›Gespensterjagd in Rom. Das schwarzrote Phantasma‹3
den umfangreichen Artikel, wortwörtlich hier wiedergegeben, wie folgt:
Seit einigen Wochen trat in Rom ein neues Phantasma in die mitternächtliche Erscheinung, und zwar in einem Stadtviertel, das bisher ganz unberührt von derartigen Erfahrungen gewesen war. Zuerst wurde es von einem jungen Mann gesichtet als ein etwas seltsam gekleidetes, augenscheinlich weibliches Wesen. Sie, die einsame Wandlerin, trug einen feuerroten, kniefreien Rock über schwarzen Seidenstrümpfen, einen schwarzen Hut, tief ins Gesicht gedrückt, ein rotes Seidentuch um den Hals geschlungen und schwarze Handschuhe. Nun, eine interessante Begegnung, – dachte sich unternehmungslustig der junge Mann und besann sich bereits auf die Begrüßungsformel, womit unternehmungslustige junge Männer alleinspazierengehende Mädchen anzusprechen pflegen. Doch im letzten Augenblick hielt ihn eine unerklärliche Scheu zurück. Er bemerkte jetzt auch einige Einzelheiten, die ihn noch mehr einschüchterten. So ging diese junge Dame in Rot und Schwarz auf eine ganz eigentümliche Weise, das Gesicht gesenkt, die Schritte unnatürlich verlängert, lastend schwer und doch wieder unheimlich leicht hüpfend. Als sie zufällig einmal den Blick hob, sah der junge Mann in zwei weißliche, verschwimmende Augen, die in ein Nichts zu starren schienen. Und zum Schluß machte er noch eine furchtbare Entdeckung:
die seltsame Nachtwandlerin hatte überhaupt keine Füße! Etwa zehn Zentimeter über dem Erdboden hörten ihre Beine auf. Da packte den jungen Mann ein Entsetzen, das er bisher nicht gekannt hatte. Er floh nach der entgegengesetzten Richtung und gelangte in seine Wohnung mit Angstschweiß auf der Stirn und mit schlotternden Gliedern.
Diese nächtliche Begegnung sprach sich schnell herum, wurde belächelt, bespöttelt und als mutwillige Erfindung aufgenommen. Jedenfalls war die Zahl der Ungläubigen anfangs weit größer als die der Gläubigen. Doch bald wurde die unheimliche Erscheinung auch von andern gesehen, bald in dieser, bald in jener Straße; und überall wo sie auftauchte, blieb kaltes Entsetzen zurück. Die Zahl der Ungläubigen nahm rapid ab. Die wenigen aber, die sich einen letzten Rest von Mut bewahrt hatten, organisierten eine Jagd auf das schwarz-rote Phantasma, um das Geheimnis zu lüften und die Unbekannte als das zu entlarven, was sie aller Wahrscheinlichkeit nach sein mußte.
Es war ein aufgeregtes und lärmendes Treiben in diesen Tagen im ganzen Stadtviertel. Doch wo sich auch immer die Spukgestalt sehen ließ, stockte die beginnende Verfolgung schon nach den ersten Sprüngen; die Verfolgte war immer so schnell verschwunden, wie sie aufgetaucht war, so als hätte sie der Erdboden verschlungen. Es ist verständlich, daß sich zum Schluß auch die Polizei mit dem ruhestörenden Lärm in dem sonst so friedlichen Stadtteil beschäftigte und auch ihrerseits die Jagd auf das Phantasma begann, allein schon, um den lächerlichen Aberglauben der Einwohner zu zerstören. Also wurden einige Polizeibeamte mit der Klärung der ›Angelegenheit‹ betraut.
Wirklich gelang es auch einem der Gesetzhüter, die unheimliche Spaziergängerin zu sichten, wie sie in dem bekannten schwarz-roten Aufputz eine halbdunkle Straße entlangglitt. Kurz entschlossen, stürzte er hinter ihr her. Aber die Unbekannte schien eine ausgezeichnete Langstreckenläuferin zu sein. Die Verfolgung dauerte bereits geraume Zeit, und immer noch wollte es dem Polizisten nicht gelingen, den Zwischenraum zwischen sich und der Verfolgten zu verringern. Doch endlich schloß eine hohe Treppe die Straße ab, durch die eben die Jagd ging; auf dieser Treppe mußte die Verfolgung ihr Ende nehmen, mußte sich das Geheimnis entschleiern, denn sie führte auf einen Platz, der keine Ausgänge hatte. Der schon atemlose Verfolger strengte also seine letzten Kräfte an. Doch was geschah nun? Die Fliehende nahm mehr als zehn Stufen auf einmal und flog in einer rasenden Schnelligkeit die Treppe hinauf. Aber der Beamte sprang ebenso schnell nach. Fast hatte er die Unbekannte erreicht, als diese, eben am Ende der Treppe angelangt, zu Boden stürzte. Wollte es der Zufall, daß in diesem verhängnisvollen Augenblick auch der Verfolger stürzen mußte? Er griff noch nach dem roten Rock . . .
Als er nach kaum einer Zehntelsekunde wieder aufblickte, bereit, die Unruhestifterin, die ein ganzes Stadtviertel in Aufregung versetzt hatte, zu verhaften, fand er zu seinem größten Schreck niemanden mehr. Seine rechte Hand, mit der er nach ihr gegriffen hatte, lag in einer schwarzen Wasserpfütze, in der sich die Lichter der Laternen rot spiegelten. Ein schriller Pfiff auf der Signalpfeife; Schutzleute stürmten aus andern Straßen herbei . . . aber das Phantasma blieb verschwunden, wie so viele Male schon. Der Erdboden hatte es wie einen schweren, sich senkenden Nebel aufgesaugt.
Soweit die Berichte der Zeitungen . . . Und bis heut weiß man immer noch nicht, wer das seltsame Wesen ist. Nur behauptet der Polizist, der im letzten, verhängnisvollen Augenblick zu Boden stürzte, daß er in ein bleiches, tieftrauriges Gesicht geschaut hätte, das eher einem Manne, als einer Frau anzugehören schien.
Jedenfalls wagt sich nach Mitternacht niemand mehr in dem vom schwarz-roten Phantasma heimgesuchten Stadtviertel auf die Straße; wer jedoch seine Wohnung aus irgendeinem Grunde verlassen muß, der bekreuzigt sich vorher dreimal und verlängert furchtsam, den kalten Griff der Angst im Nacken, die Schritte. . .
»Nun, was sagst du dazu? Was ist deine Meinung von dieser sonderbaren Sache?« fragte Frau Evis gespannt, als Windmüller seine Lektüre beendet.
»Ich erinnere mich ihrer aus den römischen Zeitungen, welche sie anscheinend nun für erledigt halten«, erwiderte Windmüller nach einer Weile. »Ohne Augenzeuge der seltsamen Erscheinung gewesen zu sein, kann man Stellung dazu nicht gut nehmen, jedoch wäre eine Aufklärung der Frage nicht uninteressant, ob, von wem und warum alle diese Leute genasführt worden sind.«
»Oh, du meinst also, die ganze Geschichte ist nichts, als eine Täuschung?«
»Das muß man wohl solange annehmen, bis das Gegenteil bewiesen worden ist.«
»Ich wüßte einen, der es könnte – dich!« rief Frau Evis lebhaft, und als Windmüller nur lächelnd mit den Achseln zuckte, setzte sie schmeichelnd hinzu: »Hättest du nicht Lust dazu? Oder meinst du, es sei keine Aufgabe für dich, das heißt für deine Bedeutung?«
Windmüller antwortete nicht gleich. Er blickte sie zunächst stumm an, während sein eben noch so freundliches Gesicht ernst wurde. Dann sagte er:
»Als ich unserm nunmehrigen Diener, meinem früheren gelegentlichen Gehilfen, dem unschätzbaren Thelesphor Pfifferling mitteilte, daß ich mich verheiraten und damit meinen bisherigen Beruf aufgeben würde –«
»Franz Xaver – davon weiß ich ja kein Wort!« fiel sie erschrocken ein.
»Ja nun, das ist doch selbstverständlich«, erklärte er mit etwas künstlicher Gelassenheit. »Jeder andre Beruf, eingeschlossen der eines Soldaten und eines Seemanns, die ja allzeit kriegsbereit sein müssen, ist meines Dafürhaltens kein Ehehindernis; aber ein Detektiv, der sein Leben beständig zu Markte trägt, sollte keine Frau nehmen, sie nicht der nie und zu keiner Stunde nachlassenden Sorge um Leben und Gesundheit des Gatten aussetzen. Evis, noch weißt du nicht, ahnst es selbst vermutlich nicht im entferntesten, was es bedeutet, dem Verbrechen in seine dunkelsten Winkel nachzuspüren. Es geht dabei wahrlich nicht allemal so ungefährlich zu, wie zum Beispiel bei ›dem Fall, der keiner war‹, den ich für deine Cousine Lilias so befriedigend für sie und mich erledigte – auch der hatte seine Seiten, von denen man nicht wissen konnte, was dabei zu erwischen war –, oder bei meinem letzten, der mir als höchsten Lohn dich errang. Das war ein Kinderspiel gegen jene Fälle, in denen ich selbst für mein Leben keine fünf Pfennige mehr gegeben hätte. Man kann im voraus niemals wissen, in welche Lagen man bei der Übernahme eines Falles geraten wird, und darum dachte ich, es sei nun an der Zeit, meinem Beruf Valet zu sagen –«
»Den Beruf, den du mit Leib und Seele geliebt und ausgeübt hast, Franz Xaver!«
»Das habe ich wahrlich, Evis, weil ich in ihm einem idealen Zweck diente, dem Zweck, das Verbrechen zu sühnen, Unschuldige zu schützen. Immer hin aber lebt der Mensch nicht nur von seinen Idealen, auch das Herz fordert endlich einmal sein Recht, und dieses wurde mir in dir zuteil. Also, um zu dem zu kommen, was ich vorhin sagen wollte: als ich dem Pfifferling kund und zu wissen tat, was mein Entschluß war, erregte ich damit die ebenso beleidigende wie schmeichelhafte, geradezu homerische Heiterkeit dieses Kamels, das mir versicherte, ich sei allemal niederträchtig schlechter Laune gewesen, wenn mir mal bloß vierzehn Tage lang kein neuer Fall angetragen wurde! Daß du mich für einen solchen begeistern willst, beweist mir, daß Pfifferling die Wahrheit gesprochen, recht gehabt hat. Bin ich denn wirklich schon in solch‹ niederträchtig schlechter Laune dir gegenüber gewesen?«
Evis, deren Augen bei Windmüllers Erklärung verdächtig feucht geworden waren, mußte nun unter Tränen hellauf lachen.
»Ich habe noch nichts davon gespürt – das kann ich beeidigen. Unsern braven Pfifferling habe ich nie für ein Kamel gehalten, und wenn er dir seine Meinung in diesen drastischen, beziehungsweise ungeschickten Worten kundtat, so beweist das nur, daß ich mit meiner guten Meinung von ihm recht habe; denn was er damit ausdrücken wollte, sollte doch nur heißen, daß es dir unmöglich sein würde, einem Beruf zu entsagen, der dir in Fleisch und Blut übergegangen ist, in welchem du geleistet hast, was dir ein andrer so leicht nicht nachmachen würde. Franz Xaver, du weißt, mußt es wissen, daß meine ganze Verwandtschaft, alles was Sennheim heißt, meine Cousine Lilias eingeschlossen, auf dich schwört, dich für einen herrlichen Menschen hält und ich dich für ›den Herrlichsten von allen‹ – und mit gutem Grund. Was du mir eben gesagt, ist nur ein neuer Beweis dafür, und meine Antwort ist ohne jeden Rückhalt: Mit meiner Einwilligung sollst und darfst du deinem Beruf nicht entsagen! Unter keinen Bedingungen! Ist's ein Wort?«
Statt aller Antwort stand Windmüller auf und schloß seine ›Waldeskönigin mit den goldnen Augen‹ in die Arme.
»Das sprach meine tapfre Evis, die mit wahrem, echtem Heldenmut, durch Feuer und Wasser siegreich aus einer Prüfung hervorgegangen ist, wie sie härter kaum ausgedacht werden konnte«, sagte er bewegt. »Seit ich dich heimgeführt, Geliebteste, bin ich aber tatsächlich noch nicht in die Lage gekommen, zwischen meinem Entschluß, meinen Beruf aufzugeben, und der Versuchung, einen neuen Fall zu übernehmen, einen harten Kampf auszufechten. Aber sollte eine Gelegenheit sich bieten, dann wollen wir miteinander beraten, ob –«
»Nein, das werden wir nicht beraten. Darüber hast du einzig und allein zu entscheiden,« fiel sie ein, »ohne irgendwelche Rücksicht auf mich zu nehmen! Ich habe ja doch mit offnen Augen den Detektiv Windmüller geheiratet, wußte ganz genau, daß seine Arbeit kein harmloses Kinderspiel bedeutet, und wenn du dabei in Gefahr kommst, dann wird mein Herz dich schützen, weil es dich doch begleitet.«
Windmüller tat einen tiefen Atemzug und streckte beide Arme aus.
»Ich hätte es wissen müssen, daß ich dich trotz allem bis zur Stunde unterschätzt habe«, sagte er mit frohem Lachen. »Evis, Geliebteste, so wären wir denn auch in diesem Punkte einig! Vielmehr, du hast mit dem feinen, unfehlbaren Instinkt deines tapfern, warmen Herzens gespürt, daß dein alter Franziskus Xaverius auf der Bärenhaut verkommen würde, solange Kopf und Corpus ihm den Dienst noch nicht versagen. Ceterom censeo: Was diesen Wisch mit dem Bericht von dem schwarz-roten Phantasma in Rom betrifft, so will ich ihn preisen als die Anregung zu dieser klärenden Aussprache; sonst hat er wohl keinen Wert. Es ist ohne weiteres verständlich. daß die Sache als ›Fall‹ für mich überhaupt nicht in Betracht kommt; denn erstens ist man doch gar nicht erst auf den Gedanken gekommen, sie durch mich zum Beispiel aufklären zu lassen, und zweitens ist dadurch niemand zu Schaden gekommen, außer dem das sogenannte Phantasma verfolgenden Polizisten, der dabei in eine Wasserpfütze gefallen ist. Wenn das ja auch nicht gerade wohlgetan haben mag, sintemalen Pflastersteine oder steinerne Treppenstufen als Sprungfedermatratzen für gewöhnlich keine Verwendung finden – blaue Flecke und beschmutzte Kleidungsstücke dürften als Grund, einen Windmüller in Bewegung zu setzen, nicht genügen. Und nun, Geliebteste, wie wär's mit einem Spaziergang in den Park des Palazzo Farnese? Denn ich weiß, daß es dahin dein Herz sehr zieht.«
Evis war gleich bereit, und als sie unterwegs waren, meinte sie:
»Du hattest ganz recht, Franz Xaver, daß es mich sehr in den Park droben zieht, von dem ich schon soviel gehört und gelesen, aber ich muß schon gestehen, daß auch das Schloß selbst zu sehen mich außerordentlich reizt. Ich weiß nicht, ob du es verstehen kannst, daß Häuser, alte Häuser mit einer Vergangenheit, einen großen Zauber auf mich ausüben, daß nicht nur ihre Mauern, auch ihre Einrichtungsgegenstände mir allerhand erzählen können.«
»Das kann ich sehr gut verstehen, Liebste«, versicherte Windmüller. »Ich neige sehr zu Hudson's Theorie von der Imprägnierung von Räumen und Gegenständen durch Menschen, die sie früher bewohnten und benutzen. Diese Imprägnierung zu empfinden, ist aber nicht jedermanns Sache, sondern einfach individuelle Begabung, die unter Hunderten vielleicht nur einem einzigen verliehen ist. Es gibt ja zum Beispiel auch Leute, welche es fühlen, ob ein Gegenstand, den sie berühren, echt ist, oder nur eine wenn auch noch so geschickte Fälschung – auch ein Beweis für Hudson's Imprägnierungstheorie. Ich kenne sogar einen Edelsteinhändler, der die Echtheit eines Juwels nur durch die bloße Berührung erkennt. Die oft gehörte Redensart ›Ja, wenn die Steine reden könnten –‹ ist eine gedankenlose Phrase, denn die Steine reden und wissen viel dem zu erzählen, der ihre Sprache, das heißt ihre Geschichte kennt. Und wo das in unbekannten Gebäuden nicht zutrifft, wo die Sprache versagt, da tritt bei damit Begabten das Gefühl, die Intuition in Kraft. Ja es gibt Menschen, die in solchen Mauern und Räumen zu sehen vermögen, was für die Augen dicht daneben Stehender unsichtbar bleibt. Das sind psychologische Rätsel, vor denen die exakte Wissenschaft haltmachen, die Segel streichen muß. Man könnte zu diesem Punkt ein tiefes Wort in Beziehung bringen, das ich unlängst irgendwo fand: ›Das ist der religiöse Mensch, dem der Sinn für die Wirklichkeit des Übersinnlichen aufgegangen ist.‹ Ich hab's dir angesehen, Liebste, als wir das Schloß Bracciano besichtigten, daß du darin mehr und andres gespürt hast, als die Durchschnittstouristen, denen es vor und nach uns gezeigt wurde. Nun, Caprarola hat auch viel zu erzählen; also heut wollen wir zuerst das Schloß besichtigen.«
»Ja, o ja! Bitte!« rief sie lebhaft. »Du aber, der du seine Geschichte kennst, mußt mich zuvor das Nötigste darüber wissen lassen.«
»Ob es mehr ist, als was du selbst schon gelesen hast, möchte ich dahingestellt sein lassen«, meinte Windmüller, über ihren Eifer lächelnd. »Zu einer flüchtigen Skizze jedoch dürfte Wissen und Zeit genügen. Soviel weißt du ja schon, daß der Palast, der diesen Titel wahrlich mit Recht führt, von Vignola in den Jahren 1547-1559 für den gelehrten Kardinal Alessandro Farnese erbaut wurde, und zwar auf dem festungsartigen, mit Bastionen versehenem Unterbau, den Pier Luigi Farnese bereits im Jahre 1530 von Baldassare Peruzzi errichten ließ. Um den kreisrunden Hof dieses Gebäudes erbaute nun Vignola in höchst genialer Weise den imposanten, zweistöckigen Palast, der seinesgleichen suchen dürfte, schon weil er die Form eines Pentagons, eines Fünfecks hat, dessen fünf Seiten all die gleiche Länge haben. Also, avanti!«
Da die Villa Gelsomino ungefähr auf der halben Höhe der steil ansteigenden Straße lag, welche gewissermaßen das Städtchen Caprarola bildet, so erreichten die Wanderer für die zu ersteigende Höhe rasch genug die wie aus dem Fels gehauenen Bastionen, über welche terrassenförmig ansteigende Treppen mit steinernen Balustraden zu dem an sich schon großartigen Unterbau führen, über dem sich die höchst elegante Front des Palastes erhebt. Die Brücke vor dem Portal überschreitend, erhielten sie auf Grund eines von Windmüller vorgezeigten Permesso4, mit dem er sich vorsorglich schon in Rom versehen, Eintritt in den nach oben offnen, kreisrunden Hof, eingefaßt von den Loggien des Erdgeschosses und der beiden Stockwerke – Loggien, deren architektonische Gliederung und Verzierungen durch Säulen des dorischen, jonischen und korinthischen Stils in den drei verschiedenen Stockwerken, durchbrochene Balustraden und Nischen zwischen den reichdekorierten Türen, welche zu den Zimmern und Sälen führen, an Pracht und Eleganz ihresgleichen suchen.
Aus dem Hof führt eine wunderbare Spiraltreppe zu den oberen Etagen, deren Säle und Gemächer von den beiden Zuccari, von Tempesta und Vignola, aufs reichste dekoriert beziehungsweise al fresco gemalt, ausschließlich der Verherrlichung des Hauses Farnese gewidmet sind, aber durch die Menge der darauf befindlichen zeitgenössischen Portraits das Interesse sowohl des Historikers wie des Laien aufs höchste beanspruchen, besonders an dieser Stelle, der die meisten der dargestellten Personen jener Epoche durch ihre Gegenwart eine besonders intime Note hinterlassen haben, und wer ihre Geschichte kennt, wird sie im Geist, angetan mit den prachtvollen Kostümen ihrer Zeit, durch die wundervollen Räume dieses Palastes wandeln sehen. Aber auch noch andre Räume, als die ausschließlich den festlichen Zusammenkünften bestimmten, lohnen die Mühe ihrer Besichtigung. So die Kapelle im gedämpften Licht ihrer bunten Glasfenster, zwischen denen die Fresken des Apostel und der Heiligen Gregorius, Stephanus und Laurentius gemalt sind, mit dem reichen Plafond, dessen Muster auf dem eingelegten Fußboden gleichsam wie ein Spiegelbild wiederholt ist. Ferner das Arbeitszimmer des Kardinals Alessandro Farnese und in seinem Schlafgemach die geheime Treppe für eine mögliche Flucht, eine in jenen Tagen durchaus nicht überflüssige Maßregel. Sodann ein Saal, dessen Wände mit riesigen Karten bekleidet sind, gleich der geographischen Galerie im Vatikan; ein anderer mit dem wunderbaren Fresco der ›Mora‹, für das seinerzeit vergeblich zwölftausend Scudi geboten wurden; wieder ein andrer Raum mit dem Gemälde der Erscheinung des Erzengel Michael nach der Vision des heiligen Papstes Gregor des Großen, hier wie auf allen Gemälden umgeben von den Bildnissen der Familie Farnese und ihrer Begleiter bis zu den damals so beliebten ›Hofzwergen‹, welche hier aus gemalten Türen mit verblüffender Naturtreue heraustreten.
Zurückkehrend durch die große Eingangshalle, in welcher eine aus Steinen konstruierte Grotte und eine prächtige Fontäne zur Bewunderung hinreißen, verließen Windmüller und seine Frau das Schloß durch das Gartenportal. Ins Freie tretend, fand Evis zum erstenmal Worte, indem sie ausrief:
»Stunden und Stunden möchte man da drinnen bleiben und schauen, wie die Farnese in naturgetreuer Darstellung die großen Momente ihres Lebens vor unsern Augen sich abspielen lassen! Und immer wieder möchte man durch die Fenster einen langen, langen Blick auf die wunderbare Landschaft werfen, die sich wie ein Gemälde von überwältigender Schönheit vor einem ausbreitet, von jeder der fünf Seiten des Palastes anders, immer aber reizvoll zu sehen und zu bewundern.«
»Wir können oft noch wiederkommen, denn mein Permesso ist perpetuo – immerwährend«, versicherte Windmüller, entzückt von ihrer Begeisterung. »Nun aber bleibe deiner Sinne Meister, sage ich mit Turandot, als sie ihren Schleier lüftete, denn nun kommst du in Armidas Zaubergarten.«
Damit hatte er wahrlich nicht zuviel gesagt, denn der Zauber, der über dem in seiner Einsamkeit überwältigend schönen Park des Palazzo Farnese seine Kreise zieht, wirkt auch noch in der Erinnerung mit gleicher Kraft nach.
Unter dem blauen römischen Himmel, feenhaft beleuchtet von dem strahlenden Sonnenlicht eines Sommertages, wandelt der Besucher auf den langen, grasbewachsenen Pfaden und zwischen hohen, verschnittenen Lorbeer- und Taxushecken, deren sanftes Grün durch die üppig blühenden Ringelblumen zu ihren Füßen wie mit einem goldigen Widerschein verklärt wird, der auch auf die hochragenden Säulen-Zypressen noch sein Licht wirft. Von den oberen Terrassen gelangt man in ein Laubwäldchen, das auf einem Teppich gelber Orchideen, Iris, Lilien, Saxifragen, Cyclamen und Salomonssiegeln mit ihren maiglöckchenartigen Blütendolden steht, und am Ende der hindurchführenden Allee angelangt, steht man plötzlich vor einer Statue des Schweigens, den Finger auf die Lippen gelegt. Hier rauscht und plätschert den wiederaufsteigenden Pfad entlang eine künstliche Kaskade herab durch eine Reihe steingefaßter Bassins, begleitet von einer ganzen Menagerie steinerner Tiergestalten, besprüht von dem Gischt des Wassers, und daneben aufwärts steigend, erreicht man den gleichfalls von Vignola erbauten entzückenden Pavillon, das Sommerhaus des Parks. Den Rasen davor fassen Statuen ein, die der Kunstkritik vielleicht manches zum Aussetzen bieten, aber durch ihren Zustand halben Verfalls und mit grünem Moos bewachsen, recht malerisch wirken. Einige dieser Gestalten stehen ruhig, auf den seltenen Besucher herabblickend, da, andre spielen alte Instrumente, denen ihre Nachbarn still lauschen; zwei Dryaden flüstern einander wichtige Geheimnisse ins Ohr; ein impertinenter Faun bläst sein Muschelhorn seinem Gefährten so laut entgegen, daß dieser sich die Ohren mit beiden Händen zuhalten muß, und eine Nymphe ist im Begriff, von ihrem Piedestal herabzusteigen, um ein Bad zu nehmen; doch da die andern Herrschaften ziemlich alle Mangel an Bekleidung leiden, so hat sie vielleicht etwas andres vor.
Hinter dem Sommerhaus rauscht der Bach wiederum über eine steinerne Treppe herab, bewacht von dräuenden, steinernen Löwen und Greifen, und dahinter ist nur noch eine grüne Wildnis, streben Felsen empor, vergoldet vom Sonnenschein.
Es wurde Frau Evis schwer, sich von dem verträumten Zauber dieses stillen Parks loszureißen, der ihnen an diesem, wie an vielen kommenden Tagen allein gehörte, denn nur selten finden Fremde den Weg nach dem abseits ihrer Route liegendem, nicht ganz leicht zu erreichenden Caprarola, und die es dahin zieht, gehören nicht zu der großen Herde, sondern nur zu der kleinen Gemeinde der Wissenden, der Kenner und Freunde römischer Vergangenheit, der Maler und jener, die gern von der großen Heerstraße Abstecher machen.
Nach einem Blick auf die Uhr mahnte Windmüller jedoch zum Aufbruch; denn die gute Sora Luigia hatte ihnen beim Fortgehen anvertraut, daß sie ihren Gästen heute zur Colazione5 ihr capolavoro6, nämlich Risotto mit Hühnerlebern, dazu eine insalata mista7 vorsetzen würde, – ein Gericht, das langes Stehen nicht verträgt.
Angeregt, hochbefriedigt und begeistert von dem Erleben dieses Morgens, traten Windmüller und seine Frau den freilich nicht weiten, aber doch schon recht heißen Heimweg zur Villa Gelsomino an und begegneten dabei einem aufwärts steigenden Herrn, der mit einem Blick auf Windmüller im Vorübergehen grüßte, jedoch keine Miene machte, stehenzubleiben. Letzterer grüßte wieder und sah dem andern kopfschüttelnd nach.
»Wer war der Herr?« fragte Evis leise.
»Ja, wenn ich das sagen könnte!« erwiderte Windmüller. »Kennen muß er mich, weil er mich grüßte, aber wo ich ihn hintun soll, ist mir schleierhaft, und habe doch sonst solch' gutes Gedächtnis für Physiognomien.«
»Der Mann sah entsetzlich elend aus«, meinte sie.
»Ja, und das mag wohl auch die Ursache sein, daß ich mich seiner nicht erinnere.«
Am Torgatter ihrer Villa stand die Sora Luigia in der Glorie ihres in allen Farben des Regenbogens leuchtenden türkischen Schlafrocks, anscheinend ihre Gäste erwartend, über das ganze, fette, mit stattlichem schwarzen Schnurrbart verzierte Gesicht vor Wohlwollen strahlend.
»Der Risotto ist fertig!« rief sie ihnen schon von weitem entgegen, und als sie im Vorgärtchen eintraten: »Haben Sie den Conte del' Poggio-Oliveto gesehen, Signor? Er muß Ihnen doch begegnet sein.«
»Das war der Conte del' Poggio-Oliveto?« wiederholte Windmüller. »Den hätte ich wahrhaftig nicht wiedererkannt! Allerdings bin ich ihm nur einmal in Gesellschaft begegnet, kenne ihn nicht näher, aber er hat sich auch irgendwie sehr verändert.«
»Er sieht wie der leibhaftige Tod aus!« bestätigte die Sora Luigia, ihre fette, weiße Hand wie zur Bekräftigung auf den voluminösen Busen legend. »Nun, ein Wunder ist es nicht; er kann es wohl nicht überwinden, seine junge Frau verloren zu haben.«
»War er verheiratet? Das wußte ich nicht«, sagte Windmüller. »Wann ist sie gestorben?«
»Sie – sie hat ihn verlassen. Ist bei Nacht und Nebel davongelaufen«, berichtete Sora Luigia mit Nachdruck.
»Oh –«, machte Windmüller ohne sonderliches Interesse, denn ein derartiges Familiendrama stand ja leider nicht ohne Beispiel da. Damit wollte er ins Haus treten, aber Sora Luigia war mit dem, was sie noch wußte, nicht fertig und brauchte dann allemal jemand, dem sie ihr Herz ausschütten mußte – einfach mußte!
»Gia!« seufzte sie. »Mich hat das Unglück des Signor Conte erschüttert. Denn Sie müssen wissen, daß meine leibliche Nichte, die Faustina Matti Cameriera bei der Contessa del' Poggio-Oliveto war, und diese stammt, wie ich auch, aus Viterbo, denn sie ist die einzige Tochter des Herrn Marchese Aquacalda, der seinen Palazzo zunächst dem Dom dort hat. Kennen die Herrschaften den Herrn Marchese –? Oder die Frau Marchesa, die eine Tochter des Herzogs von Rocca Saracinesca ist? Dio mio, wenn man bedenkt, daß die Contessa kaum ein Jahr verheiratet und erst neunzehn Jahre alt ist, so schön, so blutjung und doch eine – traviata!8 Ist es dann ein Wunder, wenn der Herr Graf aussieht wie der Tod?«
Windmüller murmelte mit teilnahmsvollem Achselzucken etwas Unverständliches, indem er seiner Frau in das Haus folgte, und es ist bedauerlich, sagen zu müssen, daß ihm das eben gehörte Ehedrama den Appetit an dem trefflichen Risotto mit Hühnerlebern nicht verdorben hatte, daß die das Gericht begleitende insalata mista sich seines ungeteilten Beifalls erfreute. Auch dem nachfolgenden Stracchino9 tat er alle Ehre an und ebenso den köstlichen Gartenerdbeeren, welche das Werk der Sora Luigia krönten.
»Du bist müde, Evis«, bemerkte er dabei mit besorgtem Blick.
»Nicht einmal besonders«, versicherte sie »Aber mir geht dieser Conte aus Viterbo, dem wir vorhin begegneten, nicht aus dem Sinn, weil er so schrecklich leidend aussah, ja, mir einen geradezu tragischen Eindruck machte.«
»Ja, lieber Gott, eine Erfahrung, wie er sie gemacht, kann, ohne Spuren zu hinterlassen, wohl kaum einem Menschen begegnen; namentlich, wenn der Mann seine Frau sehr geliebt hat«, sagte Windmüller. »Übrigens ist er nicht aus Viterbo, sondern aus Rom, wo er im tiefsten Herzen der Stadt einen alten Kasten von einem Palazzo besitzt und darin eine ganz exquisite Sammlung alten Porzellans aufgespeichert haben soll. Mir wurde er, soweit ich mich erinnere, als eine Art von Sonderling geschildert, ungesellig und menschenscheu, nebenbei aber wohlhabend genug, um sich in seinem Palast und als Besitzer des Landgutes Poggio-Oliveto im Sabinergebirge halten zu können, ohne den größten Teil des ersteren vermieten zu müssen, wie es doch selbst die notorisch reichen Granden von Rom tun. Die Erwähnung Viterbos hat mich jedoch darauf gebracht, daß ich dir, Liebste, diese Perle unter den italienischen Städten unbedingt zeigen muß, was bei ihrer Nähe nur einen netten Ausflug bedeutet. Der Ort an sich lohnte sich zwar eines längeren Aufenthalts, aber wenn es dir recht ist, machen wir zunächst nur eine Tagespartie daraus, um noch zu Wagen zwei schöne Punkte in der Nähe der Stadt zu besuchen, nämlich das sehenswerte Dominikanerkloster Santa Maria della Quercia mit seinem wunderbaren Schrein, das auf dem Wege zu der köstlichen Villa Lante liegt, die du kennenlernen mußt.«
»Ob es mir recht ist!« rief Evis begeistert. »Wann fahren wir?«
»Oh, frische Fische, gute Fische! Also nehmen wir gleich den morgigen Tag in Aussicht. Ich werde uns das Wägelchen des Wirtes vom Albergo10 in Caprarola bestellen, uns nach Ronciglione hinabzufahren. Von da ist's mit der Bahn nur noch ein Katzensprung bis Viterbo, wo wir am besten erst die Stadt besichtigen, und nachdem wir unsern inneren Menschen gestärkt haben, einen schönen Nachmittag in der Villa Lante verleben, die dich entzücken wird durch die Pracht ihrer Gartenanlagen.«
Obwohl das Barometer früh am Morgen etwas gefallen war, als Windmüller und seine Frau sich zum Aufbruch rüsteten, war bei ihrer Ankunft in Viterbo der Himmel so rein und klar wie tags zuvor. Der erste Teil des Programms, die Besichtigung der ›Stadt der schönen Brunnen und der schönen Frauen‹ verlief vollkommen planmäßig und befriedigend. Sie durchstreiften die Straßen und winkligen Gassen, von denen jede eine Studie ist mit ihren köstlichen, skulptierten Fensterkrönungen, ihren gotischen Fenstern und Türbogen, ihren eigenartigen Freitreppen, die auf wuchtigen Pilastern ruhen, ihren alten Palästen noch existierender und längst erloschenen Patrizierfamilien, traten in die alten, ehrwürdigen Kirchen, sahen mit Rührung die blutjung dahingeschiedene National-Heilige, Santa Rosa di Viterbo, in ihrem Glassarge nach siebenhundert Jahren noch unversehrt, nur mumifiziert liegen und beendeten ihren Streifzug mit der Besichtigung des berühmten päpstlichen Palastes. Nachdem sie sich in der offenen Loggia daselbst an der herrlichen Aussicht sattgesehen, war es Mittag geworden, und die breite Freitreppe hinabsteigend, schlugen sie die Richtung nach dem übrigens trefflichen Albergo ein, in welchem sie ihre Colazione einzunehmen gedachten. Dabei durch ein schmales Gäßchen gehend, an dessen Ende ein Briefkasten angebracht war, kam ihnen um die Ecke ein vornehm aussehender älterer Herr mit grauem Spitzbart entgegen, der einen Brief aus der Brusttasche seines Rockes zog und ihn in den Kasten werfen wollte, als er, Windmüller erblickend, stutzte, und, die Hand wieder zurückziehend, den Hut lüftete und verwundert ausrief:
»Ja, sehe ich denn recht? Herr Doktor Windmüller?«
Dieser, wiedergrüßend, wollte eben fragen, mit wem er die Ehre habe, als jener auch schon einfiel:
»Sie erinnern sich meiner wohl kaum mehr, denn es ist schon lange her, daß ich Sie bei meinem Sachwalter Dr. Nemi in Rom kennenlernte. Damals – es war kurz vor dem Ausbruch des Weltkrieges, war ich noch nicht ergraut; Sie aber sind noch ganz unverändert. Ich bin der Marchese Aquacalda.«
»Es hätte kaum noch Ihrer Namensnennung bedurft, denn schon erinnerte ich mich der Begegnung mit Ihnen bei meinem Freunde Nemi, dem ›weißen Löwen‹, erwiderte Windmüller verbindlich. »Gestatten Herr Marchese, Sie meiner Frau vorzustellen.«
Der Marchese machte Evis mit der ganzen tadellosen Grandezza seiner Rasse eine tiefe Verbeugung und nahm dann lebhaft das Wort:
»Dieser Brief, den ich eben im Begriff war in den Kasten zu werfen, trägt Ihre Anschrift, Herr Doktor, und sein Inhalt besteht aus der Anfrage, ob und wann Sie mir eine Unterredung behufs Übernahme einer Angelegenheit gewähren würden, deren Erledigung durch Sie mir dringend am Herzen liegt.«
»Herr Marchese«, erwiderte Windmüller nach kurzem Zögern, »ich befinde mich zur Zeit mit meiner Frau in Villegiatura in Caprarola und kam heut nur nach Viterbo, um ihr die Stadt zu zeigen, und nachmittags nach der Villa Lante hinauszufahren. Wir sind eben auf dem Wege zu unsrer Colazione – – – wenn Ihre Angelegenheit Zeit hätte, bis wir wieder nach Rom zurückkehren – –«
»Herr Doktor, ich fürchte, das hat sie nicht – mehr noch, ich fürchte sogar, daß schon zuviel Zeit darüber verloren ist«, fiel der Marchese sichtlich bestürzt ein. »Es wäre mir ja natürlich sehr peinlich, Ihre Villegiatura zu stören, aber ich bekenne, daß ich mich in einem Zustand schwerer Sorge und Bekümmernis befinde, aus dem befreit zu werden, ich meine Hoffnung nach dem Rate Nemi's auf Ihre Hilfe gebaut hatte.«
»So geben Sie mir diesen für mich bestimmten Brief, aus dem ich ja ersehen werde, um was es sich handelt«, schlug Windmüller vor.
»Nein, der Brief enthält nur die Frage, ob und wann ich Sie sprechen kann«, versetzte der Marchese und sah dabei so niedergeschlagen aus, daß Evis sich berechtigt fühlte, zu intervenieren.
»Darf ich mir einen Vorschlag erlauben?« fragte sie teilnehmend. »Wie wäre es, wenn mein Mann Sie, Herr Marchese, nach Ihrem Hause begleitete, um zu hören, was Sie ihm zu sagen haben, während ich gern noch ein wenig umherstreife. Wir könnten uns dann an einem zu bestimmenden Punkt treffen.«
»Signora, diesen sehr gütigen Vorschlag anzunehmen, würde ich mir niemals erlauben,« versicherte der Marchese mit vollem Ernst, »aber ich weiß einen besseren: Sie und Ihr Herr Gemahl begleiten mich in mein nur wenige Schritte von hier entferntes Haus, wo meine Frau glücklich sein würde, Sie zu begrüßen, und wenn Sie beide uns die Ehre erweisen wollen, an unserer Colazione in etwa einer Stunde teilzunehmen, so könnte ich vorher dem Herrn Doktor meine Angelegenheit vortragen.«
Es wäre nicht gut möglich gewesen, diese ebenso höfliche wie spontane Einladung durch eine Redensart oder gar brüsk abzulehnen, schon weil es Evis nicht im Traum eingefallen war, sie zu provozieren. Sie wie Windmüller fügten sich also nicht ohne ein leises, innerliches Bedauern in die Unterbrechung ihres Ausflugs und folgten ohne langes Hin und Her dem Marchese zu seinem palastartigen Wohnsitz, der in der Tat keine zwei Minuten von ihrem Treffpunkt gelegen war.
Von außen grau und verwittert, war der Palast, in den ein säulengetragenes Portal führte, innen wohlgepflegt und durchaus feudal zu nennen. Aus der großen, öden Vorhalle führte eine typisch italienische, monumentale und teppichbelegte Treppe hinauf in den ersten Stock, das Piano nobile11, wo der Marchese im Vestibolo eine Tür öffnete, indem er seine Gäste bat einzutreten und zu warten, bis er seine Gemahlin benachrichtigt hatte, und Windmüller betrat mit seiner Frau einen großen, hohen Salon, der mit schönen Rokokomöbeln ausgestattet war. Die Wände bekleideten purpurrote, etwas verschossene seidne Damasttapeten, an denen viele Bilder, meist wohl Familienporträts aus verschiedenen Zeitepochen in schönen alten Goldrahmen und auch kostbare Spiegel verteilt waren. Den Boden von Breccie bedeckten an geeigneten Stellen, wo Sitzmöbel standen, echte, alte, wertvolle Perserteppiche; von der reich kassettierten Decke hingen venetianische Glaslüster herab, einige Girandolen von Goldbronze versprachen weitere Abendbeleuchtung, und den Anachronismus in diesem vornehmen, wohnlichen Raum vertrat ein schwarzpolierter Palisanderflügel, der, aufgeschlagen, die gute deutsche Firma ›Bechstein‹ vorwies, und auf dem Notenpult stand ein offenes Heft mit Polonäsen von Chopin.
»Ein Zeichen, wes Geistes Hauch in diesem Hause weht«, sagte Evis auf den Flügel deutend. »Aber ach, mein armer Franz Xaver, es war mein dummer Vorschlag, der dich hier eingefangen hat.«
»Das wollen wir abwarten, denn das ›Einfangen‹ ist bei mir nicht so einfach«, versetzte Windmüller gelassen. »Auf alle Fälle werden wir hier, wenn auch vielleicht nicht besser, so doch entschieden feudaler speisen, und wenn wir infolge dieses Intermezzos vielleicht auch eine Stunde verlieren, so bleibt uns immer noch reichlich Zeit zur Ausführung unsres Programms.«
Lange brauchten sie nicht zu warten, dann erschien durch eine Seitentür der Marchese mit seiner Gemahlin, einer imposanten, immer noch sehr schönen Frau, welche mit der Gewandtheit der großen Dame ihre unerwarteten und ungebetenen Gäste begrüßte wie alte Bekannte ihrer Kaste, wodurch sie bewies, daß sie in puncto gesellschaftlicher und Herzensbildung auf gleicher Stufe mit ihnen stand. Sie fand auch ohne lange Redensarten gleich den richtigen Augenblick, zur Sache zu kommen.
»Wenn es Ihnen recht ist, so wollen wir uns in mein Boudoir zurückziehen, Signora«, wandte sie sich an Evis. »Der Marchese brennt ja doch darauf, dem Herrn Doktor seine oder vielmehr unsre Angelegenheit vorzutragen – ach, Herr Doktor, auf Ihnen beruht unsre ganze, unsre letzte Hoffnung!« setzte sie wie mit einem Aufschrei hinzu.
Windmüller, dem nichts ferner lag, als die Katze im Sack zu kaufen, machte der Marchesa nur eine stumme Verbeugung, die alles und nichts zu sagen brauchte, und während die Damen sich zurückzogen, folgte er dem Marchese durch die entgegengesetzte Tür in des letzteren Arbeitszimmer; wenigstens deutete auf diesen Zweck ein großer, mit Papieren bedeckter Schreibtisch hin, während die rings bis fast zu der hohen Decke mit Bücherregalen verkleideten Wände den Raum auch zu einer recht stattlichen Bibliothek machten.
Hier nahmen die Herren alsbald Platz, und der Marchese begann sofort hörbar bewegt:
»Meine Frau hat, indem sie Ihnen sagte, daß unsre ganze Hoffnung auf Ihnen beruht, ein leider nur zu wahres Wort gesprochen. Wir bitten Sie, unser einziges Kind, denn unser Sohn fiel im Krieg am Isonzo, unsre Tochter zu suchen, die seit nunmehr über drei Wochen spurlos verschwunden ist.«
Windmüller horchte hoch auf. Er hatte halb und halb erwartet, einen vielleicht sehr wertvollen, verlorenen Gegenstand suchen zu sollen, nicht aber einen Menschen, was sein Interesse sofort in hohem Maße wachrief und zugleich die Erinnerung an ein nur halb gehörtes Wort erweckte, das die Sora Luigia gestern gesprochen. Indes enthielt er sich noch einer naheliegenden Frage, und nach einer kaum merklichen Pause fuhr der Marchese mit sichtlicher Überwindung fort:
»Unsere Tochter Giacinta, neunzehn Jahre alt und seit kaum einem Jahr vermählt mit dem Conte Mario del' Poggio-Oliveto in Rom, hat am Abend des dritten Juni das Haus ihres Gatten verlassen und ist dahin nicht mehr zurückgekehrt. Über ihren Verbleib sind wir seitdem ganz im Ungewissen geblieben, und da wir diesen Zustand länger nicht mehr zu ertragen vermögen – –« er brach überwältigt kurz ab, das Gesicht mit beiden Händen bedeckend.
»Nun, Sie, Herr Marchese, und vor allem doch wohl der Gemahl Ihrer Tochter, haben aber jedenfalls schon Nachforschungen nach dem Verbleib der Contessa unternommen«, sagte Windmüller betont.
»Nun ja, es ist bei allen ihren und unsern Bekannten und Freunden in Rom angefragt worden, aber es hat sie keiner gesehen, keiner von ihr gehört«, erwiderte der Marchese. »Sie hat nichts, gar nichts von sich hören lassen, wir sind ohne jede Nachricht von ihr.«
»Es ist doch aber kaum denkbar, daß Ihr Schwiegersohn untätig geblieben sein sollte«, wandte Windmüller ein. »Welche Schritte hat er getan, seine Gemahlin zu suchen? Wenden Sie sich an mich in seinem Auftrag beziehungsweise im Einvernehmen mit ihm?«
»Nein. Ich handle damit einzig und allein aus eignem Entschluß«, sagte der Marchese mit Überwindung. »Um Ihnen das begreiflich zu machen, muß ich wohl, so hart es mir wird, bekennen, daß mein Schwiegersohn hartnäckig auf dem Standpunkt verharrt, ›daß es, wenn seine Frau ihn freiwillig verlassen habe, nicht an ihm sei, ihr nachzulaufen und sie gegen ihren Willen in sein Haus zurückzuholen‹. Es war uns nicht möglich, dagegen etwas auszurichten, ihm eine andre Auffassung beizubringen. Nun ja, es mag solche Ehemänner geben, aber es gibt wohl kaum Eltern, die ein verirrtes Kind einfach laufen lassen, und darum, Herr Doktor, beschwöre ich Sie, unsrer Angst und Sorge ein Ende zu machen, uns unser Kind zu suchen, das uns bisher eine zärtlich geliebte Tochter war, unsre Farfalla wie wir sie nannten, weil sie leichtbeschwingt wie ein Schmetterling den ganzen Tag durch dieses Haus tanzte, und nun siecht sie vielleicht mit gebrochenen Schwingen Gottweißwo dahin!«
»Herr Marchese, was an mir liegt, die Vermißte wiederzufinden, will ich Ihnen gewiß gern zur Verfügung stellen«, sagte Windmüller nach kurzer Überlegung. »Aber mit dem, was Sie mir ja doch nur ganz skizzenhaft angedeutet haben, kann ich mich natürlich nicht begnügen, denn eine Nadel im Heuschober zu suchen, bedeutet nur verlorene Zeit und Mühe, namentlich da schon weit mehr Zeit seit der Entfernung Ihrer Tochter verstrichen ist, als mir lieb sein kann. Gestatten Sie mir also eine Reihe von Fragen zu stellen, auf deren rest- und rückhaltlose