das unwegsame Gewirre der Dünen.
Wer jemals auf Norderney seinen Weg über das mittlere Innere der Insel nahm, wer halb fallend, halb gleitend, immer sprungbereit, immer treulos verlassen von dem vermeintlich festen Boden unter seinen Füßen atemlos vorwärts keuchte, nicht selten der Länge nach in den Sand fallend – der kennt die Riesenarbeit, welche jetzt von den verwegenen Schmugglern vollführt wurde.
Es gab ein Tal, von hohen Wänden umschattet, ein tiefes Tal, zu dem der Pfad durch losen Flugsand führte – dahin brachten die Männer ihr Eigentum. Der nächste Windstoß verwischte die Spur; es war unmöglich, das Nest zu entdecken.
Blitz folgte auf Blitz, ein Donnerschlag dem andern; später prasselte auch der Regen herab. »Gott sorgt für Beleuchtung«, meinte der Kapitän. »Hurtig, Kameraden, jetzt ist die Sache bald getan.« Der Sturm wirbelte ganze Wolken von Sand empor, donnernd und brausend schlug das Meer an seine Ufer; nun brach der Aufruhr der Elemente los, dass es fast unmöglich wurde, sich überhaupt aufrecht zu halten.
Alle verfügbaren Fischernetze waren mitgebracht und über die besseren Waren gedeckt worden; eine Schicht Sand verhüllte zuletzt alles bis zur gänzlichen Unerkennbarkeit. Die Taschenuhr des Kapitäns zeigte auf zwei, als der Heimweg angetreten werden konnte.
Jetzt zu Fuß; die »Taube« hatten einige der Verbündeten an ihren Ankerplatz gebracht und waren dann wieder zu den übrigen gestoßen.
Der Weg von der äußersten Landspitze der Insel bis in das Dorf, vorüber an Dünen und immer wieder Dünen, der lange, ermüdende Weg war damals dasselbe, was er heute noch ist, aber von der Bootsbauerei und der Windmühle stand kein Stein, es gab vielmehr an diesem so einsamen, so todstillen Orte nur eine einzige halbverfallene niedere Bretterhütte, die ehemals von den Fischern als Aufbewahrungsort für allerlei Geräte benutzt worden war und die man dann einer krüppelhaften uralten Frau aus dem Dorfe als Wohnsitz überlassen hatte.
Die alte Aheltje wurde von den Bewohnern Norderneys sorgfältig gemieden, es ging die Rede, dass sie hexen könne, dass es überhaupt mit ihr nicht so recht geheuer sei, weshalb man denn sehr froh war, sich ihrer in dieser Weise entledigen zu können. Die alte Frau lebte von dem, was an jedem Tage zweimal die zurückweichende Flut auf dem Sande übrig ließ und was so viele Geschöpfe, Menschen und Tiere jahraus, jahrein ernährt – Fische, Taschenkrebse und Muscheln, daneben alle jene Geschöpfe, welche in trockenem Zustande von den damals schon seit einigen Jahren die Insel besuchenden Badegästen gekauft und gut bezahlt wurden: Seeigel, Drachen und Teufel, die hübschen Seesterne und die feinen zierlichen Algen.
Zuweilen humpelte Aheltje in das Dorf und brachte den Händlern ihre Beute, dann gab es Geld und die Alte konnte ein Stück Fleisch kaufen, nicht für sich selbst, sondern für einen großen grauen Kater, das einzige Wesen, welches sie liebte, dem ihr einsames verarmtes Herz warm entgegenschlug und das sie auch auf jedem solchen Wege wie ein Schatten, geräuschlos schleichend, begleitete.
Gleich nachdem links der heute noch gebräuchliche Ankerplatz der Schaluppen passiert war, kam zwischen zwei bewachsenen Dünen die Hütte der Hexe zum Vorschein; Onnen sah zuerst, dass aus dem einzigen halbzerbrochenen Fenster noch Licht hervorschimmerte.
»Aheltje wacht bereits«, sagte er.
In diesem Augenblick legte plötzlich der Kapitän die Hand auf seines Begleiters Schulter; ein stummer Wink genügte, um diesen und alle übrigen zu verständigen.
In der Entfernung von kaum fünfzig Schritten stand ein in seinen Mantel gehüllter französischer Wachtposten. »Still! – Um Gottes willen, keinen Laut.« Sie schlichen alle ohne weitere Verabredung nach rechts, so nahe wie möglich an die Dünen heran, um abermals diesen beschwerlichen Weg zu verfolgen, da ihnen jetzt für die letzte Strecke bis zum Dorfe der offene Strand verschlossen blieb. Ihrer neun kletterten sie, ermüdet und durchnässt bis auf die Haut, von Klippe zu Klippe, hart an der Hütte der Hexe vorüber.
Rings herrschte das Dämmerlicht des beginnenden Frühlingsmorgens. Grau und trostlos lehnte halbzerfallen das Bretterhaus an den Sandmauern, auf dem schiefen Dache wuchs Dünengras und Moos, die Tür knarrte in ihren verrosteten Angeln, so oft der Wind mit donnernder Gewalt an dem morschen Bau zu rütteln begann.
Onnen legte den Finger auf die Lippen. »Stimmen!« flüsterte er. »Aheltje hat Besuch.«
Der Kapitän schüttelte den Kopf. »Das kümmert uns nicht. Junge. Wir müssen so schnell wie möglich vorübergehen.« Onnen horchte noch immer. »Da wurde eben dein Name genannt, Vater – und Eurer, Heye Wessel – es ist Peter Witt, der da drinnen spricht.«
»Alle Teufel – der französische Spürhund!«
»Aber was will er bei der alten Strandläuferin?«
Sie umringten nun, für den französischen Wachtposten unsichtbar, die Bretterhütte; der Kapitän und noch ein anderer gewannen durch das zerbrochene Fenster einen Blick in das Innere dieser trostlosen Behausung, und was sie entdeckten, war nicht geeignet, ihre einmal erwachte Unruhe wieder zu entkräften. Auf einem niederen Holzschemel saß die alte Aheltje und hielt in ihrer Rechten eine Anzahl zerrissener, fast schwarzer Spielkarten; neben ihr stand ein Mann von etwa fünfundvierzig Jahren, groß und stattlich, in städtischer Kleidung, mit einem blitzenden Ordensstern auf der Brust – er sah aus, als sei ihm etwas Unangenehmes gesagt worden. »Dummes Zeug, alte Hexe, lauter Unsinn – ich bin ein reicher Mann, schwer reich sogar, ich besitze die Gunst Seiner Majestät des Kaisers, das siehst du wohl an diesem Orden! was könnte mir also geschehen?«
Die Strandläuferin wiegte den Kopf. »Hier steht es, Peter Witt, die Karten kümmern sich nicht um arm oder reich! Du musst durch Blut und Tränen gehen, du musst leiden, leiden – anderes kann ich dir nicht berichten.«
Der Mann schnippte mit den Fingern. »Deine ganze Kunst ist keinen roten Heller wert, Alte – wer hat dich denn um meine Zukunft befragt, he? Du sollst mir einzig und allein sagen, ob es gelingen wird, Klaus Visser und seine Genossen bei ihren Schmugglerfahrten zu ertappen, so dass man sie anzeigen könnte. Weiter will ich nichts wissen.«
Die Strandläuferin klappte ihre Karten zusammen. »Dann erkundige dich bei Leuten, die dir darauf einen sicheren Bescheid geben können, Peter Witt. Ich halte den Kapitän für einen Ehrenmann, für einen Ostfriesen vom alten tüchtigen Schlage, er wird wissen, was erlaubt ist und was nicht. Wolltest du ihn etwa den Franzosen in die Hände liefern, Mann?«
Peter Witt lachte. »Natürlich, Alte. Sieh nur, da auf meiner Brust ist noch Raum für mehr als einen Orden.«
Aheltje schüttelte verächtlich den Kopf. »Solch ein buntes Ding – ein Spielzeug! Und dafür wollte ein Norderneyer Kind das andere ins Verderben stürzen? Pfui!«
Der Mann schlug mit der Faust auf den Tisch. »Potz Blitz, Alte, nimm dich in acht!« rief er erbost. »Ich bin hier auf der Insel der reichste Mann!«
»Und ein Strohkopf dazu, Peter Witt, das lass dir gesagt sein. Mich kannst du nicht schrecken, die Gemeindevorsteher haben mir dies Haus zinsfrei überlassen, solange ich lebe – und den weiten offenen Strand mit seinen Gaben schenkt mir Gott; weiter als das ist nichts auf Erden mein eigen. Und nun geh, Peter Witt – ich will hinaus, mir im Freien mein Frühstück zu sammeln.«
Der Mann schoss einen giftigen Blick. »Stehst wohl auch mit den Schmugglern in Verbindung, Hexe, was? Spionierst für sie, machst Gelegenheit, he? – Wahre deinen Kopf, die Herren Franzosen pflegen sich nicht lange bei der Vorrede aufzuhalten.«
Mit diesen zornigen Worten öffnete er plötzlich die Tür und trat hinaus ins Freie, dem Kapitän gerade entgegen. Ein halberstickter Schreckensschrei brach über seine Lippen, er taumelte einige Schritte zurück. »Klaus Visser!« sagte er stammelnd.
Der Fischer nickte. »Morgen, Witt. Lass dich nicht stören, Mann.«
Der Überraschte rang noch immer mit dem ersten heftigen Erschrecken. »Was tut ihr denn sämtlich so früh hier draußen?« fragte er hämisch.
Der Kapitän sah ihm fest und offen ins Auge. »Wollen uns wahrsagen lassen, Peter Witt, wollen Aheltjes Karten befragen, wann endlich auf Norderney alle Schufte und Vaterlandsverräter an den Galgen kommen!«
Das Gesicht Peter Witts wurde fahl. »Spaß!« brachte er mühsam hervor.
»Du wirst den bitteren Ernst früh genug kennenlernen, Witt. – Adjes für diesmal!«
Er zog ein Geldstück aus der Tasche, um es dem alten Weibe in den Schoß zu werfen, dann gingen alle über die Fläche, welche heute das Ruppertsburger Gehölz umschließt, durch die Gegend der Winterstraße und der jetzt so eleganten vornehm-ruhigen Bismarckstraße in das Dorf hinab, jeder einzelne im Herzen beunruhigt und unangenehm berührt von dem lauernden, boshaften Blick des Franzosenfreundes. Noch wusste er offenbar nichts, aber er spionierte, und es galt der nahenden Gefahr gegenüber auf der Hut zu sein.
Stumm teilten sich nach kurzer Wanderung die Genossen des nächtlichen Zuges. Hier verschwand im Morgengrauen hinter einer niederen Tür der eine, dort der andere, zuletzt Kapitän Visser und sein Sohn, die in der Campstraße wohnten.
Hinter den verhüllten Fenstern der Fischerhütte glänzte noch Licht. Von den sechs- bis siebenhundert Menschen, welche damals das Inseldorf bewohnten, hatte wohl kein einziger während dieser Nacht wirklich geschlafen, am wenigsten aber Frau Douwe, Onnens Mutter, die jetzt weinend, mit ausgebreiteten Annen den beiden Ankömmlingen entgegenging.
»Gottlob, dass ihr da seid, Vater, du und Onnen! Ach, wie habe ich mich geängstigt, als der Kanonenschuss fiel! – Mein Kind, mein einziger Junge!«
Sie schluchzte so heftig, dass sich der Kapitän gerührt fühlte. »Ich hab' mich selbst gehörig erschrocken, als Onnen so unvermutet erschien, Mutter, aber seine Entschlossenheit wurde unsere Rettung. Am Strande stehen französische Wachtposten.« »Ach Gott, sie stehen überall, sie spionieren und schleichen zwischen den Häusern und auf den Straßen. Jetzt ist Norderney verloren.« Der Kapitän lächelte. »Mutter, du redest, als sei dem Herrgott da oben das Weltregiment über Nacht abhanden gekommen und dem übermütigen Korsen als gute Prise zugefallen! – Sei ganz ruhig, auch für ihn steht geschrieben: ›Bis hierher und nicht weiter!‹« In diesem Augenblick trat aus einer anstoßenden Kammer hervor ein Mann in Reisekleidern mit einer Ledertasche, die er über die Schulter gehängt hatte, Geerd Kluin, der Bruder der Frau Douwe und Hausgenosse der kleinen Familie. »Bist wieder da, Onnen«, sagte er nach der ersten Begrüßung, »deine Mutter hat sich schier halb zu Tode geängstigt um dich! – Brr, hier auf Norderney ist's ungemütlich geworden; ich gehe fort.«
»Ganz fort?« fragte der Kapitän.
»Ja, nach Hamburg. Jetzt kommt die Zeit der Lieferungen und Abgaben, der Erpressungen aller Art, da mache ich mich lieber aus dem Staube. Kenne das von Emden und Norden her, schlage den Herren Franzosen beizeiten ein Schnippchen.«
Er lachte, während er behaglich den heißen Kaffee schlürfte. »Zu solchen Zeiten lässt sich gut sein Schäfchen ins Trockene bringen, man muss es nur anzufangen wissen. Ich gehe nach Hamburg, Schwager Klaus, und wenn du klug wärest, so würdest du mich auf der Stelle begleiten!«
Der Kapitän schüttelte den Kopf. »Ich? – Nein, mein guter Geerd, da habe ich doch mein Vaterland zu lieb. Was Norderney bedroht und bedrängt, das soll auch über mich kommen; was die armen Leute des Dorfes zahlen müssen, das will auch ich geben, der mich Gott mit Wohlstand gesegnet hat. Ich bleibe!«
Kluin lächelte. »Jeder nach seiner Weise«, sagte er. »Ich habe mein bisschen Geld – ein paar armselige Sparpfennige – in den Dünen versteckt, da findet es, so lange der Hahn kräht und der Wind weht, kein Mensch. Für den immer hungrigen Säckel des französischen Eroberers war mir's zu schade.«
Der Kapitän dampfte große Wolken. »Sind vielleicht hundert Familienväter auf Norderney, Kluin«, versetzte er nach einer Pause, »hundert oder noch weniger, die müssen unter sich alle Lasten und Leiden des Krieges, soweit es die Insel betrifft, teilen! – Du bist der Reichsten einer – still, still, ich weiß, was ich sage, wenn dir auch noch so viel daran liegt, für arm zu gelten! – Glaubst du denn da, dass es anständig gehandelt ist, in der Stunde der Gefahr auf und davon zu gehen? – Mir war's wahrhaftig, als ließe ich meine Mutter wehrlos in den Händen roher Buben, ich könnt's nimmermehr tun, Schwager Geerd!«
Der andere zuckte die Achseln. »Sehr schön gedacht«, sagte er etwas spöttisch, »ungeheuer edel, aber – für mich zu teuer. Glaubst du nicht, dass die Langfinger bei dir bald genug Moses und die Propheten entdecken werden? Dann heißt es, her damit!« Der Kapitän reckte seine muskulösen Arme. »Lass fahren dahin!« rief er. »Ich kann arbeiten, kann genug verdienen, um drei Menschen zu ernähren – auch das ist Reichtum.«
Draußen klopfte es gegen die verschlossene Haustür. Frau Douwe schrie vor Schreck laut auf, während Onnen hinaussprang und durch das kleine Schiebfenster sah. »Es ist der Vogt, Mutter«, rief er ins Zimmer hinein, »sei nur ganz ruhig.«
Er ließ einen alten, von der Last der Jahre gebeugten Mann eintreten, einen Greis, der sich ächzend auf den nächsten Stuhl warf. »Grüß Gott miteinander! – O Kinder, welch eine Zeit!« Frau Douwe wollte ihm eine der bunten, rot und blau bemalten Tassen mit Kaffee füllen, aber er wehrte ihr sogleich. »Die Franzosen sind immer hinter mir drein, Nachbarin, hier soll ich sein und da, dies bewerkstelligen und das. Ach, großer Gott, es ist nicht zum Aushalten.«
Er trocknete den Schweiß von der Stirn und entfaltete dann ein Blatt Papier. »Sieh her, Visser, da steht's geschrieben – sobald ein Trommelzeichen gegeben wird, haben sich alle Männer des Dorfes vor dem Badehause einzufinden. Etwa um sieben Uhr früh soll die erste Ansprache stattfinden.«
»Heute?« fragte der Kapitän.
»Gewiss. Gleich, sage ich dir, jetzt! – Adjes! Adjes, ich muss überall Bescheid bringen.«
Er schüttelte bekümmert den Freunden die Hand und eilte weiter, um als lebende Zeitung die Hiobspost von Tür zu Tür zu tragen. Geerd Kluin erhob sich und sah seinen Schwager bedeutsam an. »Du hörst nun, was sich vorbereitet, Visser – sei vernünftig, Mann, geh mit nach Hamburg, so lange es Zeit ist.«
Der Kapitän lächelte. »Nimmermehr!« versetzte er. »Ich bleibe, ich will stehen und fallen für meine Heimat – der Ostfriese wankt nicht und trügt nicht!«
Kluin umarmte seine Schwester und seinen Neffen, dann drückte er die Hand des eigensinnigen Schwagers. »Lebt wohl, ihr alle. Hoffentlich sehen wir uns wieder zur guten Stunde, wenn der Franzmann aus dem Lande geprügelt ist.«
Er ging, begleitet von den Seinigen, um sich an Bord eines nach Leer oder Emden fahrenden Schiffes zu begeben. Die Sonne schien jetzt schon hell vom Himmel; der Kapitän winkte nochmals dem Scheidenden, dann trat er in das kleine saubere Gemach zurück und breitete beide Arme aus. »Komm her, Mutter, und auch du, Onnen! Euch liebe ich zuerst und zunächst, aber danach meine Heimat. Gerade weil sie arm und klein ist, eine verlassene Sandscholle im weiten Meer, gerade darum liebe ich sie. Was meinst du, Onnen, wollen wir beide in Hamburg müßig zusehen, wenn hier unsere Brüder ringen und leiden?«
Die Augen des Knaben glänzten hell. »Nein, liebster Vater, nein, das verhüte Gott! Wir teilen alles, Gutes und Schlimmes.«
Der Kapitän nickte. »Das denke ich auch. ›Alle Mann auf!‹ – Ein Fuchs oder eine Memme, wer das Kommando hört und nicht folgt.«
In diesem Augenblick ertönte draußen ein Geräusch, Onnen horchte auf. »Trommelwirbel!« rief er, »du musst hin, Vater!« »Und du mit, Junge! Bist konfirmiert, stellst schon deinen Mann; lass dir nur die durchwachte Nacht nicht ansehen, hörst du.«
Frau Douwe weinte. »Die Unruhe bringt mich noch um«, schluchzte sie.
»So geh mit, Alte!« sagte lächelnd der Kapitän. »Wirst ja noch immer ein wenig frische Luft schöpfen dürfen, wenn auch die Insel eine französische Besatzung erhalten hat! – Den Kopf auf, Mutter! Die in Emden und Leer sind ja auch nicht gleich mit Haut und Haar verschlungen worden – wir kommen schon lebendig hindurch!«
Er hatte in aller Eile den Anzug gewechselt, ebenso Onnen, dann gingen die beiden bis zu dem Platze, auf welchem heute das neue Badehaus und die Anlagen stehen.
Die Franzosen waren in Reih und Glied aufmarschiert, Oberst Jouffrin mit seinen Offizieren ging vor der Front auf und ab und im weiten Halbkreis sammelten sich die Bewohner der Insel, alle in ihrem Fischeranzuge, mit dem »Stummel« zwischen den Zähnen, und alle schweigsam, als sei es eine Leichenfeier, die hier vorbereitet werde.
Ein schlimmes Zeichen für jeden, der die harmlosen norddeutschen Seeleute und ihre Vorliebe für einen guten Spaß auch nur einigermaßen kennt.
Der Vogt mit seinem Angstgesicht lugte auch hier aus der Menge hervor; ein Schreiber vom Amt in Norden stand neben dem vortragenden Offizier, und nun wurde folgendes Schriftstück in französischer Sprache verlesen und von dem Dolmetscher übersetzt.
»Proklamation!
Seine Majestät der Kaiser geruhen allergnädigst zu befehlen wie folgt: Die Insel Norderney bekommt eine Besatzung, welche aus den Mitteln der Einwohner erhalten werden muss und wofür die Lieferungen demnächst ausgeschrieben werden sollen. Den Herren Offizieren werden Tafelgelder gezahlt, zu deren Beschaffung aus dem Vermögen der Eingesessenen eine Schätzung von Seiten des Herrn Obersten Jouffrin zu erfolgen hat. Wer sich dieser Zahlung entzieht, erhält sogleich doppelte oder vierfache Einquartierung; wer gegen die jetzt verlesenen Anordnungen irgendwie öffentlich auftritt oder rebelliert, wer gegen die Ausführung derselben irgendwelche Schritte unternimmt, wird mit der Strafe der Auspeitschung bedroht.«
Der Schreiber stockte. Bei den letzten entehrenden Worten überzog fahle Blässe sein Gesicht; des Vaterlandes bittere furchtbare Schmach schien ihn zu ersticken. –
Ringsumher war alles so todesstill, dass das Summen der Mücken in der Luft deutlich hörbar wurde.
Oberst Jouffrin hob den Kopf. »Vite! Vite!« (Schnell! Schnell!) rief er ungeduldig.
Der Schreiber fuhr mit der Hand über die Stirn. »Ferner wird verfügt«, las er weiter, »dass zum Zweck einer gänzlichen Vernichtung englischer Waren die öffentliche Verbrennung derselben ungesäumt stattzufinden hat. Wer derartige Gegenstände besitzt, soll sie hierher abliefern; wer ihr Vorhandensein verschweigt, sie versteckt oder in irgendeiner Weise hinterzieht, wird mit denselben Strafen belegt, welche auf schweren Diebstahl stehen. Die Ablieferung der Waren hat sogleich zu erfolgen.« Der Offizier schlug das Blatt zusammen; jetzt zum ersten Mal sah der Amtsschreiber seinen Landsleuten offen ins Gesicht. »Swigt still, Lüüd!« sagt er in ermahnendem bittenden Tone, »swigt um Gott'swillen still!«
Die lauernden Blicke des Obersten trafen ihn sofort. »Was war das?« rief er. »Was hatten Sie hinzuzufügen?« Der Schreiber blieb durchaus gelassen. »Ich forderte die Leute auf, jetzt ruhig auseinanderzugehen«, sagte er mit lauter Stimme. Dieser Ermahnung ward auch sogleich Folge gegeben, obwohl einzelne der erbitterten Bewohner die Hände rangen und sich wie Verzweifelte gebärdeten. Dieser handelte während des Sommers mit ein wenig Kaffee, Tee oder Gewürz, jener mit Kinderspielzeugen, der dritte mit Kurzwaren u. dergl. Jetzt sollte das alles verbrannt werden.
Verbrannt! Vernichtet! Die kleine Habe des Armen, all sein Gut, seine Hoffnung, das Brot seiner unschuldigen Kinder – die Franzosen zwangen ihn, es in das Feuer zu werfen, es der Zerstörung preiszugeben. In alle Häuser verteilten sich die Soldaten, überallhin drangen ihre spähenden Blicke, ihre dreisten Finger. Sie sahen in die Schränke und Schubladen, sie krochen in Böden und Ställe, sie untersuchten die Taschen der Bewohner.
Jedes Stück Zucker, jedes bisschen Kaffee oder Tee wurde auf den Scheiterhaufen geschleppt oder von den Soldaten für gute Prise erklärt. Holz und Stroh kam hinzu – höher und höher wurde der Berg.
Männerfäuste ballten sich verstohlen, aus Männeraugen quoll die brennende Träne. Väter zeigten ihren Söhnen, was der korsikanische Tyrann gegen Deutschland auszuüben wagte – sie flüsterten ihnen zu von der Schuld, der ungeheuren, vermessenen, und von dem Tage der Vergeltung, die einst in späterer Zeit kommen müsse und werde.
Nur einzelne klagten laut, die meisten schwiegen, um nicht immer ärgeres Übel heraufzubeschwören. Von fern umstanden die Beraubten den Scheiterhaufen; es war, als könne sich keiner trennen von dem, was noch vor wenigen Stunden den Mittelpunkt aller seiner Interessen bildete, die Welt, in der er lebte, dachte und arbeitete.
Zu Hause alles leer – und hier die mühsam erworbenen Handelsartikel der Vernichtung preisgegeben. Wer mochte es glauben? Wer fasste das Schreckliche?
Die Weiber jammerten, sie warfen sich im Übermaß des Kummers den französischen Offizieren zu Füßen. »Erbarmen, Erbarmen! Wir hatten nichts weiter als nur diesen kleinen armen Besitz – woher sollen wir Brot nehmen für unsere Kinder?«
Niemand hörte sie, niemand achtete ihrer.
Und doch gab es einen Schmerz, eine Klage, vor denen jede andere Stimme schwieg.
Von Gruppe zu Gruppe ging ein bleiches Weib mit hohlen vergrämten Augen und gefalteten Händen; jeden der Männer redete es an im herzzerreißenden Tone des Wehes.
»Habt ihr mein Kind nicht gesehen, Leute, meinen armen Knaben? – Seit vier Tagen ist er verschwunden, mein einziger! Sah ihn keiner? Ihr fahrt nach Baltrum und Juist, nach Norddeich und Hilgenriedersiel, seid ihr nirgends seinem Boote begegnet?«
Ein Kopfschütteln, wohin sich die Unglückliche wandte. Arme Wiebke Raß! Sie hatte doch mehr verloren als alle die, deren Eigentum da auf dem Scheiterhaufen lag.
Jetzt schlug einer der Franzosen Feuer, dann hielt er den brennenden Schwamm gegen die nächste Pappschachtel, in der Bänder und Spitzen lagen.
Es züngelte rot und leuchtend aus der Mitte der trockenen, leicht entzündbaren Gegenstände hervor – der Scheiterhaufen brannte.
»Jesus! Jesus! – Meine Sachen!«
»O Nachbarin, Nachbarin, es ist doch nicht Euer Kind, Euer Fleisch und Blut! – Möchten die Franzosen meine Hütte nehmen, alles was ich besitze, und mir dafür den Knaben wiedergeben – mit nackten Füßen wollt' ich davongehen!«
Die beiden Frauen standen händeringend da; die, deren kleinen Kram man verbrannte, schluchzend, außer sich, die andere tränenlos, dem Irrsinn nahe. Umsonst bemühten sich mitleidige Menschen, sie zu trösten, Wiebke Raß schüttelte nur ruhig den Kopf. »Lasst das, Leute, lasst das, mir hilft nichts auf Erden mehr.«
Von der Seite des jetzigen Anlegeplatzes her kam ein Laufen und Rufen, eine Unruhe, die sich von Person zu Person fortpflanzte. Zwei Männer trugen eine Bahre, sie schienen den Weg rechts ab zum Dorfe nehmen zu wollen und widersprachen, als einige der Leute auf die vor dem Feuer Versammelten hindeuteten.
Die Franzosen hatten alles gesehen; ohne Zaudern trieben sie die beiden Fischer mit Kolbenstößen vor sich her bis zum Scheiterhaufen. Was da auf der Bahre lag, das sollte dem allgemeinen Schicksal des Verbrennens nicht entgehen.
Ein kecker Griff riss das Segeltuch herab – dann taumelte der Franzose, als habe ihn eine unsichtbare Faust gepackt »Diable!« rief er stammelnd.
Durch die Menge ging ein Schrei des Entsetzens.
Auf der Bahre lag die Leiche eines vierzehnjährigen Knaben, entstellt und von schrecklichem Aussehen, mit durchschossener Brust. An der linken Seite klaffte eine tiefe Wunde, der Arm hing lose und zerschmettert herab.
»Kornelius Raß!« ging es von Mund zu Mund. »Ach, die arme Mutter!«
Und nun hatte auch das blasse unglückselige Weib die Bahre gesehen. Ihre Arme hoben sich langsam zum Himmel empor, sie sprach keine Silbe, das Entsetzen schien ihre Zunge gelähmt zu haben.
Hellauf loderten die Flammen, der Wind fuhr hinein und fachte sie an, ein Funkenregen hob sich spielend in die Luft, knisternd stäubte weiße Asche.
Im weiten Halbkreis standen die Fischer und Schiffer, alle stumm, ihre kurzen Pfeifen jetzt in den Händen haltend. Da lag das schuldlose Kind mit der französischen Kugel im Herzen, purpurn überstrahlt von den Gluten, die Hab und Gut der Einwohner fraßen – es war, als verklagten die erhobenen Arme der beraubten Mutter jenen Gewaltherrscher, dem die Welt erschaffen schien zum Spielball seiner maßlosen Laune.
Immer mehr näherte sich Wiebke Raß der Bahre, dann ließ sie sich auf ihre Knie nieder und legte die Hand auf des Knaben Wunde – leise, wie schützend, voll zärtlicher Sorgfalt. Über ihre Lippen kam ein Wimmern, das furchtbarer, erschütternder klang, als selbst der lauteste Verzweiflungsschrei.
Niemand dachte mehr an die brennenden Sachen, in aller Augen glänzten Tränen, alle Herzen fühlten mit der unglücklichen Mutter den Jammer dieser Stunde, selbst die Franzosen schienen ergriffen.
»Es soll eine Untersuchung eingeleitet werden«, sagte schaudernd der Oberst. »Bringt die Leiche fort, Leute – schnell, schnell!«
Ein paar Fischer näherten sich der armen Frau, sie führten sie mit sanfter Gewalt von der Bahre nach Hause. Hier half kein Trösten, kein Zureden, das Übermaß des Schmerzes musste sich Bahn brechen, bevor die Wunde langsam zu heilen vermochte.
Noch flüsterten die Leute, noch standen die einzelnen Gruppen händeringend beisammen, da nahte vom Dorfe her eine halbgelähmte Greisin, die einen flachen Korb mit Putzartikeln herbeitrug, bescheidene Bänder und Tücher, Kinderschürzen, Kragen, ein paar Fingerhüte, Nähnadeln und Scheren. Sie sah immer nach allen Seiten, und als ihre Blicke das Feuer trafen, da stand sie erschreckend still – ein Schrei von den Lippen der armen Alten lenkte die Aufmerksamkeit der französischen Zollwächter auf ihren Korb.
»Hallo!« rief einer, »englische Ware – her damit!« Die Alte schüttelte den Kopf. »Ich kann es ja doch nicht! Mein ein und mein alles – erst gestern Abend ist mir mein einziges Bett genommen worden! Lieber Gott, was soll ich unglückliche Frau anfangen?«
»Her damit! Her damit!« schrie der Franzose.
Die alte Frau schien in Verzweiflung zu fallen. »Helft mir doch, Landsleute«, rief sie mit bebender Stimme. »Da in dem Korbe stecken zwanzig Taler – all mein Vermögen! – wenn mir's geraubt wird, gehen!«
»Diable m'emporte! (Hol mich der Teufel!) was zetert die Hexe?«
Der Franzose näherte sich mit gezücktem Säbel der schreienden Frau und würde sie vielleicht im selben Augenblick verwundet haben, wenn nicht Kapitän Visser zwischen beide gesprungen wäre. Seine sehnige Gestalt war hoch aufgerichtet, sein Auge blitzte, er schob mit unwiderstehlicher Gewalt den Soldaten beiseite und nahm zugleich den Korb der alten Frau, um ihn mittels eines einzigen Ruckes auf den Scheiterhaufen zu schleudern.
Funken und Flammen schlugen hoch empor – die arme Händlerin schrie laut auf.
»Sei ruhig, Folke Eils«, tröstete der Kapitän, »du musst eben der Gewalt weichen wie wir alle. Mit deinem bunten Kram kannst du jetzt nicht handeln, denn die Franzosen würden ihn für englische Ware ansehen, gleichviel woher du die Sachen genommen hättest; aber deine zwanzig Taler will ich dir wiedergeben und außerdem wird Mutter Douwe auch ein Bett für dich in deine Hütte schaffen. Komm jeden Tag und iss mit uns, was Gott beschert, es soll dir von Herzen vergönnt sein.«
Die Alte schluchzte halb vor Freude, halb vor Angst. Ringsumher erhob sich ein Murmeln des Beifalls, nur Oberst Jouffrin, der Kommandeur der französischen Soldaten, schien die Sache sehr übel aufgenommen zu haben. Er strich wütend den schwarzen Schnurrbart und pflanzte sich gerade vor den ihn um Kopfeslänge überragenden Kapitän auf.
»Kewalt?« schrie er. »Aben Sie sagen: Kewalt?«
»Ja!« antwortete mit festem Tone der Seemann. »Das habe ich gesagt, Herr Oberst. Es ist ein Akt der Gewalt, nicht des Rechtes, armen Leuten ihr Eigentum zu nehmen und es zu verbrennen. Wünschen Sie sonst noch etwas!«
»Rebell!« schrie der Franzose. »Chien!«
Er griff an den Degen, zögerte aber doch, ihn zu ziehen. Dichter und dichter hatten sich die Fischer um den Kapitän geschart, sie murrten, sie ballten die Fäuste – noch einen einzigen Schritt weiter und der Tumult wäre ausgebrochen.
Oberst Jouffrin sah es und trieb es klugerweise nicht weiter. Sich abwendend, sprach er einige Worte mit seinem Adjutanten, der darauf den Leuten befahl, jetzt sogleich auseinanderzugehen. »Dieser Platz ist fernerhin nur dann zu betreten«, hieß es, »wenn irgendeine Proklamation erfolgen soll. Ungerufen darf niemand kommen.«
Die Fischer entfernten sich langsam, einer nach dem andern bot dem Kapitän treuherzig die Hand. »Wenn du es nur nicht noch büßen musst, Visser! Der Franzose sah dich so giftig an.« Der Seemann lachte. »Sie wissen, dass meine ›Taube‹ in ihrem Schnabel allerlei Waren nach Norderney trägt, mein Junge, und sie ärgern sich, dass sie ihnen niemals zu Schuss kommt.«
»Beschrei dein gutes Glück doch lieber nicht, Visser!«
»Pah, die ›Taube‹ wird noch in den nächsten Tagen nach Baltrum fliegen und dort allerlei aufpicken, was hier in den Häusern fehlt – Zucker, Tabak und Kaffee.«
Sie nickten einander zu, mühsam durch den tiefen Sand watend. Gepflasterte Straßen hat Norderney bekanntlich auch heute noch nicht, damals aber fehlten selbst die Bürgersteige aus Ziegelsteinen, die kleinen Gärten und Rasenflecke, während Pferde und Esel, Kühe, Schweine und Hühner nach Belieben herumliefen, um sich im Dorfe oder auf den Dünen das unentbehrlichste Futter zusammen zu scharren.
Als der Kapitän mit seinem Sohne nach Hause kam, saß die alte Folke Eils schon da, um sich nach Herzenslust auszuweinen, es nahten aber von der andern Seite her noch sonstige Gäste, der Oberst Jouffrin in eigener Person, begleitet von fünf Soldaten, die ohne Gruß oder Frage in das Zimmer gingen und jedes Stück vorn Platze rückten, jeden Gegenstand herabwarfen, umkehrten oder auseinandernahmen.
Sie drängten sich alle zugleich in den engen Raum; dabei wurde hier eine Fensterscheibe zerstoßen, dort der Spiegel oder die Tür des Glasschrankes. Binnen wenigen Minuten glich das saubere Zimmer einem Schutthaufen, selbst Hund und Katze hatten Fußtritte erhalten, die blühenden Topfgewächse waren zerrissen und geknickt.
Der Kapitän beherrschte mit den Augen seine Frau und seinen Sohn. Oberst Jouffrin sollte nicht die Genugtuung haben, ein Glied der kleinen Familie verhaften zu dürfen, er wollte ihn vielmehr in den Augen der Soldaten empfindlich demütigen.
»Da, Folke Eils«, sagte er, ruhig der alten Frau eine Handvoll Taler reichend, »da sind die zwanzig. Und das Bett bringt dir mein Junge herüber.«
»Gewiss!« rief Onnen. »Komm her, Mutter Eils, da hast du, was meine Sparbüchse vermag. Nun weine nicht mehr!«
Der Oberst und seine Leute mussten abziehen, ohne auch nur eine Kaffeebohne oder ein Reiskorn gefunden zu haben, das steigerte ihre Wut auf das höchste, und zwar aus einem die Menschheit schändenden Grunde.
Einzelnen Personen, Zollbeamten wie Zivilisten, war es nämlich gegen eine Abgabe gestattet, die aufgefundenen Güter der Schmuggler zu behalten und für ein Billiges an die Offizierstische oder die Hofhaltung der französischen Fürsten zu verkaufen; es wurde daher nach unversteuerten Waren gesucht wie nach Vogelnestern; wer sie fand, der machte sich den Vorteil zum Nutzen. Frau Douwe schlug die Hände zusammen. »Klaus, Klaus – das ist doch zu arg! Leben wir denn jetzt unter Räubern?«
Der Kapitän nickte. »Genau genommen, ja. Aber lass dich das nicht anfechten, Frau – es ging wohl schon Besseres verloren als ein paar Fensterscheiben.«
Er suchte nach der durchwachten Nacht womöglich einige Stunden zu schlafen, während Onnen hinausging auf das Watt, um die »Taube« zu scheuern und für ihre nächste Fahrt herzurichten wie immer.
Auch hier traf er Soldaten. Sie hatten die Kajüte erbrochen und den ganzen Raum durchforscht; der Fischkasten lag zerschlagen da – alles Ausbrüche einer gemeinen Rachsucht, die nur den Gegner schädigen will, gleichviel ob mit Recht oder Unrecht.
Onnen sah von einem zum ändern, das Blut schoss ihm heiß ins Gesicht. »Ich denke«, sagte er, »dass die Herren wohl auch den Schlüssel zur Kajüte hätten verlangen können! – Weshalb ist die Tür erbrochen worden?«
Der kommandierende Unteroffizier lachte. »Was kräht das Bürschchen?« rief er höhnisch. »He, was willst du Grünschnabel?«
»Ich frage Sie, weshalb die Tür in meines Vaters Schiff erbrochen wurde?«
»Und nennst uns in deiner Einbildung Räuber und Diebe, nicht wahr? Das sind Beleidigungen! Heda, Meunier und Dubois, bringt ihn zum Amtsvogt!« setzte er hinzu. »Das soll exemplarisch bestraft werden.«
Onnen schlug um sich. »Rührt mich nicht an!« schrie er. »Was wollt ihr Galgengesichter?«
»Bindet ihn!« schrie wütend der Unteroffizier.
Die fünf Männer überwältigten ohne Mühe den wehrlosen Knaben und schleppten ihn fast zur Wohnung des Amtsvogts. Unterwegs gesellten sich Leute zu dem Zuge, der Kapitän wurde geweckt und erschien selbst auf dem Schauplatz der Begebenheiten, auch Oberst Jouffrin kam fluchend und den tiefen Sand verwünschend herbei; mürrisch ließ er sich durch den Unteroffizier Bericht erstatten.
»Der Junge soll zehn Stunden Arrest erhalten, dann mag er laufen. Vogt, Sie sperren ihn, wie es hier üblich ist, in Ihren Keller! Es sind Rebellen, die Vissers, der Vater sowohl wie der Sohn.« Der Kapitän atmete leichter. Also wenigstens keine Prügel!
»Junge«, sagte er, »geh ruhig mit. Weshalb hast du nicht geschwiegen!«
Und dann besänftigte er seine Landsleute. »Wer sein Vaterland liebt, der verhält sich völlig ruhig, Kinder, völlig ruhig. Der Übermacht müssen wir uns ja doch ergeben. Amtsvogt, du bürgst mir für meinen Jungen!«
»Das tu ich, Visser, das tu ich!«
Der Platz um die Amtswohnung dicht unter der Kirche wurde allmählich leer, und nun begann die sonderbare Strafe, welche damals für leichte, besonders knabenhafte Vergehungen auf Norderney üblich war.
Die Kellerfenster der Amtsvogtei wurden geöffnet, um jedem Bewohner des Dorfes das Schauspiel da drinnen vollkommen deutlich zu zeigen. Auf dem Hofe lagen Backsteine, diese musste der arme Sünder in den unterirdischen Raum hinabtragen und davon zwei Säulen oder Strebepfeiler bauen; sobald das geschehen war, legte der Wächter des Gesetzes über beide ein Brett und auf demselben saß dann der Schuldige diejenige Stundenzahl, welche ihm zuerkannt worden war.
Onnen begann halb erbittert, halb lachend die sonderbare Arbeit. Sobald erst einmal auf der Insel alles schlief, würde ihn ja der Vogt entschlüpfen lassen, das wusste er.
Die Steine waren bald hinabgetragen, das Brett folgte nach; heimlich ließ die Frau Amtsvögtin auch einige tüchtige Butterbrote und eine Anzahl gekochter Eier mit in die Finsternis des Kellers wandern, dann schwang sich Onnen auf seinen harten Sitz.
Draußen war die Umgebung wie ausgestorben. Wenn sonst ein junger Bursche im Amtskeller thronte, so hänselten ihn seine Genossen, wodurch ja eben die ganze Sache erst eigentlich zur Strafe wurde, aber heute zeigte sich niemand. Auch die Rohesten wollten den Sohn des geachtetsten Mannes von Norderney nicht verspotten.
Onnen ballte die Fäuste. »Wär' ich ein erwachsener Mann«, dachte er, »auf irgendeine Weise schliche ich mich von hier fort und könnte gegen die Franzosen kämpfen! Ach, fühlten doch alle Deutschen so wie ich – sie hielten zusammen und prügelten den Korsen zum Lande hinaus auf Nimmerwiederkehr!«
Er ließ den Kopf auf die Brust sinken und verschränkte seine Arme. Wenn es ganz dunkel geworden war, konnte er ein wenig schlafen; die Vögtin hatte eben erst stillschweigend eine wahre Sündflut von alten Kartoffelsäcken die Kellertreppe hinabregnen lassen – ein sauberes Leintuch flog hinterdrein, das war genug, um wie ein König darauf zu schlummern.
Schon jetzt schloss er die Augen und fing an zu träumen. Während der vorigen Nacht hatte er, anstatt zu schlafen, gearbeitet und marschiert, dafür packte ihn nun im Dämmerlicht des stillen einsamen Kellers die Ermüdung mit verdoppelter Stärke; er sah schon die Bilder seiner erregten Phantasie, bevor noch Minuten vergangen waren.
An der Spitze einer siegreichen Armee stürmte er vorwärts, und während tausend Schwerter im Sonnenglanz blitzten, tausend Herzen frohlockend im Rausche der wiedererrungenen Freiheit schwelgten, sah er den französischen Kaiser vollen Laufes entfliehen. Damals fanden sich die Bildnisse Napoleons überall, jedes Kind kannte sie – im Traume zeigte Onnen dem Tyrannen seine geballte Faust.
Ein halblautes Kichern ließ ihn plötzlich auffahren. Er sah umher, ein Seufzer der Enttäuschung hob seine Brust. »Nichts!« murmelte er, »nichts! Keine Schlacht!«
Draußen lachte es wieder und Onnen hatte nun sein volles Bewusstsein zurückerlangt.
»Wer ist da?« rief er.
»Dir träumte wohl recht etwas Angenehmes, nicht wahr?«
Onnen zuckte die Achseln. »Du bist's, Adam Witt!« sagte er gleichgültig.
»Ja, ich bin's wirklich. Die Franzosen haben dich erwischt, nicht wahr?«
»Und du möchtest jetzt ein wenig spionieren, möchtest, dass ich mich zu Schmähreden hinreißen ließe, um sie brühwarm zu hinterbringen, nicht wahr?«
»Was du denkst! Ich finde es höchst ergötzlich, dich da so baumeln zu sehen. Eben murmeltest du im Schlafe von gewaltigen Prügeln.«
»Die ich dir aufzählen will, ja. Und jetzt belästige mich nicht weiter.«
Der Sohn des Franzosenfreundes lachte. Er kannte die Faust dessen, den er im Augenblick ungestraft necken durfte; eben um dieser vielen schlimmen Erfahrungen willen freute es ihn, sich heute einmal gehörig rächen zu können.
Sobald Onnen die Augen schloss, weckte er ihn. »Du, die Gefangenen in der Amtsvogtei dürfen nicht schlafen! – Ich werde nun bald mit meinem Vater nach Paris gehen, wollte dir's nur sagen, damit du siehst, wer ich bin und wer du bist! Wir sind reiche Leute, wir haben Geld die Hülle und Fülle – neulich durfte ich mit Vaters Flinte nach einer Möwe schießen – ein Hunderttalerschein war als Kugelpfropf hineingesteckt. So viel könnt ihr sicherlich in einem ganzen Monat nicht aufwenden.«
Keine Antwort.
»Schläfst du wieder, Onnen?«
Alles still.