cover image

Gottfried Keller

Pankraz, der Schmoller

Novelle

Gottfried Keller

Pankraz, der Schmoller

Novelle

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
1. Auflage, ISBN 978-3-962812-69-0

null-papier.de/551

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Pan­kraz, der Schmol­ler

Dan­ke

Dan­ke, dass Sie sich für ein E-Book aus mei­nem Ver­lag ent­schie­den ha­ben.

Soll­ten Sie Hil­fe be­nö­ti­gen oder eine Fra­ge ha­ben, schrei­ben Sie mir.

 

Ihr
Jür­gen Schul­ze

Newslet­ter abon­nie­ren

Der Newslet­ter in­for­miert Sie über:

htt­ps://null-pa­pier.de/newslet­ter

Pankraz, der Schmoller

Auf ei­nem stil­len Sei­ten­plätz­chen, nahe an der Stadt­mau­er, leb­te die Wit­we ei­nes Seld­wy­lers, der schon lan­ge fer­tig ge­wor­den und un­ter dem Bo­den lag. Die­ser war kei­ner von den schlimms­ten ge­we­sen, viel­mehr fühl­te er eine so star­ke Sehn­sucht, ein or­dent­li­cher und fes­ter Mann zu sein, dass ihn der herr­schen­de Ton, dem er als jun­ger Mensch nicht ent­ge­hen konn­te, an­griff, und als sei­ne Glanz­zeit vor­über­ge­gan­gen und er der Sit­te ge­mäß ab­tre­ten muss­te von dem Schau­plat­ze der Ta­ten, da er­schi­en ihm al­les wie ein wüs­ter Traum und wie ein Be­trug um das Le­ben, und er be­kam da­von die Aus­zeh­rung und starb un­ver­weilt.

Er hin­ter­ließ sei­ner Wit­we ein klei­nes bau­fäl­li­ges Häu­schen, einen Kar­tof­fela­cker vor dem Tore und zwei Kin­der, einen Sohn und eine Toch­ter. Mit dem Spinn­ro­cken ver­dien­te sie Milch und But­ter, um die Kar­tof­feln zu ko­chen, die sie pflanz­te, und ein klei­ner Wit­wen­ge­halt, den der Ar­men­pfle­ger jähr­lich aus­zahl­te, nach­dem er ihn je­des Mal ei­ni­ge Wo­chen über den Ter­min hin­aus in sei­nem Ge­schäf­te be­nutzt, reich­te ge­ra­de zu dem Klei­der­be­darf und ei­ni­gen an­de­ren klei­nen Aus­ga­ben hin. Die­ses Geld wur­de im­mer mit Schmer­zen er­war­tet, in­dem die ärm­li­chen Ge­wän­der der Kin­der ge­ra­de um jene ver­län­ger­ten Wo­chen zu früh gänz­lich schad­haft wa­ren und der But­ter­topf über­all sei­nen Grund durch­bli­cken ließ. Die­ses Durch­bli­cken des grü­nen Topf­bo­dens war eine so re­gel­mä­ßi­ge jähr­li­che Er­schei­nung, wie ir­gend­ei­ne am Him­mel, und ver­wan­del­te eben­so re­gel­mä­ßig eine Zeit lang die küh­le, küm­mer­lich-stil­le Zufrie­den­heit der Fa­mi­lie in eine wirk­li­che Un­zu­frie­den­heit. Die Kin­der plag­ten die Mut­ter um bes­se­res und reich­li­che­res Es­sen; denn sie hiel­ten sie in ih­rem Un­ver­stan­de für mäch­tig ge­nug dazu, weil sie ihr ein und al­les, ihr ein­zi­ger Schutz und ihre ein­zi­ge Ober­be­hör­de war. Die Mut­ter war un­zu­frie­den, dass die Kin­der nicht ent­we­der mehr Ver­stand oder mehr zu es­sen oder bei­des zu­sam­men er­hiel­ten.

Be­sag­te Kin­der aber zeig­ten ver­schie­de­ne Ei­gen­schaf­ten. Der Sohn war ein un­an­sehn­li­cher Kna­be von vier­zehn Jah­ren, mit grau­en Au­gen und ernst­haf­ten Ge­sichts­zü­gen, wel­cher des Mor­gens lang im Bet­te lag, dann ein we­nig in ei­nem zer­ris­se­nen Ge­schichts- und Geo­gra­fie­bu­che las und alle Abend, som­mers wie win­ters, auf den Berg lief, um dem Son­nen­un­ter­gang bei­zu­woh­nen, wel­ches die ein­zi­ge glän­zen­de und pomp­haf­te Be­ge­ben­heit war, wel­che sich für ihn zu­trug. Sie schi­en für ihn etwa das zu sein, was für die Kauf­leu­te der Mit­tag auf der Bör­se; we­nigs­tens kam er mit eben­so ab­wech­seln­der Stim­mung von die­sem Vor­gang zu­rück, und wenn es recht ro­tes und gel­bes Ge­wölk ge­ge­ben, wel­ches gleich großen Schlach­tee­ren in Blut und Feu­er ge­stan­den und ma­je­stä­tisch ma­nö­vriert hat­te, so war er ei­gent­lich ver­gnügt zu nen­nen.

Dann und wann, je­doch nur sel­ten, be­schrieb er ein Blatt Pa­pier mit selt­sa­men Lis­ten und Zah­len, wel­ches er dann zu ei­nem klei­nen Bün­del leg­te, das durch ein End­chen alte Goldtres­se zu­sam­men­ge­hal­ten wur­de. In die­sem Bün­del­chen stak haupt­säch­lich ein klei­nes Heft, aus ei­nem zu­sam­men­ge­fal­te­ten Bo­gen Gold­pa­pier ge­fer­tigt, des­sen wei­ße Rück­sei­ten mit al­ler­lei Li­ni­en, Fi­gu­ren und auf­ge­reih­ten Punk­ten, da­zwi­schen Rauch­wol­ken und flie­gen­de Bom­ben, ge­füllt und be­schrie­ben wa­ren. Dies Büch­lein be­trach­te­te er oft mit großer Be­frie­di­gung und brach­te neue Zeich­nun­gen dar­in an, meis­tens um die Zeit, wenn das Kar­tof­fel­feld in vol­ler Blü­te stand. Er lag dann im blü­hen­den Kraut un­ter dem blau­en Him­mel, und wenn er eine wei­ße be­schrie­be­ne Sei­te be­trach­tet hat­te, so schau­te er drei­mal so lan­ge in das ge­gen­über­ste­hen­de glän­zen­de Gold­blatt, in wel­chem sich die Son­ne brach. Im üb­ri­gen war es ein ei­gen­sin­ni­ger und zum Schmol­len ge­neig­ter Jun­ge, wel­cher nie lach­te und auf Got­tes lie­ber Welt nichts tat oder lern­te.

Sei­ne Schwes­ter war zwölf Jah­re alt und ein bild­schö­nes Kind mit lan­gem und dickem brau­nem Haar, großen brau­nen Au­gen und der al­ler­wei­ßes­ten Haut­far­be. Dies Mäd­chen war sanft und still, ließ sich vie­les ge­fal­len und murr­te weit sel­te­ner als sein Bru­der. Es be­saß eine hel­le Stim­me und sang gleich ei­ner Nach­ti­gall; doch ob­gleich es mit alle die­sem freund­li­cher und lieb­li­cher war als der Kna­be, so gab die Mut­ter doch die­sem schein­bar den Vor­zug und be­güns­tig­te ihn in sei­nem We­sen, weil sie Er­bar­men mit ihm hat­te, da er nichts ler­nen und es ihm wahr­schein­li­cher­wei­se ein­mal recht schlecht er­ge­hen konn­te, wäh­rend nach ih­rer An­sicht das Mäd­chen nicht viel brauch­te und schon des­halb un­ter­kom­men wür­de.

Die­ses muss­te da­her un­auf­hör­lich spin­nen, da­mit das Söhn­lein de­sto mehr zu es­sen be­käme und recht mit Muße sein eins­ti­ges Un­heil er­war­ten kön­ne. Der Jun­ge nahm dies ohne wei­te­res an und ge­bär­de­te sich wie ein klei­ner In­dia­ner, der die Wei­ber ar­bei­ten lässt, und auch sei­ne Schwes­ter emp­fand hie­von kei­nen Ver­druss und glaub­te, das müs­se so sein.

Die ein­zi­ge Ent­schä­di­gung und Ra­che nahm sie sich durch eine al­ler­dings arge Un­zu­kömm­lich­keit, wel­che sie sich beim Es­sen mit List oder Ge­walt im­mer wie­der er­laub­te. Die Mut­ter koch­te näm­lich je­den Mit­tag einen di­cken Kar­tof­fel­brei, über wel­chen sie eine fet­te Milch oder eine Brü­he von schö­ner brau­ner But­ter goss. Die­sen Kar­tof­fel­brei aßen sie alle zu­sam­men aus der Schüs­sel mit ih­ren Blechlöf­feln, in­dem je­der vor sich eine Ver­tie­fung in das fes­te Kar­tof­fel­ge­bir­ge hin­ein­grub. Das Söhn­lein, wel­ches bei al­ler Selt­sam­keit in Essan­ge­le­gen­hei­ten einen stren­gen Sinn für mi­li­tä­ri­sche Re­gel­mä­ßig­keit be­ur­kun­de­te und streng dar­auf hielt, dass je­der nicht mehr noch we­ni­ger nahm, als was ihm zu­kom­me, sah stets dar­auf, dass die Milch oder die gel­be But­ter, wel­che am Ran­de der Schüs­sel um­her­floss, gleich­mä­ßig in die ab­ge­teil­ten Gru­ben lau­fe; das Schwes­ter­chen hin­ge­gen, wel­ches viel harm­lo­ser war, such­te, so­bald ihre Quel­len ver­siegt wa­ren, durch al­ler­hand künst­li­che Stol­len und Ab­zugs­grä­ben die wohl­schme­cken­den Bäch­lein auf ihre Sei­te zu lei­ten, und wie sehr sich auch der Bru­der dem wi­der­setz­te und eben­so künst­li­che Däm­me auf­bau­te und über­all ver­stopf­te, wo sich ein ver­däch­ti­ges Loch zei­gen woll­te, so wuss­te sie doch im­mer wie­der eine ge­hei­me Ader des Brei­es zu er­öff­nen oder lang­te kurz­weg in of­fe­nem Frie­dens­bruch mit ih­rem Löf­fel und mit la­chen­den Au­gen in des Bru­ders ge­füll­te Gru­be. Als­dann warf er den Löf­fel weg, la­men­tier­te und schmoll­te, bis die gute Mut­ter die Schüs­sel zur Sei­te neig­te und ihre ei­ge­ne Brü­he voll in das La­by­rinth der Kanä­le und Däm­me ih­rer Kin­der strö­men ließ.

So leb­te die klei­ne Fa­mi­lie einen Tag wie den an­dern, und in­dem dies im­mer so blieb, wäh­rend doch die Kin­der sich aus­wuch­sen, ohne dass sich eine güns­ti­ge Ge­le­gen­heit zeig­te, die Welt zu er­fas­sen und ir­gend et­was zu wer­den, fühl­ten sich alle im­mer un­be­hag­li­cher und küm­mer­li­cher in ih­rem Zu­sam­men­sein. Pan­kraz, der Sohn, tat und lern­te fort­wäh­rend nichts als eine sehr aus­ge­bil­de­te und künst­li­che Art zu schmol­len, mit wel­cher er sei­ne Mut­ter, sei­ne Schwes­ter und sich selbst quäl­te. Es ward dies eine or­dent­li­che und in­ter­essan­te Be­schäf­ti­gung für ihn, bei wel­cher er die mü­ßi­gen See­len­kräf­te flei­ßig übte im Er­fin­den von hun­dert klei­nen häus­li­chen Trau­er­spie­len, die er ver­an­lass­te und in wel­chen er be­hän­de und meis­ter­lich den ste­ten Un­recht­lei­der zu spie­len wuss­te. Esther­chen, die Schwes­ter, wur­de da­durch zu reich­li­chem Wei­nen ge­bracht, durch wel­ches aber die Son­ne ih­rer Hei­ter­keit schnell wie­der her­vor­strahl­te. Die­se Ober­fläch­lich­keit är­ger­te und kränk­te dann den Pan­kraz so, dass er im­mer län­ge­re Zeiträu­me hin­durch schmoll­te und aus selbst­ge­schaf­fe­nem Är­ger selbst heim­lich wein­te.

Doch nahm er bei die­ser Le­bens­art merk­lich zu an Ge­sund­heit und Kräf­ten, und als er die­se in sei­nen Glie­dern an­wach­sen fühl­te, er­wei­ter­te er sei­nen Wir­kungs­kreis und strich mit ei­ner tüch­ti­gen Baum­wur­zel oder ei­nem Be­senstiel in der Hand durch Feld und Wald, um zu se­hen, wie er ir­gend­wo ein tüch­ti­ges Un­recht auf­trei­ben und er­lei­den kön­ne. So­bald sich ein sol­ches zur Not dar­ge­stellt und ent­wi­ckelt, prü­gel­te er un­ver­weilt sei­ne Wi­der­sa­cher auf das jäm­mer­lichs­te durch, und er er­warb sich und be­wies in die­ser selt­sa­men Tä­tig­keit eine sol­che Ge­wandt­heit, Ener­gie und fei­ne Tak­tik, so­wohl im Auss­pü­ren und Auf­brin­gen des Fein­des als im Kamp­fe, dass er so­wohl ein­zel­ne ihm an Stär­ke weit über­le­ge­ne Jüng­lin­ge als gan­ze Trupps der­sel­ben ent­we­der be­sieg­te oder we­nigs­tens einen un­ge­straf­ten Rück­zug aus­führ­te.

War er von ei­nem sol­chen wohl­ge­lun­ge­nen Aben­teu­er zu­rück­ge­kom­men, so schmeck­te ihm das Es­sen dop­pelt gut, und die Sei­ni­gen er­freu­ten sich dann ei­ner hei­te­ren Stim­mung. Ei­nes Ta­ges aber war es ihm doch be­geg­net, dass er, statt wel­che aus­zu­tei­len, be­trächt­li­che Schlä­ge selbst ge­ern­tet hat­te, und als er voll Scham, Ver­druss und Wut nach Hau­se kam, hat­te Esther­chen, wel­che den gan­zen Tag ge­spon­nen, dem Ge­lüs­te nicht wi­der­ste­hen kön­nen und sich noch ein­mal über das für Pan­kraz auf­ge­ho­be­ne Es­sen her­ge­macht und da­von einen Teil ge­ges­sen, und zwar, wie es ihm vor­kam, den bes­ten. Trau­rig und weh­mü­tig, mit kaum ver­hal­te­nen Trä­nen in den Au­gen, be­sah er das un­an­sehn­li­che, kalt ge­wor­de­ne Rest­chen, wäh­rend die schlim­me Schwes­ter, wel­che schon wie­der am Spinn­räd­chen saß, un­mä­ßig lach­te.

Das war zu viel, und nun muss­te et­was Gründ­li­ches ge­sche­hen. Ohne zu es­sen, ging Pan­kraz hung­rig in sei­ne Kam­mer, und als ihn am Mor­gen sei­ne Mut­ter we­cken woll­te, dass er doch zum Früh­stück käme, war er ver­schwun­den und nir­gends zu fin­den. Der Tag ver­ging, ohne dass er kam, und eben­so der zwei­te und drit­te Tag. Die Mut­ter und Esther­chen ge­rie­ten in große Angst und Not; sie sa­hen wohl, dass er vor­sätz­lich da­von­ge­gan­gen, in­dem er sei­ne Hab­se­lig­kei­ten mit­ge­nom­men. Sie wein­ten und klag­ten un­auf­hör­lich, wenn alle Be­mü­hun­gen frucht­los blie­ben, eine Spur von ihm zu ent­de­cken, und als nach Ver­lauf ei­nes hal­b­en Jahrs Pan­kra­zi­us ver­schwun­den war und blieb, er­ga­ben sie sich mit trau­ri­ger See­le in ihr Schick­sal, das ih­nen nun dop­pelt ein­sam und arm er­schi­en.

Wie lang wird nicht eine Wo­che, ja nur ein Tag, wenn man nicht weiß, wo die­je­ni­gen, die man liebt, jetzt stehn und gehn, wenn eine sol­che Stil­le dar­über durch die Welt herrscht, dass all­nir­gends auch nur der lei­ses­te Hauch von ih­rem Na­men er­geht, und man weiß doch, sie sind da und at­men ir­gend­wo.

So er­ging es der Mut­ter und dem Esther­lein fünf Jah­re, zehn Jah­re und fünf­zehn Jah­re, einen Tag wie den an­dern, und sie wuss­ten nicht, ob ihr Pan­kra­zi­us tot oder le­ben­dig sei. Das war ein lan­ges und gründ­li­ches Schmol­len, und Esther­chen, wel­ches eine schö­ne Jung­frau ge­wor­den, wur­de dar­über zu ei­ner hüb­schen und fei­nen al­ten Jung­fer, wel­che nicht nur aus Kin­de­streue bei der al­tern­den Mut­ter blieb, son­dern eben­so­wohl aus Neu­gier­de, um ja in dem Au­gen­bli­cke da zu sein, wo der Bru­der sich end­lich zei­gen wür­de, und zu se­hen, wie die Sa­che ei­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­