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Impressum

Ulisses Spiele
Band US25711
Titelbild: Annika Maar
Aventurien-Karte: Daniel Jödemann
Lektorat: Eevie Demirtel
Korrektorat: Kristina Pflugmacher
Umschlaggestaltung und Illustrationen: Nadine Schäkel, Patrick Soeder

Layout und Satz: Mirko Bader


Copyright © 2017 by Ulisses Spiele GmbH, Waldems. DAS SCHWARZE AUGE, AVENTURIEN und DERE, MYRANOR, RIESLAND, THARUN und UTHURIA sind eingetragene Marken der Significant GbR. Alle Rechte von Ulisses Spiele GmbH vorbehalten.

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Printed in the EU.

Print-ISBN 978-3-95752-932-9
Ebook-ISBN 978-3-95752-938-1

Marie Mönkemeyer

Kurs Südmeer

Ein Roman in der Welt von
Das Schwarze Auge©

Originalausgabe

Prolog

Morek, Taverne Ankerwinde,

30. Rondra 1041 BF, früher Abend

Die Taverne Ankerwinde lag nur wenige Schritte den Strand hinauf, hinter dem zusammengestückelten Hafenpier unter einer friedlich wedelnden Palme. Der struppige Baum hatte sich allen Versuchen ihn zu fällen widersetzt, indem er einfach Teil der Taverne geworden war und seine Blätter über das Dach ausgebreitet hatte.

In dem so fürsorglich vor Regen und Sturmböen geschützten Raum trafen sich alle, die über die See ihren Weg hierher gefunden hatten: gestrandete Schiffbrüchige, desertierte Seesoldaten, glücklose Entdecker, entflohene Sträflinge und Sklaven, aber vor allem Piraten.

Der Ort war auf keiner zuverlässigen Karte richtig verzeichnet und in allen Hafenkneipen des Südens wusste man, dass dort ohnehin nur die gefährlichsten und verrufensten Seeräuber der bekannten Meere anzutreffen waren.

Elissea Braiolini, ihres Zeichens Kapitänin des Piratenschiffes Morgentau, spähte missmutig auf den Grund des Bechers in ihrer Hand. Während sie noch überlegte, wohin der Rum schon wieder so schnell verschwunden war, wurden ihre Gedanken jäh unterbrochen.

»Sieh an, sieh an, wen haben wir denn da? Elissea, verdammt, lange nicht gesehen!«

Sie seufzte tief, knallte den leeren Becher auf die zerfurchte Tischplatte und drehte sich zu der Sprecherin um.

Nicht, dass sie das gebraucht hätte, um zu erkennen, wer da die Ankerwinde betrat. Elissea kannte die Stimme wie jeder der hier Anwesenden auch, die beiden frisch Gestrandeten in der Ecke ausgenommen. Sie gehörte zu Vanja Nadaljeff, gefürchtet von Charypso bis Porto Velvenya, und Piratenkapitänin wie sie selbst.

»Grüße, Nadaljeff.«

Nadaljeff, wie sie nur genannt wurde, musterte Elissea aus ihrem verbliebenen Auge wie einen schlecht gemachten Knoten, der sich jederzeit auflösen konnte. »Warum so abweisend, so harsch und schroff zu mir, hm?«

Elissea schob den Hut nach hinten und starrte zurück. »Was willst du?«

»Reden, verdammt noch eins.« Nadaljeff ging um den Tisch herum und ließ sich gegenüber auf den schlägereierprobten Stuhl fallen.

Elissea folgte ihr mit dem Blick, in der sehnsüchtigen Hoffnung, die andere Kapitänin würde sich nur ein Getränk holen wollen. Dass sie Nadaljeff nicht leiden konnte, war nichts Ungewöhnliches, kaum einer der Piratenkapitäne hier mochte den anderen wirklich. Nadaljeff legte auch keinen großen Wert darauf, gemocht zu werden, denn wie alle Piraten wusste sie um den Wert eines möglichst gefährlichen Rufs. Aber sie rieb Elissea gerne die eigenen Erfahrungen und Fähigkeiten unter die Nase. Als hätten sie nicht beide ein eigenes Schiff und auch schon mehrmals zusammen eine Kaperfahrt unternommen!

»Aha. Und worüber?« Nicht, dass Elissea es wirklich wissen wollte.

»Routen, Prisen, Beute ...« Nadaljeff breitete die Arme aus. »Wähle einen Namen, denn Namen sind nichts im Angesicht der Ewigkeit. Ich habe gehört, dass du miese Sau dich bei der Weißen Nadel rumtreibst!«

Krakenkacke! Elissea schloss kurz die Augen. Nadaljeffs Aussage stimmte allerdings, die magere Beute, die sie und ihre Mannschaft momentan versoffen, stammte von dort. Der helle, nadelartig aufragende Felsen war weithin sichtbar und darüber hinaus einzigartig, kurzum der perfekte Anhaltspunkt inmitten schier endloser See. Navigatoren von Kauffahrern und Versorgungsschiffen aller Großmächte schätzten derartige Fixpunkte. Piraten ging es ebenso, wobei sie die Landmarke jedoch vor allem dafür liebten, dass sie mögliche Beute anlockte. Dumm war nur, dass Nadaljeff die Region als ihr Territorium ansah, und dass Elissea noch nicht wieder auf See war. In einigen Wochen hätte sich Nadaljeff sicher weitaus weniger über das Fischen in ihren Gewässern aufgeregt.

»Wer sagt das?«, knurrte Elissea.

»Bist du wirklich so dumm, wie du aussiehst? Der Haufen von stinkenden Fischbrägen, den du Mannschaft nennst! Glaubst du, sie würden nicht prahlen, woher sie ihre Beute haben?«

»Natürlich nicht!« Elissea warf einen schnellen Blick in Richtung des Tisches links von ihr, wo einige Mitglieder ihrer Mannschaft damit beschäftigt waren, ihren Anteil der Prise mittels Rum und Würfelspiel umzuverteilen. Schweigsamkeit war keine Tugend unter Piraten. War es nie gewesen, würde es nie werden. »Aber tu’ gefälligst nicht so, als hätte ich dir das Schiff vor der Nase weggekapert.«

»Du warst in meinem Gebiet!«

»Und was willst du deswegen machen?«

»Das ist meine Beute, du verschissene Bilgenratte!«

»Ach ja?«, fauchte Elissea und reckte das Kinn vor.

Nadaljeff lachte ihr hässliches, dreckiges Lachen angesichts Elisseas trotziger Reaktion.

»Jetzt gehört sie dir bestimmt nicht mehr!« Schon bevor Nadaljeff auch nur zuckte, wusste Elissea, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Aber da traf sie die Faust bereits am Kinn.

»Das war meine Prise!« Nadaljeff war aufgesprungen und starrte Elissea mit zornig funkelndem Auge an.

»Beute gehört der, die sie sich nimmt! Wer’s plündert, darf’s behalten!« Elissea sprang ebenfalls auf. »Und jetzt lass mich in Ruhe!«

»Wenn du dich nochmal in meinem verschissenen Gebiet rumtreibst, versenk ich dich! Klar?«, brüllte Nadaljeff durch die Ankerwinde und schubste Elissea, die ihr Gleichgewicht mit einem schnellen Schritt nach hinten bewahrte.

Spätestens jetzt wäre der richtige Zeitpunkt für eine gute Mannschaft gewesen, ihrer Kapitänin zur Seite zu stehen. Doch die Landratten sahen nur unschlüssig von ihren Würfeln hoch. Feiglinge!

»Such dir gefälligst deine eigene Scheißbeute!«

Elissea griff nach dem Becher und schleuderte ihn Nadaljeff an den Kopf. Sie wollte nie wieder vor irgendwem klein beigeben!

Die einäugige Piratin sah ihrem Hut hinterher, den der leere Becher zu Boden gefegt hatte. Dann sprang sie über den Tisch auf Elissea zu.

Beim Versuch, mit einem Schritt nach hinten auszuweichen, kam ihr ein Stuhlbein dazwischen. Der schmerzhafte Sturz auf den Erdboden bewahrte Elissea zwar vor einem weiteren harten Schwinger Nadaljeffs, doch nicht vor deren Spott: »Oh, sehr elegant!«

»Mach’s doch besser!« Elissea trat den verräterischen Stuhl zur Seite.

Nadaljeff lachte, sprang vom Tisch und sah mitleidig auf ihre Konkurrentin hinab. »Hast du Hilfe von deiner Sauhaufen-Mannschaft erwartet? Tut mir leid, dass sie nicht kam.«

»Ich regele meine Angelegenheiten alleine«, knurrte Elissea und rappelte sich auf.

Nadaljeff bückte sich nach ihrem Hut und schickte sich an, zu gehen. Doch noch bevor sie aus der Ankerwinde rauschte, drehte sie sich noch einmal zu Elissea um. »Weißt du, vielleicht hast du es einfach nicht drauf!«

»Ach, leck mich doch achtern«, murmelte Elissea leise. Doch sie war nicht sicher, wie sehr sie es wirklich meinte.

Kapitel 1

Mein Schiff, meine Probleme

An Bord der Morgentau,

22. Efferd 1041 BF, Morgenwache, 4 Glasen

Das Licht der aufgehenden Sonne färbte die Gischt in der Kiellinie der Morgentau golden, tastete durch die salzverkrusteten Scheiben in die Kapitänskajüte und weckte Elissea aus ihrem leichten Schlaf.

Sie wälzte sich aus der Hängematte, die sie nach fast fünf Jahren Kommando immer noch bevorzugte. An eine feste Koje, wie sie für Offiziere der horaskaiserlichen Marine üblich war, hatte sie sich nicht gewöhnen können, obwohl ihr nach der Meuterei und der für sie überraschenden Wahl zur Kapitänin die Kajüte des feinen Herrn und ehemaligen Kapitäns ya Pontecelli zustand, samt allem Luxus, den sie nach der auf die Meuterei unweigerlich folgenden Plünderung noch zu bieten hatte. Immerhin hatten sie die Koje nicht auseinandergenommen und auch der Kartentisch war noch an seinem Platz gewesen. Dennoch hatte Elissea nach wenigen Wochen unter den staunenden Blicken ihrer Mannschaft eine Hängematte in ihre Kajüte gebracht.

»Bin ich ein feiner Offizierspinkel?«, waren ihre Worte dazu gewesen und hatten stolzes Gejohle geerntet. Alles hatten sie damals mit Stolz getan und jeden Tag auf ihre Freiheit getrunken. Sie hatten die Offiziere und Menschenschinder abgesetzt und dabei der horaskaiserlichen Marine ein Schiff gestohlen.

Elissea seufzte tief. Vier Wochen nach der Meuterei war der letzte Enthusiasmus verflogen, der Schnaps alle und sie spürte plötzlich die volle Verantwortung für Schiff und Mannschaft.

Sicher, sie hatte gelernt und war immer noch auf ihrem Posten. Aber jetzt … ein Großteil der Mannschaft stammte aus den Piratennestern des Südens oder hatte jegliche verbliebene Begeisterung verloren. Die letzte Beute war nur spärlich ausgefallen und Nadaljeff hatte es darauf abgesehen, Elissea runterzumachen.

Hätte ich mal bloß in den Versammlungen meine Klappe gehalten!

Gleich darauf schalt sie sich selbst für diesen Gedanken. Wenn sie nicht immer wieder ihre Meinung gesagt hätte in den geflüsterten Versammlungen im Vorschiff, hätte damals sicher kaum jemand den Mut aufgebracht, gegen die Offiziere zu meutern. Und ohne die Meuterei würde sie immer noch unter der Peitsche eines Bootsmanns für kärglichen Lohn das Deck schrubben, während die feinen Herrschaften Konversation betrieben und sich an den Reichtümern Uthurias eine goldene Nase verdienten.

Nein, sie wollte diese Zeit um keinen Preis zurück.

An Deck empfing Elissea die übliche Langeweile eines Tags auf See. Die Morgenwache gähnte und wartete nur darauf, dass die Ablösung kam, damit sie mit dem Frühstück beginnen und in der Hängematte verschwinden konnten. Aller Freiheit zum Trotz hatten sie sich nach ein paar chaotischen Tagen, zwei verlorenen Segeln und einem Beinaheverlust der Morgentau dafür entschieden, das System der festen Wacheinteilung beizubehalten. Seine Struktur war allen Seeleuten von Kriegs- und Handelsseglern sogar bis ins Bornland im fernen Norden vertraut. Zumindest wenn es stimmte, was Baerjan, der Steuermann, erzählte. Da niemand seinen Heimatort kannte, diente für seine bornische Herkunft vor allem die Tatsache als Beweis, dass er lange auf Schiffen des Handelshauses Stoerrebrandt gefahren war.

Auch heute Morgen stand Baerjan hinter dem Steuer, beide Hände scheinbar spielerisch auf dem Rad und umgeben von der üblichen Wolke alkoholischer Ausdünstungen. Er nickte Elissea freundlich zu, als sie die Stufen zum Achterdeck hinaufkam. »Morgen, Capitana.«

Er war der einzige, der sie zuverlässig immer Capitana nannte, die anderen scherten sich oft weniger um entsprechende Anreden, manche sagten auch Kulko, was im Dialekt des Südens dasselbe bedeutete. Elissea hatte Baerjan vor zweieinhalb Jahren aus der Gosse Charypsos gezogen, wegen einer unglücklich verlaufenen Frauengeschichte voll Blut und Straßendreck und über beide Ohren verschuldet. Aber sie hatte einen erfahrenen Steuermann gebraucht und bereute ihre Entscheidung nur dann, wenn er sich wieder mal in die falsche Frau verliebte. Dann war er tagelang zu nichts zu gebrauchen, war zu nüchtern zum Navigieren und schnorrte die Anderen um Geld für Geschenke an für eine falsche Kemiprinzessin oder eine angeblich in die Sklaverei verkaufte Cousine dritten Grades des Patriarchen von Al’Anfa.

»Morgen. Wie war die Nacht?« Elissea rückte den Hut zurecht, dass weder Locken noch die Feder ihr Blickfeld einschränken konnten.

»Ruhig, Capitana.«

»Keine Sichtungen?«

»Nee

»Schade.« Es sah ganz so aus, als würde das verheißungsvolle Funkeln der Sonne noch immer das einzige Gold in der Umgebung des Schiffes bleiben.

»Verdammt schade. So ein schönes, fettes Handelsschiff, bis unters Deck voll mit Schätzen aus Uthuria, das wär doch was, hm?« Er grinste sie an.

»Allerdings.« Sie nickte. »Allerdings.«

Elissea hätte sich auch mit einem kleineren Schiff zufriedengegeben, es musste nicht gleich ein Jade- oder Kaffeetransport auf der Rückfahrt von Uthuria sein. Aber Beute musste her. Sicher, Nahrung und notwendige Reparaturmaterialien bekam sie in den Piratenhäfen auch mal auf Kredit. Anders sah es mit einer Mannschaft aus. Die wollte Geld zum Ausgeben, sonst suchte sie sich eher früher als später ein anderes Schiff.

Zum Beispiel Nadaljeffs. Elissea schüttelte so energisch den Kopf, um die Gedanken an ihre Konkurrentin loszuwerden, dass die Feder an ihrem Hut einen wilden Tanz aufführte. Dann richtete sie den Blick auf den dunstverhangenen Horizont.

Das trockene Wetter würde sich noch mindestens einen Tag halten, eher zwei.

Sie kniff die Augen zusammen. Wahrscheinlich zwei.

Dann nahm sie das Fernrohr zur Hilfe, um den diesigen Horizont nach der kleinen Verfärbung abzusuchen, die eine Mastspitze auch über Meilen hinweg verriet. Es musste doch irgendwo hier draußen noch etwas anderes geben als Wasser!

Nila schob den Bimsstein vor und zurück über das Deck. Neben ihr erzählte Valerio beim Deckscheuern schon zum dritten Mal, wie er sich in Morek mit einem anderen Piraten geprügelt und diesen anschließend im Sand eingegraben hatte. Danach war er allerdings aus seiner Bewusstlosigkeit erwacht, hatte sich ausgegraben und erneut auf Valerio gestürzt.

Immerhin blieb er halbwegs bei der Wahrheit, sein Gegner hatte sich bisher nicht auf geheimnisvolle Weise in eine ganze Horde verwandelt. Trotzdem konnte Nila die Geschichte nicht mehr hören und hatte sie schon beim ersten Mal nicht gemocht. Valerio zeigte seine brutale Seite gerne der ganzen Welt.

Vielleicht hätte ich mir doch ein anderes Schiff suchen sollen. Eins ohne seine Angebereien. Sie zog ihren Bimsstein zu sich heran. Viel zu trocken kratzte er über die Planken. Mit mehr Beute und mehr … Mutter der Tiefen! Als würde das was ändern!

Nila tauchte wütend den Bims in den Eimer und verspritzte dabei Salzwasser in alle Richtungen.

»Pass doch auf!«

»Tschuldigung«, knurrte sie und nahm sich wieder ihren Deckabschnitt vor.

Selbst wenn, welches Schiff würde sie schon nehmen? Bei einem der Kauffahrer anheuern? Mit ihrer Herkunft? Ha! Hängen würde man sie. Und die anderen Piraten? Wenn sie denen erzählte, dass sie von der Morgentau kam, würden sie sie auslachen. Nicht alle, aber doch die meisten. In den Konflikt zwischen Elissea und Nadaljeff wollte sich niemand einmischen, nicht einmal durch die Übernahme eines Mannschaftsmitglieds. Zu leicht konnte man sich eine blutige Nase einfangen, wenn Nadaljeff wieder auf Elissea losging, auf ihr rumhackte und sie schlecht dastehen ließ.

Wenn Elissea ebenfalls austeilen würde, wäre es ein ganz normaler Piratenstreit, dauerhafte Freundschaften unter Kapitänen waren schlecht fürs Geschäft und entsprechend selten. Doch so …

Nila verstand nicht, warum Elissea Nadaljeff nicht schon längst die Nase gebrochen hatte.So schwer war das nicht und kämpfen konnte die Capitana auch, das hatte sie schon gesehen.

Wahrscheinlich ist sie einfach zu feige. Und ich dumme Seekuh musste ja auf ihrem Schiff anheuern anstatt auf einem richtigen! Jetzt komm ich hier nicht mehr weg.

Frustriert scheuerte sie mit ihrem Stein direkt vor sich über die Planken.

Aber wenn sie feige ist, wie ist sie dann Capitana geworden? Man wählt doch bei einer Meuterei keinen Schisser! Das ergibt doch alles überhaupt keinen Sinn.

»… und dann hab ich ihm, zack, die Nase gebrochen! So, von unten!« Valerio hatte sich aufgerichtet und demonstrierte mit großen Gesten den Ablauf seiner letzten Schlägerei. Der Bimsstein, mit dem er das Deck schrubben sollte, lag vergessen zwischen seinen Knien.

Wär aber immerhin eine Erklärung, warum wir seit Monden keine ordentliche Prise mehr hatten.

Nila schrubbte energisch weiter.

»Braucht ja nicht mal Kraft, man muss nur richtig ansetzen …«

Warum habe ich mich eigentlich für dieses Schiff entschieden? Als hätte es nicht genug andere gegeben.

Mittlerweile war das Holz vor Nila so glatt, als wäre es mit einer dicken Schicht Schmierseife überzogen.

»Wo war ich stehengeblieben? Genau, ich brech ihm also die Nase …«

Bessere Schiffe! Mit mehr Beute!

Aber es hatte Geld gegeben, Musik und Getränke auf Kosten der Capitana, die sich um ihre Leute zu kümmern schien.

»… er, die ganze Fresse voller Blut, schwankt und alles …«

Und es hatte auch so gut angefangen. Grob riss Nila den Stein über die Planken. Es hatte reiche Prisen gegeben und gute Stimmung auf dem Schiff.

»… man hätte ja meinen können, er hätte genug. Aber nix is!«

Aber jetzt, alles für’n Arsch!

»Ich dreh ihm den Arm um, schön langsam, er soll ja auch was davon haben …«

Ich sitz hier fest!

»Dafür greift man am besten hier … guck, so …«

Mit solchen Holzköpfen wie Valerio und seinen Geschichten!

Nila warf ihren ausgetrockneten Scheuerstein in den Wassereimer. »Wie oft willst du den Mist eigentlich noch erzählen?«

»Was?« Aus dem Höhepunkt seiner Erzählung gerissen, starrte Valerio sie an.

»Wir kennen deine Geschichten alle! Das da erzählst du bestimmt zum dritten Mal! Es will echt keiner mehr hören!«

»Sag mal, was ist dein Problem?« Die Aussage, dass niemand mehr Interesse an seinen Geschichten haben könnte, war für Valerio unvorstellbar. Es musste irgendetwas in Nilas Kopf sein, schließlich fand er immer Zuhörer.

»Der ganze Brackmist, den du von dir gibst! Niemand will dauernd hören, wem du wie die Zähne ausgeschlagen hast! Also hör auf, dich wichtig zu machen!«

»Ich mich wichtigmachen?« Mit einer schnellen Bewegung kam Valerio auf die Füße. »Und wer muss hier große Sprüche von sich geben?«

Nila sprang auf und ballte die Fäuste. Frust und Kummer hatten sich vollends in Wut verwandelt. »Halt deine Fresse!«

Elissea seufzte, als Gepöbel auf dem Hauptdeck die gesammelte Aufmerksamkeit auf sich zog. Zwei Gestalten standen sich gegenüber, eine mit breiten Schultern und wüsten Tätowierungen, die andere schmal mit zerzausten Haaren und einer Haizahnkette: unverkennbar Valerio und Nila. Umringt wurden die beiden Streithähne vom Rest der Deckmannschaft und einem Teil der Freiwache, die die beiden anfeuerten. Wahrscheinlich würde Nila gleich einige Zähne weniger haben und Valerio ein paar Tage seine Familienplanung schonen.

Krakenkacke, geht momentan eigentlich irgendwas nicht schief?

Elissea schlug nachdenklich das Fernrohr in ihre Handfläche. Sollte sie die Schlägerei beenden, bevor sie richtig begonnen hatte? Oder lieber abwarten, ob sich die Zuschauer beteiligen wollten? Was sie sicher würden, Piraten waren nicht gerade für ihre Friedfertigkeit bekannt.

»Na komm doch, wenn du dich traust!« Valerio breitete die Arme aus und winkte Nila mit den Fingerspitzen provozierend zu sich.

Die Piratin hatte die Fäuste gehoben und funkelte ihn wütend an.

»Los, gib’s ihm, Nila!«

»Das gibt ’ne üble Klopperei«, stellte Baerjan trocken fest, noch immer beide Hände entspannt am Ruder.

»Mal sehen.« Elissea schob entschlossen das Fernrohr zusammen.

Baerjan zog skeptisch die Augenbrauen zusammen, als die Capitana das Achterdeck verließ. Ob es eine gute Idee war, sich da einzumischen? Er musste sich erstmal einen Schluck genehmigen.

Das Geräusch von Elisseas Stiefeln auf dem Deck ging in den Anfeuerungsrufen unter.

»Ein Silber auf Valerio!«

»Ich halt dagegen!«

»He, Leute!« Elisseas Stimme ertrank in den Wetteinsätzen.

»Los, Valerio, ich setz auf dich!«

»Mach ihn fertig!«

Valerio reckte in der Voraussicht seines Sieges schon mal die Fäuste nach oben und genoss die Unterstützung seiner Kameraden. Nilas wutsprühende Blicke prallten an ihm ab.

Gegen Wetten und die Aussicht auf eine unterhaltende Prügelei hatte Elissea keine Chance, erst recht nicht, solange sie am Rand stand. Sie warf einen hilfesuchenden Blick zu Baerjan, auch wenn sie wusste, dass sie ihn eigenhändig kielholen würde, wenn er jetzt das Ruder verließe.

Sie war die Kapitänin, ihr Schiff, ihre Probleme.

Mit einem Seufzer drängte sie sich vorsichtig zwischen die Zuschauer, die weitere Wetteinsätze brüllten, bekam einen Ellbogen in die Rippen, den nächsten in die Schulter und spürte einen Fuß auf ihren linken Zehen.

Ach Krakenkacke!

Kurzentschlossen schubste sie die nächststehenden Piraten zur Seite und folgte den Stolpernden in die Mitte des Kampfrunds. »Was zum Henker macht ihr hier!«

Die eben noch kampflustig gereckten Fäuste sanken ebenso wie die Mienen der Zuschauer. Keine Regel der Gesetze ohnehin verabscheuenden Piraten verbat Schlägereien an Bord. Doch der Blick ihrer Kapitänin ertränkte jede Streitlust in den tiefsten Fluten.

»Ähm, Capitana, wir … wir wollten nur was klären«, versuchte Valerio sie zu beruhigen.

»Ja, genau.« Zustimmendes Nicken.

»Klären, ah ja.« Elissea sah missbilligend in die Runde. »Ist euch langweilig? Habt ihr nichts zu tun?«

Die gesenkten Blicke trafen die im Gewühl umgetretenen Scheuereimer und Bimssteine.

»Hab ich mir gedacht«, knurrte Elissea. »Dann sucht euch mal ’ne Aufgabe, sonst mach ich das für euch.«

Sie wandte sich um und ließ die Piraten stehen, die halbherzig wieder nach den Scheuerutensilien griffen.

»Spielverderberin.«

»War doch nichts los.«

»Krieg ich mein Geld wieder?«

Mehr als das halblaute Murren in ihrem Rücken war es der Blick von Callio, der ihr versicherte, dass ihr Auftritt noch ein Nachspiel haben würde.

Kapitel 2

Keine großen Wünsche

An Bord der Silberschwalbe,

22. Efferd 1041 BF, Nachmittagswache, 7 Glasen

»Vermisst Ihr das Liebliche Feld nicht, Grazioso?«

Die Frage riss Pericomo aus der Betrachtung der Wolkenformation links, nein backbord sagte man hier auf dem Schiff, backbord des Handelsseglers Silberschwalbe und seinem Versuch zu entscheiden, ob sie eher einem Fisch oder einem Flaschenkürbis glich.

»Entschuldigt, ich war mit meinen Gedanken abwesend.«

»Ob Ihr das Liebliche Feld nicht vermisst«, wiederholte Sabella ihre Frage an den Geweihten.

Pericomo lachte. »Nicht sehr. Warum sollte ich? Mich erwartet eine große neue Aufgabe.«

»Ich dachte, Ihr würdet Eure Gärten vermissen.«

»Hm.« Pericomo fuhr sich durch das strubbelige Haar. Sie hatte Recht, er vermisste die Gärten. Besonders den, den er auf dem Grundstück seiner Familie aus dem vernachlässigten Park geschaffen hatte. Trotz des beengten Platzes war er ein Kunstwerk mit Beeten voll blühender Tulpen und Chrysanthemen, prächtigen Rosenbüschen und strahlend weißen Statuen im Stile der alten Bosparaner. Alles wurde durchzogen von elegant geschwungenen Wegen und lauschigen Sitzecken, ein Inbegriff der modernen Gartengestaltung.

»Ja, ich vermisse die Gärten«, gab er zu. »Besonders den auf dem Anwesen meiner Familie.«

»Es würde mich auch betrüben, mein bisheriges Lebenswerk zurückzulassen.«

»Mein Lebenswerk? Das ist noch nicht getan! Ich habe noch so viel zu tun. Und ich denke, dabei werde ich früher oder später einen neuen Garten anlegen. Mindestens einen!«

Wahrscheinlich vor allem Kräutergärten. Oder Obst, oder was auch immer die Eingeborenen da brauchen.

Sabella sah den jungen Perainegeweihten an und hoffte, sein Enthusiasmus könne auf sie abfärben. Pericomo konnte sicher nicht mit der Schönheit einer bosparanischen Jünglingsstatue mithalten, doch er hatte ein offenes freundliches Gesicht, ein herzliches Lachen und Manieren, die verrieten, dass er aus gutem Hause stammte. Dass er stets die schlichte Kleidung der Geweihten seiner Kirche trug, war angemessen, doch seine dauerzerzausten schwarzen Haare, die keine Frisur lange behielten, und seine sonnengebräunte Haut rückten ihn optisch weit ab von seinem adligen Geburtsstand.

Bei seinem Cousin, ihrem zukünftigen zweiten Ehemann, war das sicherlich anders. Zumindest das Portrait von ihm zeigte einen gut frisierten Mann mit entschlossenen Zügen, selbstverständlich in der Uniform der horaskaiserlichen Marine. Zumindest äußerlich würde er als Gatte an ihrer Seite Eindruck machen, in den Kolonien ebenso, wie hoffentlich eines Tages wieder im Lieblichen Feld. Außerdem war er ein Mann von Stand in guter Position als Kapitän der Marine und damit ein angemessener Partner. Es war wirklich ein glücklicher Zufall gewesen, dass er sich an die gleiche Heiratsvermittlung gewandt hatte wie sie.

Ein ebenso glücklicher Zufall war es, dass Pericomo nicht nur die Post seines Cousins an die Heiratsvermittlung überbracht, sondern sich sogar entschlossen hatte, Sabella und ihre Zofe in den Süden zu begleiten, um sich dort in Zukunft der Missionierung der Waldmenschen zu widmen.

»Und Ihr, vermisst Ihr das Liebliche Feld?«, spielte Pericomo den Ball zurück.

»Selbstverständlich«, nickte Sabella und richtete nun ihrerseits den Blick auf die Wolkenformation. »Aber wie Ihr schon sagtet, auch vor mir liegt eine neue Aufgabe.«

Doch vor Pericomo konnte sie den leichten Schwermut in ihrer Stimme nicht verbergen. Das Heimweh plagte sie, seit sie den Fuß an Bord der Silberschwalbe gesetzt hatte.

Früher hätte er durchaus Möglichkeiten gehabt, Sabella aufzumuntern. Aber sie war die Verlobte seines Cousins! Gleich wie hübsch sie war, und das war sie wirklich, auf die todsicher folgende Duellforderung wegen einer kleinen Tändelei konnte er gut verzichten. Und Sabella würde ohnehin ablehnen, so standhaft wie sie immer auf Etikette beharrte. Die Reise mit ihr war bisher ein Lehrstück in inhaltsloser, wohlanständiger Konversation gewesen.

Außerdem waren diese Zeiten vorbei! Als im Herbst 1039 BF die ersten Sterne gefallen waren, war Pericomo aufgegangen, dass er sein Leben mit Feiern und Chrysanthemen verschwendete. Seine Suche nach einem Sinn hatte ihn in die Dienste der gütigen Göttin Peraine geführt, wo er seine Kenntnisse im Gartenbau einem höheren Nutzen widmen konnte. Heute war er kein junger Edelmann mehr, der sich um nichts weiter scherte als sein Vergnügen und ein Rankengitter unter dem Fenster seiner Geliebten anbringen ließ, weil diese häufiger nächtliche Besuche wünschte. Er hatte gelernt, Verantwortung für mehr zu übernehmen als nur ein paar schmuck gepflanzte Rosen. Jetzt war es seine Aufgabe, Peraines Wort und Segen in die Welt hinaus zu tragen.

»Ich bin mir sicher, Ihr werdet in Eure neue Rolle hineinwachsen«, sagte er und lächelte.

»Danke, Grazioso.« Sabella nickte abwesend und sah weiterhin die Wolken an.

Pericomo überlegte, was er ihr noch sagen konnte, während sich seine Hände wieder einmal damit beschäftigten, seine ohnehin nicht vorhandene Frisur zu zerwühlen. Aber die bisherige Fahrt hatte schon an seinem Schatz an aufmunternden Phrasen genagt. Die Verlobte seines Cousins schien alles andere als freudig auf ihre Zukunft als Gemahlin eines Kapitäns der horaskaiserlichen Marine zu warten. Weder sprach sie über rosige Zukunftshoffnungen wie ihre Zofe, noch fragte sie ihn nach Details über ihren Ehemann in spe. Dabei hatte sie sich doch höchstselbst an die Heiratsvermittlung gewandt und dem Vorschlag der Kupplerin zugestimmt. Er wurde aus ihr einfach nicht schlau.

Der junge Geweihte warf nachdenklich einen Blick zu der Wolkenformation. Mittlerweile sah sie eindeutig wie ein Fisch aus, ein dicker Fisch mit kurzem Kopf.

»Ist Euch langweilig?«, kam ihm ein Gedanke.

»Bitte?« Sabellas Kopf ruckte überrascht herum.

»Ob Ihr Euch langweilt, Signora. Besonders viel ist auf einem Schiff ja nicht zu tun.«

Zumindest für dich nicht, fügte er in Gedanken hinzu.

An ihn wandten sich immer wieder Seeleute. Sie suchten Rat, ein priesterliches Schulterklopfen, seinen Beistand als Heiler oder alles gleichzeitig.

»Sicherlich«, sie lachte gequält auf. »Aber ich assümiere, das werde ich überstehen müssen.«

»Ihr könntet etwas lesen. Ich bin mir sicher, Eure Zofe leiht Euch eines ihrer Bücher.«

Seit sie an Bord gekommen waren, verbrachte Geronita, Sabellas Zofe, jeden freien Augenblick damit, ein Buch nach dem anderen zu verschlingen. Pericomo argwöhnte mittlerweile, dass ihre kleinere Truhe kaum etwas anderes enthielt als frischen Lesestoff.

»Diesen Schund? Ich verzichte! Ich verstehe wirklich nicht, warum Geronita das liest.« Kurz spielte Sabella doch mit dem Gedanken, sich eines der Bücher zu leihen, denen ihre Zofe solche Hingabe widmete. Aber wie sähe das aus, wenn sie, eine Dame von Stand, einen billigen Schundroman läse?

Woher Geronitas Neigung zu Schmachtliteratur mit Titeln wie In den Armen des Korsaren oder Heiße Liebe auf hoher See kam, konnte Pericomo nur argwöhnen. Da dies nicht unbedingt schmeichelhaft für sie oder Sabella ausgefallen wäre, vertiefte er das Thema besser nicht weiter.

»Ich könnte euch ein Buch leihen«, schlug er stattdessen vor. »Wobei ich bezweifle, dass Ihr Interesse an einer heilkundlichen Abhandlung habt, gleich wie informativ sie auch sein mag, besonders in Hinblick auf die Behandlung von Knochenbrüchen.«

»Völlig korrekt«, gab sie unumwunden zu. Schon bei der Vorstellung, welche Themen diese Schrift behandeln könnte, wurde ihr flau im Magen.

Pericomo bemerkte es nicht, sondern scherzte: »Und sicher ist Euch auch der Inhalt des zwölfgöttlichen Breviers vertraut.«

»Selbstverständlich.« Sabella hielt sich an der Reling fest, während die Erinnerungen ihr hässliches Haupt hoben.

Eine andere Antwort hatte Pericomo, den Blick noch immer auf der Fischwolke, auch nicht erwartet. Alle Kinder im Horasreich lernten den rechten Glauben an die Zwölfgötter. Und Sabella stammte aus der Gerondrata, einem Landstrich im Herzen des Lieblichen Feldes mit wunderbar lockerem Boden, auf dem die schönsten Nelken wuchsen und dessen Bewohner sich durch große Hinwendung zur Kriegsgöttin Rondra auszeichneten. Ausgezeichnet hatten, denn vor mittlerweile fünfzehn Monden, während des Sternenfalls, zerstörte ein Erdbeben das gesellschaftliche Herz der Gerondrata: die Stadt Arivor mitsamt ihres bedeutenden Rondratempels.

Aber über die Landschaft mit ihren sandhaltigen Böden und üppigen Rosmarinsträuchern konnte er mit Sabella nicht sprechen. Schließlich war er nicht der Einzige, dessen Leben die Veränderungen der jüngeren Zeit auf den Kopf gestellt hatten: Sabella hatte ihre Familie bei der Katastrophe von Arivor verloren.

»Es tut mir leid, etwas anderes habe ich leider nicht im Gepäck.« Lediglich die Notizen eines befreundeten Geweihten der Göttin Rahja, der selbst lange als Missionar tätig gewesen war und ihm ein paar Ratschläge mitgegeben hatte. Aber Bruder Sulvoderos Aufzeichnungen waren viel zu privater Natur, um sie zu verleihen.

»Aber dafür müsst Ihr Euch doch nicht entschuldigen. Ihr benötigt diese Bücher schließlich«, wehrte Sabella schwach, aber höflich ab.

»Ist Euch nicht wohl?« Pericomo runzelte die Stirn. Die elegante Dame sah etwas blass um die Nase aus.

»Es ist nichts. Nur eine kleine Schwäche.« Sie konnte ihm doch nicht sagen, dass ihr schon bei dem Gedanken an Verletzungen schwindelig wurde. Die Erinnerungen waren noch immer zu frisch. Sie hatte gedacht, hier könnte sie all die Schrecken hinter sich lassen.

»Vielleicht solltet Ihr Euch setzen.«

Pericomo nahm Sabella behutsam am Arm und dirigierte sie zu den Treppenstufen, die auf das Achterdeck hinaufführten.

»Habt Ihr ausreichend getrunken?« Wie viele Mitglieder seiner Kirche war Pericomo von der gesundheitlichen Bedeutung regelmäßigen und ausreichenden Konsums von klarem Wasser überzeugt.

Dankbar nahm Sabella sein Angebot einer Begründung ihrer Schwäche an. »Ich weiß nicht.«

»Bleibt hier einfach sitzen, ich hole Euch etwas.«

Während Pericomo los eilte, um sie mit einem Getränk zu versorgen, schloss Sabella die Augen und lehnte den Kopf gegen die vom Salzwind geschliffene Bordwand.

Schon die kleinste Erwähnung von Wunden reichte aus, um die Erinnerungen erneut zu wecken und ihren sorgfältig errichteten Schutzwall einzureißen wie Papier. Die Schreie, die stürzenden Steine, das Blut … Einige Tage voll Zerstreuung hatten es werden sollen, wie jedes Jahr. Das Turnier in Arivor im Alten Theater war stets eine Augenweide gewesen, Freunde aus dem ganzen Horasreich reisten an und es gab die besten Salzmandeln Aventuriens. Das habe ihr das Leben gerettet, waren Adaons Worte gewesen, des Schmiedegesellen, der ihr half, aus den Trümmern einer Bretterbude zu kriechen. Er war es auch gewesen, der sie davon abhielt, erneut in das einstürzende Theater zu rennen, um ihre Familie zu retten, und bis zu ihrer Abreise immer wieder nach ihr sah. Es gab Tage, an denen sie sich fragte, warum sie ihrer kindischen Laune nach den Salzmandeln von der Bude auf dem Theatervorplatz nachgegeben hatte, wo sie doch bei ihrer Familie hätte sein sollen. Aber es gab auch Tage, an denen sie froh über diese Anwandlung war, gleich wie sehr der Verlust auch schmerzte. Sie hatte überlebt.

Rondravios Tante hatte sie bei sich aufgenommen, ohne Fragen oder Forderungen zu stellen. Die Zeit bei ihr im lebensfrohen Belhanka, die Gespräche mit einer Rahjageweihten und Adaons fürsorgliche Zuwendung hatten geholfen, die offenen Wunden zu heilen. Die Erlebnisse waren zu einem dunklen, schlafenden Schatten geworden, der nur hin und wieder den Kopf hob und sie lähmte. Doch egal, wie oft der Nachklang der Katastrophe sie noch heimsuchen mochte und wie sehr sie Rondravio vermisste, sie konnte nicht ewig auf die Verwandtschaft ihres verstorbenen Mannes angewiesen sein!

Die Heiratsvermittlung aufzusuchen, war die richtige Entscheidung gewesen, auch wenn die alte Kupplerin mitten im Gespräch gefragt hatte, ob sie wirklich schon bereit sei für eine neue Ehe. Natürlich war sie das!

Sie erwartete nicht viel, ein angemessenes Auskommen, eine ihrem Stand entsprechende Position, eheliche Treue. Eine Kutsche, prunkvoller Grundbesitz, eine eigene Opernloge oder ein herausragendes Äußeres, wie es Geronita sicher wünschte, waren nicht wichtig. Nein, sie hoffte auf eine offene Terrasse, auf wenig gefährliche Berge, auf einen Ort, wo niemand wissend und mitleidig lächelte, weil sie aus Arivor stammte. Und auf eine neue Familie.

Mochten die Zwölfe geben, dass Pericomos Cousin ihr das geben konnte! Viel verlangt war es ja nicht.

»Signora, ist alles in Ordnung?« Geronita hockte sich neben ihre Dienstherrin, besorgt, dass sie deren Schwäche so spät bemerkt hatte.

»Nur etwas wenig getrunken.«

Pericomo war zurück.

»Danke, Grazioso«, antwortete Geronita für sie, während Sabella mit beiden Händen den Becher entgegennahm, den der Geweihte ihr hinstreckte.

Das Wasser schmeckte leicht nach dem Holzfass, in dem es lagerte, und genügte damit eigentlich Pericomos Ansprüchen nicht, doch es gab kein anderes. Sabella trank es langsam und ließ sich danach von Geronita auf die Beine helfen.

»Besser?«

»Ja, danke, Grazioso.« Sabella straffte sich und versuchte ein Lächeln aufzusetzen.

Pericomo wehrte mit einem Lächeln ab, jemandem zu helfen war schließlich selbstverständlich.

»Haben die Herrschaften vielleicht Interesse daran, fliegende Fische zu betrachten?«, mischte sich der Kapitän der Silberschwalbe ein. »Wir passieren gerade einen ganzen Schwarm.«

»Sehr gern.« Sabella ließ sich von ihm galant die zwei Stufen auf das Achterdeck führen.

Geronita und Pericomo folgten.

Die Fische schnellten elegant aus dem Wasser und tauchten wieder hinein, die seitlichen Flossen ausgebreitet wie Flügel. Sie schimmerten silbrig-blau im Sonnenlicht und schienen einen ihnen ganz eigenen Tanz aufzuführen.

Sabella sah ihnen abwesend dabei zu. Ja, sie war bereit für eine neue Ehe, ganz gleich, was die Vermittlerin sagte. Sie würde hineingleiten wie diese Fische in die Weiten des Ozeans.

»Oh, sie sind wunderschön«, hauchte Geronita, ebenfalls hingerissen von dem anmutigen Fischreigen.

»Und se bringen Glück, Sers«, schnarrte der Rudergänger, ein sonnenverbrannter Seemann mit einem scheußlich bunten Kopftuch. »Könn’ we brauch’n, beim Piratenpack hier.«

»Hör auf, die Herrschaften zu ängstigen!«, fuhr ihn der Kapitän an. »Konzentrier dich aufs Ruder!«

Doch sie hatten es alle gehört.

»Piraten?« Geronita seufzte träumerisch und presste ihre aktuelle Lektüre an die Brust. Wenn Pericomo das richtig erkannte, trug das Buch den verheißungsvollen Titel Liebesstürme am Kap Brabak.

»Es gibt nichts, worüber Ihr Euch sorgen müsstet«, versicherte der Kapitän beruhigend seinen Passagieren, auch wenn er wusste, dass in diesen Gewässern immer wieder Piraten kreuzten.

»Eben. Sei nicht so albern!« Sabella warf ihrer Zofe einen missbilligenden Blick zu. »Wenn es hier mal Piraten gab, hat die Marine die längst zur Strecke gebracht! Unter ihnen mein Verlobter. Oder nicht, Grazioso?«

Pericomo nickte. Er verstand nicht viel von Piraten, aber so wie sie ihre Zofe herunterputzte und ihre Schwächen überspielte, passte Sabella ausgezeichnet zu seinem Cousin.

Sant Ascanio,

22. Efferd 1041 BF, Vormittagswache, 5 Glasen

»Arator!« Die befehlsgewohnte Stimme schallte durch das ganze Haus und schreckte die träge Katze auf, die eben noch in einem Sonnenfleck gedöst hatte.

Der Herbeigerufene eilte sich, die Feder zur Seite zu legen, ohne dabei Tintenflecke auf den Proviantlisten zu hinterlassen, und zu seinem Vorgesetzten zu kommen. Bereits auf der Schwelle des Esszimmers nahm er Haltung an. »Capitan?«

Doch Capitan Dragio ya Frecelli entging die tadellose Haltung seines Adjutanten, er betrachtete stattdessen mit gerunzelten Brauen die Einrichtung des Raumes. »Ich bin mir nicht sicher, aber … Ah, da bist du ja endlich.«

Ensignio Arator wartete einfach ab. Was sollte er auch sonst tun?

»Ensignio … irgendetwas fehlt diesem Raum noch, damit sich eine Dame hier wohlfühlen kann.« Der Capitan breitete die Arme aus. »Ich bin mir nur nicht sicher, was es ist. Vielleicht eine Blumenvase?«

Der Adjutant von Capitan ya Frecelli schwieg. Seit sein Vorgesetzter seine zukünftige Gemahlin mit einem der nächsten Versorgungsschiffe erwartete, war er unberechenbar geworden. Nicht einmal mehr der Bau von Schiffsmodellen, mit dem er sonst seine Freizeit verbrachte, schien ihn noch zu interessieren, das Modell der Prinzessin Lamea stand seit Wochen unberührt auf dem Tisch. Stattdessen verbesserte er ständig etwas an der Einrichtung des Hauses, das er kaum bewohnte. Schließlich spielte sich sein Leben als Kapitän der horaskaiserlichen Marine vorwiegend auf seinem Schiff ab, der König Dettmar. Aber nun hatte er sich in den Kopf gesetzt, das nur von ein wenig Personal und drei dicken Katzen bewohnte Anwesen »damentauglicher, ansehnlicher, kurzum wohnlicher« zu machen. Vorschläge wollte er dabei allerdings ebenso wenig hören wie die Meinung seines Adjutanten, auch wenn er ihn oft danach fragte.

»Was hältst du von einer Blumenvase, Ensignio, hm?«

»Sicher eine gute Idee, Capitan«, antwortete dieser höflich. Er verstand nichts von Inneneinrichtung, aber seine Erfahrung zeigte, dass Zustimmung in solch einer Situation die beste Wahl war. Er wusste ohnehin, was gleich folgen würde.

»Dann kümmere dich darum. Eine, besser noch zwei, mittelgroß und nicht zu teuer.«

»Ja, Capitan.«

»Gut und …«

… passend zum Teppich, hatte der Capitan sagen wollen und dabei auf eben diesen geblickt.

Mittlerweile hatte es sich die Katze dort wieder gemütlich gemacht, und zwar direkt an seine frisch polierten Stiefel gekuschelt! Dreistes Vieh!

»Erledige das einfach!«

»Sehr wohl, Capitan.« Ensignio Arator eilte davon, bevor seinem Vorgesetzten noch etwas Weiteres einfiel, das er ihn besorgen schicken konnte. Wie etwa neue Vorhänge, eine neue Zimmereinrichtung oder gleich ein komplett neues Haus.

Capitan ya Frecelli seufzte und schob die Katze ungehalten von seinen eben noch makellosen Stiefeln. Sein Adjutant war keine große Hilfe, wenn es darum ging, das Haus so zu gestalten, dass es einer Dame gefallen würde. Der Ensignio verstand mehr von Schiffen und Marinebuchhaltung. Immerhin, denn als guter Adjutant war dies sein eigentliches Aufgabengebiet, aber dennoch erfüllte es den Capitan mit leichtem Zorn.

Es sollte schließlich alles perfekt sein, wenn seine zukünftige Gattin hier einzog!

Er zweifelte nicht einen Augenblick daran, dass es seinem Cousin gelungen war, seine Briefe an eine geeignete Heiratsvermittlung zu überbringen, die eine passende Ehefrau für ihn fand. Pericomo war zwar ein Taugenichts mit dem Kopf voller Rosen und Gartenwege, der sich wenig für Pflichten interessierte und lieber in den Tag hineinlebte, doch Dragio wäre nie so weit gegangen, seinem Cousin komplette Unfähigkeit zu unterstellen. In einigen Monden, vielleicht schon Wochen, würde er wie explizit erbeten gemeinsam mit seiner Zukünftigen hier ankommen.

Nachdem er die passenden Gelegenheiten dazu stets zugunsten seiner Karriere hintangestellt hatte, verspürte Capitan ya Frecelli mittlerweile doch den Wunsch nach einer eigenen Familie. Zu sehen, wie andere Kapitäne von Ehepartnern und Kindern willkommen geheißen wurden, erfüllte ihn mit Neid. Auch wenn er dies nie zugegeben hätte, ein Edelmann stand schließlich über solch kleinlichen Anwandlungen.

Zeit, eine Frau zu suchen, hatte er aber keine. Die bürgerlichen und teils bettelarmen Siedlerinnen kamen nicht in Frage, und eine romantische Annäherung mit einer standesgemäßen Forscherin oder auch einer Kapitänskollegin aus der Marine war ihm zu langwierig und zu unsicher. Etwas so Bedeutsames wie die Wahl eines passenden Ehepartners überließ man besser Spezialisten.

Es war dann nur seine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die Ausgewählte auch bei ihm bleiben wollte. Und dafür musste er etwas zu bieten haben, das ihr seine Zuneigung deutlich zeigte. Wie eben ein gemütliches Haus. Vielleicht hätte er doch noch eine dritte Blumenvase ordern sollen? Oder einen weiteren Kerzenleuchter?

Ach, es war kompliziert!

Der Capitan schnaufte unwillig und schreckte damit erneut die Katze hoch.

Auf See war das Leben einfach, denn jede Entscheidung, die er dort traf, hatte überschaubare Konsequenzen. Wenn es zu wenig Verpflegung an Bord gab, hungerten alle, wenn man die Seeleute nicht unter Kontrolle hielt, meuterten sie, und wenn er Piratenschiffe nicht angriff, würden sie es tun.

Womöglich mochte seine Zukünftige aber keine Katzen oder hätte das Esszimmer lieber im ersten Stock statt im Erdgeschoss. Und dann? Was sollte er dann tun?

»Warte doch einfach ab und frag sie«, hatte ihm Capitana de Tervilio gestern geraten, als sie nach mehreren Monden auf See wieder in den Hafen eingelaufen war und feststellen musste, dass er seine Umgebung nervös machte.

»Einfach abwarten? Ich muss ihr doch etwas bieten und zeigen, dass ich ihrer würdig bin!«, hatte er den Vorschlag seiner Kapitänskollegin empört zurückgewiesen.

Doch diese hatte nur gelacht und den Kopf geschüttelt.

Sicher, er hatte durchaus etwas vorzuweisen, versicherte er sich wieder selbst: angefangen bei dem Haus und dem eigenen Kommando. Aber Capitana de Tervilio stellte sich das alles zu einfach vor! Sie hatte ihren Ehemann bei einem Aufenthalt auf dem Risso-Archipel kennengelernt, und der war glücklich damit, Fische und andere Meerestiere zu erforschen und sie auf ihren Fahrten zu begleiten.

Das gab ihr aber noch lange nicht das Recht, nach Wochen auf See im Offizierskasino mit dummen Vorschlägen um sich zu werfen! Echte Hilfe war von ihr offensichtlich auch nicht zu erwarten.

Also musste er sich wohl oder übel alleine mit der Frage nach der passenden Einrichtung beschäftigen, auch wenn er stattdessen viel lieber auf See gewesen wäre, auf der Jagd nach Piraten und al’anfanischen Freibeutern, die Kauffahrer bedrohten. Doch das nächste Versorgungsschiff wurde bald erwartet, und wie sähe es aus, wenn er dann nicht anwesend wäre, um seine Zukünftige angemessen zu begrüßen? Oder wenn ihr das Haus nicht gefiel und sie daher nicht bei ihm bleiben wollte?

Außerdem war das Kalfatern der König Dettmar noch nicht abgeschlossen. Er konnte gar nicht auf See sein, solange der Rumpf seines Schiffes nicht wieder vernünftig abgedichtet worden war.

Vorsichtig schob er die Katze zur Seite und umrundete zum vierten Mal an diesem Tag den Esstisch. Vielleicht doch keine weiteren Kerzenleuchter, das könnte überladen wirken, eher noch ein paar Kissen … »Arator!«

Doch sein Adjutant hatte wohlweislich das Haus längst verlassen.