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Allan Varney

Die Geister, die man ruft

Zehnter Roman des
Earthdawn™-Zyklus

Originalausgabe

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Feder & Schwert
Band 10

Übersetzung: Christian Jentzsch
Illustrationen: Jeff Laubenstein
Redaktion & Lektorat: Catherine Beck
E-Book-Gestaltung: Nadine Hoffmann

Earthdawn® is a Registered Trademark of FASA Corporation. Barsaive™ is a Trademark of FASA Corporation. Original Earthdawn® content copyright © 1993—2017 FASA Corporation. Earthdawn® and all associated Trademarks used under license from FASA Corporation. All Rights Reserved. © 2019 Deutsche Ausgabe Feder & Schwert GmbH.

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E-Book-ISBN 9783867623889

Dieses extrem geradlinige Buch
ist Don Webb gewidmet,
der gern Umwege beschreitet

PROLOG

Zehn Jahre zuvor

Ich kam an die Stätte meiner Geburt und rief:
»Die Freunde meiner Jugend, wo sind sie geblieben?«
Und das Echo antwortete: »Wo sind sie geblieben?«

Arabisches Sprichwort

Intrantiveres Scheitern, den Dämon zu beschwören, hinterließ Knochenfragmente und winzige Fetzen Eingeweide auf dem Arenapublikum. Vier Platzwarte beschafften sich den Palankin eines Magistrats und brachten Denson, den heldenhaften Waffenschmied, zu den Heilern. Abgesehen davon schienen alle anderen unverletzt zu sein. Als sie begriffen, dass die Gesellschaft der Grauen Eule nicht nur das Turnier gerettet, sondern die Ankunft eines Dämons in ihrer Mitte verhindert hatte, erhoben sich die Bewohner von Merron von ihren Sitzen und jubelten. Sie applaudierten den noch anwesenden Mitgliedern der Gesellschaft viele Minuten lang, bis die Helden sich würdevoll zurückzogen und zu Delmo gingen, um sich gründlich zu säubern.

Ihr Kampf gegen den bösen Zauberer hatte die Gesellschaft verändert, ihren Tavernenbesitzer aber vollkommen verwandelt. Delmos frühere Arroganz war serviler Höflichkeit gewichen. Er gab ihnen seine besten Zimmer. Er ließ ihnen saubere Laken und parfümierte Seife bringen. Später am Abend servierte er ›Merrons neuen Helden‹ in seinem privaten Esszimmer seine besten Speisen und ganze Fässer mit Ale und Wein. »Auf Kosten des Hauses«, sagte Delmo schmeichlerisch. »Ich bitte euch nur darum, dass auf den zukünftigen Reisen der Gesellschaft mein bescheidenes Gasthaus Erwähnung findet.«

»Warum nicht?«, sagte Wulf. Der Geisterbeschwörer legte einen abgenagten Knackschnabelflügel beiseite. »Wohin gehen wir als Nächstes?«

»Getrennte Wege«, sagte Denson, der in diesem Augenblick in der Tür auftauchte. Die anderen musterten ihn verblüfft. Denson sah völlig gesund aus, sogar noch besser als vor dem Kampf. Seine Wunden waren verheilt, ohne Narben zu hinterlassen, seine kräftigen Arme sahen stärker denn je aus, und die berühmten blonden Haare waren lang und glänzend nachgewachsen – wenngleich sie an der Stelle weiß waren, wo Intrantivere ihm den Daumen auf den Schädel gelegt hatte.

Wulf, Han Lun, Grimborn und Boffin starrten ihn an. Wie von einem guten Troubadour nicht anders zu erwarten, fand Boffin die Sprache zuerst wieder. »Nun, ich hoffe, ich komme dem Tod auch so nah wie du, Denson«, sagte er. »Das Verhängnis scheint dir gut zu bekommen.«

»Wunder! Ist großes Wunder!« Han Luns Finger bearbeiteten seine Onyxperlen in der Meditationsstruktur des Erhabenen Glücks.

Zur Abwechslung schien es Grimborn gleich zu sein, ob ihn jemand lachen sah. »Schön, dass wir uns begegnet sind, Schildmacher! Diese Worte sagte ich im Servos-Dschungel zu dir. Lass sie mich jetzt noch einmal mit Freuden wiederholen!«

Wulfs erstaunter Blick wanderte zwischen Denson und Grimborn hin und her. »Ich habe dich noch nie so viele Worte hintereinander sagen hören.«

Der Zwerg lächelte. »Alle paar Jahre entspanne ich mich einmal.«

»Was ist Grund für Wunder, Denson-gen?«, fragte Han Lun. »Warum du so schnell geheilt?«

»Das liegt an der zärtlichen, aufmerksamen Fürsorge.« Denson griff hinter sich und zog eine schlanke junge Frau in den Raum. Sie trug die weißen Gewänder der Heilerin, ein Questor Garlens. Ihr Haar leuchtete in strahlendem Blond. Es hatte denselben Farbton wie das von Denson. Mit eulengrauen Augen sah sie liebevoll zu ihm auf. Denson sagte: »Das ist Layla.«

Alle nickten höflich. Wulf flüsterte Boffin zu: »Ich schwöre, der Mann könnte auch noch in einem Vulkan weibliche Gesellschaft finden.«

Die violetten Augen des Troubadours weiteten sich. »Bring ihn nicht auf dumme Gedanken!«

»Das habe ich gehört«, sagte Denson. Er und seine neue Freundin gesellten sich zu den anderen an den Tisch. »Ihr braucht mir nicht länger in einen Vulkan oder in andere Gefahren zu folgen. Ich löse die Gesellschaft auf.«

Bestürztes Schweigen.

»Wir haben alle gewusst, dass dieser Tag einmal kommen würde«, fuhr der Waffenschmied fort. »Ich habe meine alten Rechnungen beglichen, sodass mir nichts mehr zu beweisen bleibt. Ich habe vor, nach Märkteburg zurückzukehren – vielleicht wird Layla mich begleiten. Grimborn, ich glaube, du hast dort noch ein paar Dinge zu erledigen?«

Das Lächeln des Bogenschützen wurde sehr dünn. »Ein paar Ziele, die es zu treffen gilt.«

»Komm mit uns. Aber wir wissen alle, dass Wulf weiter nach Süden ziehen muss. Alban ist Magistrat geworden, also werden er und Padia gewiss hier in Merron bleiben. Han Lun, hast du schon Pläne gemacht?«

Die Finger des Zauberers huschten unruhig über seine Perlenkette. »Gehe zurück nach Cathay. Muss Medizin finden, muss Dorf retten.«

Boffin verzog das Gesicht. »Aber – ich dachte, du hättest die Kräuter verloren, nachdem der Ghul deine Robe zerrissen hat...« Als sein Blick auf den Saum von Han Luns schwarzer Robe fiel, hielt er verblüfft inne. Dann: »Geflickt! Wo, um alles in der Welt, hast du die Zeit gefunden, deine Robe zu nähen?«

»Ich sie nicht geflickt. Robe sich selbst geflickt. Robe lebt, wie du, wie ich.«

Boffin rutschte zum Rand der Bank. »Eine lebende Robe. Na schön. Ich, tja, hätte nie – ach, was soll‘s. Also hast du diese Kräuter nie verloren?«

»Doch, habe Kräuter verloren. Aber ist klein wenig von Kräutern im Futter geblieben. Robe hat Rest benutzt und neue Pflanzen daraus wachsen lassen.«

»Ach so, die Robe lässt Pflanzen wachsen, ja? Sag jetzt nicht, dass sie auch Witze erzählt und die Laute spielt, sonst verbrenne ich sie, um die Konkurrenz loszuwerden.«

Jetzt runzelte Wulf die Stirn. »Wenn die Robe sich selbst flickt, warum stickst du dann jeden Morgen daran herum.«

»O ja, sticken.« Han Lun nickte. »Meditation.«

Boffin gab würgende Laute von sich. »Meditation, bäähh! Du klingst wie Alban. In all der Zeit, die ihr zwei mit Herumsitzen und Nichtstun verschwendet, könnte ich etwas Nützliches tun, wie – naja – schon gut, die Vorstellung, nützlich zu sein, entsetzt mich.«

Layla fragte ihn: »Seid Ihr der Troubadour, der dieses Lied über Intrantiveres entzündete Füße gedichtet hat? Ich hörte, wie es die Bootsleute in den Docks sangen. Alle haben ganz laut gelacht! Habt Ihr noch mehr erfunden?«

Boffin lächelte strahlend. Wulf verdrehte die Augen und murmelte: »Bitte, jemand möge ihm Einhalt gebieten.«

Doch niemand tat es, und Boffin erhob sich. »Nun, wie es der Zufall will, habe ich soeben etwas Neues über Intrantiveres Handlanger komponiert, einen erbärmlichen Ork namens Vilph. Ich habe es heute während des Turniers gesungen, und den Magistraten hat es so gut gefallen, dass sie mir hier eine Stellung angeboten haben.« Er räusperte sich. »Ich nenne das Lied ›Der Kleine Vilph bekleckert sich die Robe‹ , und es geht etwa so...«

Grimborn unterbrach ihn spitz. »Da wir gerade von Vilph reden, haben Padia und Alban ihn nicht verfolgt?«

Denson griff nach einer Flasche Feuerscheinwein. »Ich sandte sie ihm nach, als ich hörte, dass er etwas im Luftschiffhafen vorhat. Wann sind sie zurückgekommen?«

»Ich habe sie nicht gesehen.« – »Nicht gesehen.« – »Wahrscheinlich haben sie sich irgendwo verkrochen und schmusen miteinander.«

Densons Augen blitzten. »Ich habe ihnen gesagt, sie sollen uns hier vor Mitternacht treffen! Sie sind während meiner Abwesenheit doch nicht gekommen?«

Alle Gesichter nahmen einen Ausdruck der Furcht an.

»Nun hört schon auf«, sagte Boffin in die Stille hinein. »Das war doch nur Vilph, der Illusionist. Sogar ich habe gegen ihn gekämpft. Er könnte keine Katze besiegen.«

Sie starrten einander an, wobei ihnen der hohle Klang seiner Worte auffiel. Dann sprangen alle wie ein Mann auf und stürmten aus dem Esszimmer.

Im Vorraum blieben sie wie angewurzelt stehen. Padia Villandry stand vor ihnen, Alban Peyl auf den Armen. Sie sah unverletzt aus, obwohl ihre langen Haare verfilzt waren. Albans hagerer Körper war von Kopf bis Fuß mit Schlamm bedeckt, und sein dichtes schwarzes Haar schien blutverkrustet. Als Padia näher kam, sahen die anderen, was mit Alban geschehen war, und sie wichen zurück.

Padia sagte matt: »Er lebt noch. Er braucht einen Heiler. Vilph ist entkommen.« Als sie ihr Alban abnahmen, sank sie zusammen und setzte sich auf den Boden. Sie starrte ins Leere, und die Falten ihrer braunen Robe umgaben sie wie ein welkes Blatt.

Teil Eins

Heimsuchung

Das letzte Wissen um die Wirklichkeit in Bezug auf das Begreifen meines eigenen Daseins überkam mich [...] In diesem Augenblick wurden meinem Herzen die folgenden Verse enthüllt, die ohne mein Wissen und Zutun über meine Lippen kamen:

Ich wusste nicht, dass diese Leiche etwas anderes war als Wasser und Staub;

Ich kenne nicht die Kräfte des Herzens, der Seele und des Körpers.

Welch Unglück, dass diese Zeit meines Lebens ohne dich verstrich!

Du warst ich, und ich wusste es nicht.

- Tevekkul-Beg, Schüler des moslemischen Mystikers Molla-Shah