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Schäffer-Poeschel Verlag für Wirtschaft - Steuern - Recht GmbH

[4]Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de/ abrufbar.

Print: ISBN 978-3-7910-4959-5 Bestell-Nr. 12012-0001
ePub: ISBN 978-3-7910-4960-1 Bestell-Nr. 12012-0100
ePDF: ISBN 978-3-7910-4961-8 Bestell-Nr. 12012-0150

Maurice Höfgen

Mythos Geldknappheit

1. Auflage, September 2020

© 2020 Schäffer-Poeschel Verlag für Wirtschaft · Steuern · Recht GmbH

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Lektorat: Adelheid Fleischer

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Ein Unternehmen der Haufe Group

[5]Dieses Buch ist den Millionen von Menschen gewidmet, denen die strukturelle Gewalt des Neoliberalismus die Erfüllung des individuellen Lebensentwurfes vorenthalten hat. Dieses Buch soll deutlich machen: Ein anderer Wirtschaftsentwurf ist möglich!

[7]Vorwort

Die Relevanz der Modern Monetary Theory

Die Modern Monetary Theory (MMT) wurde in den 1990er-Jahren von Warren Mosler angestoßen, der sich als Investor fragte, ob die Regierungen der Türkei oder Italiens in eine Situation der Zahlungsunfähigkeit abrutschen könnten. Die kurze Antwort war: Nein.

Diese Einsicht unterscheidet sich wesentlich von dem, was in aktuellen Lehrbüchern der Makroökonomik steht. Dort wird geschrieben, dass sich der Staat über drei Wege finanzieren kann, und zwar 1) über Steuern, 2) über Staatsanleihen und 3) über die Druckerpresse. Dabei sei allerdings nur die erste Option »nachhaltig«. Option 2 würde schon zum Risiko einer erhöhten Inflation sowie nicht »nachhaltigen« Staatsschulden führen und Option 3 müsse eigentlich immer in Hyperinflation enden.

Der Kontrast zur MMT könnte nicht größer sein. Nach dieser sind die Optionen 1 und 2 schlichtweg unmöglich. Lediglich Option 3 ist eine realistische Beschreibung unserer Geldsysteme. Der Staat kann seine Ausgaben nicht »finanzieren«. Wenn er Geld ausgibt, erhöht die Zentralbank das Guthaben einer Bank. Da dies auf den Computern der Zentralbank stattfindet, können die Zahlen von nirgendwo herkommen. Der Staat kann seine Ausgaben also nicht »finanzieren«, indem er vorher Einnahmen erzielt.

Wir Haushalte hingegen müssen unsere Ausgaben sehr wohl finanzieren. Bevor ich Geld ausgeben kann, muss ich welches einnehmen. Ich bin daher ein Nutzer der Währung – im Unterschied zum Staat, der der Schöpfer der Währung ist. Für mich ist Geld knapp, für den Staat nicht. Geld ist dabei nichts anderes als eine Steuergutschrift des Staates. Der Staat verspricht bei der Ausgabe der staatlichen Währung lediglich, dass er diese für Steuerzahlungen – und andere an den Staat gerichtete Zahlungen (z. B. Gebühren) – annimmt. Geld ist also ein rechtliches Konstrukt und kein wirtschaftliches.

Zudem erzeugen staatliche Ausgaben Ersparnisse bei den Haushalten. Wenn der Staat 1 Mrd. Euro ausgibt, dann erzeugt er dabei bei uns 1 Mrd. Euro an Ersparnis. Wenn ich das Geld ausgebe, wandert die Ersparnis von mir zum Empfänger. Wir können also die Ersparnis, die der Staat durch seine Ausgaben erzeugt, nicht loswerden. Dazu brauchen wir wieder den Staat, denn nur Steuerzahlungen reduzieren unsere Ersparnisse – alle privaten Haushalte als Ganzes gesehen. Wenn der Staat ein Defizit hat, dann haben wir Haushalte einen Überschuss. Die Ersparnis summiert sich dabei über die Zeit zum Geldvermögen. Das ist für uns als Individuen vermeintlich gut. Überschüsse des Staates hingegen sind Defizite der Haushalte. Das ist für uns vermeintlich schlecht.

[8]Diese Sicht auf die Dinge unterscheidet die MMT von der sogenannten Neoklassik, der Ökonomik aus den Lehrbüchern. Dort konkurriert der Staat mit dem privaten Sektor um knappe Ersparnisse. Mehrausgaben des Staates sorgen für höhere Zinsen und damit für geringere private Investitionen. In den Lehrbüchern reichen die Banken die Ersparnisse der Sparer an die Investoren weiter. Kreditschöpfung? Vielleicht in einer Fußnote erwähnt. Dabei schreibt inzwischen selbst die Bundesbank, dass Banken bei der Kreditvergabe Einlagen neu erzeugen und dazu nicht auf Ersparnisse oder Guthaben bei der Zentralbank zurückgreifen.1

Wer MMT verstanden hat, der wird ein völlig anderes Verständnis von Wirtschaft haben. Die Rolle des Staates ist viel wichtiger, als es die Lehrbücher der Volkswissenschaft suggerieren. Der Staat – das erkennen wir alle in der Coronakrise – kann unbegrenzt Ausgaben tätigen. Die Geldschöpfung der Zentralbanken ist kostenlos und kennt kein Limit.

Gilt dies nur in Krisenzeiten? Nein, das tut es nicht. Der Staat kann immer über sein Geld Ressourcen für seine Zwecke einsetzen. Staatsverschuldung ist dabei kein Problem, der Staat kann ja beliebig Geld erzeugen. Was aber begrenzt dann die Staatsausgaben? Es sind die Ressourcen, die begrenzt sind. Deren Vorhandensein begrenzt auch das Handeln des Staates. Dieser kann nur das kaufen, was ihm für sein Geld angeboten wird.

Während private Firmen Profite erzielen müssen, um ihre Verschuldung zu tilgen oder Dividenden zu verteilen, kann der Staat mit Blick auf das Gemeinwohl handeln. Er muss seine Verschuldung nur überwälzen und das befreit ihn vom Zwang, monetäre Gewinne erwirtschaften zu müssen. Wenn wir also in der Wirtschaftspolitik weniger Profitorientierung und mehr Gemeinwohl haben wollen, dann brauchen wir den Staat.

Die großen Probleme unserer Zeit sind die Ungleichheit, der Klimawandel und die unfreiwillige Arbeitslosigkeit. Durch ungebremste Märkte und passive Wirtschaftspolitik sind diese Probleme in den letzten Jahrzehnten entstanden. Die Politik hat die Macht den Unternehmen übergeben und diese haben sie zwecks Profitmaximierung und Befriedigung der Anteilseigner gnadenlos ausgenutzt. Dafür wurden viele Politiker mit Posten in der Wirtschaft entlohnt, die freilich sehr gut, gar besser als die politischen Ämter bezahlt werden. Diese Variante des neoliberalen Kapitalismus hat ausgedient, denn sie kann nicht die Probleme lösen, die durch sie selbst erst entstanden sind.

Private Unternehmen sind ein Mittel zum Zweck. Ihre Profitorientierung soll eigentlich dafür sorgen, dass sich nur die besten Unternehmen durchsetzen. Allerdings scheint [9]dieser Mechanismus nicht so zu funktionieren, dass wir alle etwas davon haben. Private Gewinne scheinen immer mehr mit sozialen Kosten einherzugehen, die auf uns abgeschoben werden. Dies wird heute in Anbetracht der Klimaprobleme offenbar, aber zeigte sich auch schon in der großen Finanzkrise von 2008/09 bereits sehr deutlich.

Wenn wir die Probleme unserer Gesellschaft lösen wollen, die privaten Unternehmen uns in diesem Vorhaben aber nicht vorwärtsbringen, dann bleibt nur die Schlussfolgerung, dass wir mehr Staat brauchen. Das erste Gegenargument zu mehr staatlichen Aktivitäten ist die Frage: »Wie sollen wir das bezahlen?« Die Antwort der MMT ist: »So wie wir die anderen Ausgaben des Staates auch bezahlen.« Sollten uns dabei politische Regeln im Weg stehen, können diese verändert oder abgeschafft werden. Sobald die Finanzierungsfrage aus dem Weg ist, kommen wir zu den wirklich wichtigen Fragen:

»Wie wollen wir leben?«;

»Welche Rechte sollen die BürgerInnen haben?«;

»Was sind die Ziele unseres menschlichen Zusammenlebens?«;

»Wie kann uns der Staat dabei unterstützen, unsere individuellen und gemeinschaftlichen Ziele zu erreichen?«;

»Welche Bereiche unseres Lebens sollen vom Markt dominiert werden und welche nicht?«;

»Wie müssen wir Unternehmen und Märkte regulieren, damit sie mit ihrem Lobbyismus und ihrem Geld nicht die Demokratie aushebeln?«.

Ich habe die große Hoffnung, dass dieses Buch von Maurice Höfgen dazu beitragen wird, die Öffentlichkeit über die Funktionsweise unserer modernen Geldsysteme aufzuklären.

Aufgrund des Klimawandels wäre es zudem höchste Zeit, unsere Rolle als Menschen neu zu definieren. Wir sind verantwortlich für unsere Umwelt. Das Zeitalter des Anthropozäns ist das Erwachsenwerden des Menschen, der seinen Einfluss und auch die Probleme, die sein wirtschaftliches Handeln erzeugt, erkennt. Die Aufklärung hat die Idee populär gemacht, dass wir die beste aller Welten erzeugen können, wenn wir als vernünftige Individuen zusammenleben und Kollektive aller Art zurückdrängen. Diese Idee ist im 21. Jahrhundert gescheitert. Wir brauchen das Kollektiv, um individuelles Fehlver[10]halten zu verhindern. Wir brauchen unsere Demokratie, um ausdrücken und durchsetzen zu können, was wir wollen und was wir nicht wollen.

Der Kapitalismus in der Ausgestaltung des Neoliberalismus basierte auf der Idee, dass das Rezept »mehr Markt und weniger Staat« uns ins Nirvana führen würde. Dieser übermäßige Glaube an den Markt war nicht vernünftig, sondern die Basis einer Ideologie. Der Mensch müsse nur den Profit maximieren, im Zweifelsfall auch den Profit, der aus der Optimierung und Ausnutzung seines eigenen Humankapitals entstehen würde – so die Haltung. Die Frage nach dem Sinn des Lebens war für das Individuum damit vermeintlich gelöst.

Mit ein bisschen Glück erwartet uns nun ein neues »goldenes Zeitalter«, in der die alten Ideologien überwunden werden. Die Zukunft wäre dann zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte wirklich offen. Wir alle bestimmen über unsere Demokratien und darüber, wo es entlang geht. Wäre es nicht spannend, dies zu erleben?

Dr. Dirk Ehnts

Berlin, Juni 2020


1 Vgl. Bundesbank (2017). Die Rolle von Banken, Nichtbanken und Zentralbank im Geldschöpfungsprozess. Monatsbericht. April. Frankfurt am Main, S. 13–33.

[11]Danksagung

Intellektuell stehe ich besonders in der Schuld von Bill Mitchell, Randy Wray, Warren Mosler, Stephanie Kelton, Fadhel Kaboub, Scott Fullwiler, Pavlina Tcherneva, Steven Hail, Nathan Tankus, Rohan Grey, Steve Keen, Heiner Flassbeck und Dirk Ehnts, dem ich als Dozenten, Forschungskollegen und Freund einen besonderen Dank aussprechen möchte.

Darüber hinaus gilt mein Dank:

Alle verbliebenen Fehler liegen vollständig in meiner Verantwortung.

[17]Einleitung: Die Wirtschaft als Mittel zum Zweck

»The game of policy-making is rigged; the theory used determines the questions that are asked and the options that are presented. The prince is constrained by the theory of his intellectuals.«

Hyman P. Minsky

»The problem of money cannot be separated from the problems of economics generally just as the problems of economics cannot be separated from the larger problems of human prosperity, peace, and survival.«

Abba Lerner

Wie soll die Welt in fünf, zehn oder fünfzig Jahren idealerweise aussehen? Welche Reformen bräuchte es Ihrer Meinung nach, um dorthin zu gelangen? Was immer Ihre Antworten auf diese Fragen sind, am Geld muss es nicht scheitern. All das, wozu wir technisch in der Lage sind und worauf wir uns demokratisch einigen können, können wir uns auch leisten. Eine Zukunft in nachhaltigem Wohlstand und in Abwesenheit von Existenzängsten ist möglich. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass wir unser ökonomisches Denken und unsere Wirtschaftspolitik schnellstmöglich in Ordnung bringen. Das erfordert, dass wir verstehen, wie unser modernes Geldsystem funktioniert und wie wir jenes im Sinne des Gemeinwohls nutzen können. Darum soll es in diesem Buch gehen: eine Erklärung der Funktionsweise unseres Geldsystems, der grundlegenden ökonomischen Zusammenhänge sowie darauf aufbauende, progressive Vorschläge für eine Zukunft in Prosperität, Solidarität und Nachhaltigkeit.

Margaret Thatcher, ehemalige Premierministerin des Vereinigten Königreichs, prägte ihrerzeit den Satz »There is no alternative«, der zum Sinnbild des neoliberalen Dogmas wurde, das heute noch sowohl den öffentlichen Diskurs, die Politik als auch die Universitäten dominiert. Bedeutende gesellschaftliche Probleme sind nach wie vor ungelöst bzw. wurden durch den seit den 1980er-Jahren aufblühenden neoliberalen Zeitgeist gar noch verstärkt. Unfreiwillige Arbeitslosigkeit zerstört individuelle Lebensentwürfe und lässt Familien auseinanderbrechen. Armut ist – auch in vermeintlich reichen Gesellschaften – immer noch nicht überwunden. Staatliche soziale Sicherheitsnetze sind lückenhaft, sodass vor allem untere Einkommensgruppen von Existenzängsten geplagt werden. Der demografische Wandel bringt ausgedünnte Pflege- und Gesundheitssysteme an ihre Belastungsgrenze. Die Einkommens- und Vermögensungleichheit hat Ausmaße angenommen, die den sozialen Frieden und das Funktionieren der Demokratie infrage stellen. Wir riskieren mit dem menschengemachten Klimawandel unsere Existenz auf [18]diesem Planeten. Klimawandel, Kriege, Hunger und Perspektivlosigkeit zwingen Millionen Menschen dazu, ihre Heimat zu verlassen und eine neue Bleibe zu finden. Vielfach herrscht Ellbogen statt Kooperation. So viel zum Zustand unserer Welt.

Nebst diesen Problemen ist ein politisches Repräsentationsproblem entstanden. Die vielen Menschen, die von den genannten Problemen in ihrem Lebensalltag betroffen sind, fühlen sich von den Mainstreamparteien – inklusive der Sozialdemokraten, die sich ja historisch dem politischen Kampf für die betroffenen Menschen angenommen haben – nicht mehr vertreten. Mit Ausnahme einiger temporärer Lichtblicke von links, wie derer Bernie Sanders’ und Jeremy Corbyns, sowie der zwischenzeitigen Wahlerfolge von Podemos in Spanien oder von SYRIZA in Griechenland, führt die Repräsentationslücke jedoch bisher leider zu einem politischen Rechtsruck. Die politische Linke schafft es in vielen Ländern nicht, sich als attraktive und glaubhafte Alternative zum Neoliberalismus – als Alternative zu Austerität, Privatisierung und Deregulierung – zu positionieren. Das liegt zum einen daran, dass Parteien des linken Spektrums, allen voran die sozialdemokratischen Parteien, an der Durchsetzung der neoliberalen Ideale vielfach aktiv und maßgeblich beteiligt waren und damit politische Glaubwürdigkeit eingebüßt haben.1 Erwähnt sei in diesem Zusammenhang die Liberalisierung von Güter- und Kapitalmärkten, die Kürzung und Privatisierung staatlicher Daseinsvorsorge in Form von Renten, Arbeitslosengeldern und staatlicher Infrastruktur, die Deregulierung der Finanzmärkte, die Senkung der Reallöhne oder die Schwächung der Gewerkschaften als wichtigste Interessensvertretung der Arbeitnehmer.2 Zum anderen ist der Großteil der politischen Linken in den ökonomischen Mythen des Mainstreams gefangen und folgt den »Sachzwängen« der globalisierten Weltwirtschaft, die in den Medien und selbst an Universitäten täglich reproduziert werden. Das linke Spektrum ist dem Irrglauben verfallen, dass der Nationalstaat im Kontext der Globalisierung und transnationalen Waren- und Kapitalverkehrs machtlos geworden sei. Man vermag die Frage zu stellen: Wenn der Nationalstaat so machtlos ist, warum geben Konzerne und Vermögende dann so viel Geld für Lobbyismus aus?

Zu den »Sachzwängen« gehören, dass eine lebensstandardsichernde Rente, umfassende Gesundheits- und Pflegeversorgung, erstklassige Bildung und eine Modernisierung der Infrastruktur nicht mehr finanzierbar seien oder dass dem Staat angesichts der Globalisierung bei der Verfolgung einer gemeinwohlorientierten Politik die Hände [19]gebunden seien. Diese Mythen sollen sich zwar bei einem Verständnis der ökonomischen Zusammenhänge als bloße Fiktion herausstellen, wie ich in diesem Buch zeigen werde, fungieren aber effektiv als Zwangsjacke für progressive Wirtschaftspolitik. So bitter es ist: Sowohl Linke als auch Konservative erkennen ihre eigenen Widersprüche nicht und sorgen so für eine gesellschaftlich bedenkliche, gefährliche Repräsentationslücke. Wer also den politischen Rechtsruck zu adressieren beabsichtigt, kommt um eine wirtschaftspolitische Neuausrichtung und eine Abkehr vom Neoliberalismus nicht herum. Dazu gehört auch eine Abkehr vom übermäßigen Individualismus, der zu einer Atomisierung der Gesellschaft geführt hat. Das linke Spektrum gibt sich zu oft mit moralischer Überlegenheit zufrieden und verzettelt sich in Kulturkämpfen, aber verpasst dringend benötigte Wahlerfolge und verliert dadurch mehr und mehr den Anschluss an die Klasse der am meisten Benachteiligten – und damit vor allem auch an Nicht- und Protestwähler. Diverse Umfragen zeigen, dass es in der Gesellschaft Mehrheiten für soziale Kernthemen gibt, vom Mindestlohn über Arbeitsschutz bis zum Wunsch nach sinnstiftender Beschäftigung und der Ausweitung öffentlicher Daseinsvorsorge, die sich in den Mehrheitsverhältnissen der Parteien aber nicht widerspiegeln. Um diese Mehrheiten (wieder) zu gewinnen, braucht es eine progressive Utopie, die in eine neue Rahmenerzählung eingebettet ist. Eine Rahmenerzählung, die die originären Bedürfnisse der Menschen nach Sicherheit, Zusammenhalt und Mitbestimmung ins Zentrum stellt und den Staat als (monetär) souveräne, demokratische, dynamische, fürsorgliche Institution konzeptualisiert. Eine Rahmenerzählung, die ein solidarisches Wir-Gefühl und einen Aufbruch in die Zukunft vermittelt. Dazu gehört zwingendermaßen, den ökonomischen Mythen und der neoliberalen Globalisierung den Rücken zu kehren!

Die drängenden Herausforderungen unserer Zeit haben natürlich multiple Ursachen, die – salopp gesprochen – nicht auf einen Bierdeckel passen. Ein Faktor aber, der allen zuvor genannten Problemen sowie deren fatalen sozioökonomischen Konsequenzen zugrunde liegt, ist die Tatsache, dass der Mainstream der ökonomischen Wissenschaft seit Jahrzehnten keinen Fortschritt gemacht hat. Im Gegenteil: Viele Einsichten herausragender Wissenschaftler scheinen den neoliberalen Filter nicht passiert zu haben und aus ideologischen Gründen aussortiert worden zu sein. Schaut man sich die Positionen der zum Mainstream zählenden Ökonomen, die sowohl die Forschung, Publikation als auch die Lehre an den Universitäten dominieren, an, muss man feststellen, dass wir in einem dunklen Zeitalter der ökonomischen Wissenschaft leben – insbesondere im Bereich der Makroökonomie. Dabei ist der Einfluss der Ökonomik auf die Wirtschaftspolitik der zentrale Stellhebel für gesellschaftlichen Fortschritt. Bedauerlicherweise muss man jedoch konstatieren: In den letzten Jahrzehnten hat sich dieser Einfluss eher als [20]Barriere für echte und weitreichende Fortschritte erwiesen – zulasten der Verlierer neoliberaler Globalisierung.

Bill Bryson schreibt in seinem Buch »A Short History of Nearly Everything« über die widrige Haltung, die die große Mehrheit ihrerzeit führender Geowissenschaftler der Auffassung, dass Kontinentalplatten, anders als bisher angenommen, nicht fixiert sind, sondern sich mit der Zeit verschieben und gar kollidieren, entgegenbrachten. Trotz überwältigender Beweislage dauerte es mehr als 50 Jahre, bis die Plattentektonik als wissenschaftlicher Konsens akzeptiert wurde.3 Ein halbes Jahrhundert war die heute als selbstverständlich erachtete Plattentektonik etwas, das führende Geowissenschaftler ablehnten. Ähnliche Beispiele gibt es auch aus anderen wissenschaftlichen Bereichen. Es ist also mitnichten nur der Ökonomik gemein, dass die Mehrheit der vermeintlich »führenden« Wissenschaftler sich schwerwiegend und kollektiv irren können. Nun stellen Sie sich aber vor, dass der Lebensstandard und das Wohlbefinden der Bevölkerung von der Theorie der Plattentektonik und der Annahme, dass Kontinentalplatten örtlich fixiert seien, abhängig gewesen wäre. 50 Jahre wissenschaftliche Ignoranz und Scheuklappen der Mehrheit der Wissenschaftler hätten fatale Folgen gehabt. Genau dieser Umstand beschreibt leider die letzten Jahrzehnte der ökonomischen Wissenschaft. Ohne Frage: Für gesellschaftlichen Fortschritt und eine gerechte, wohlhabende und nachhaltige Zukunft braucht es neue Lösungen – aus neuen Denkschulen. Um es mit Einsteins Worten zu sagen: »Probleme lassen sich nicht mit der gleichen Denke lösen, mit der sie entstanden sind«.

Es bedarf einer Abkehr der neoliberalen Denke, wonach die Wirtschaft, wie in Abbildung 1 (unterhalb) dargestellt, als ein übergeordneter Selbstzweck, dem Mensch und Natur in untergeordneter Weise zu dienen haben, verstanden wird. Stattdessen sollten wir das Wirtschaftssystem als Mittel zum Zweck und nicht als ein nobles Ziel an sich betrachten. Die Wirtschaft dient den Menschen innerhalb derer natürlicher Umwelt – nicht andersherum – und kann dabei nach eigenen Vorstellungen und Bedürfnissen gestaltet werden. All die Institutionen, Regeln, Gesetze und Organisationsformen, die unser heutiges Wirtschaftssystem auszeichnen und unser Wohlergehen unmittelbar und nachhaltig beeinflussen, sind von uns geschaffen worden und können auch von uns geändert werden. Alles sozial Konstruierte kann neu gedacht und neu designt werden.

[21]Abbildung

Abbildung 1: Die zwei Sichtweisen zur Rolle der Wirtschaft

Der demokratisch legitimierte Staat ist dabei die Institution, die den größten Einfluss auf die Ausgestaltung des Wirtschaftssystems hat. Nicht der Markt oder das Unternehmertum, sondern der Staat und dessen Wirtschaftspolitik bilden das Zentrum des Systems. Das heißt: Wir müssen über den Staat und dessen Wirtschaftspolitik sprechen. Und, ja, wir müssen auch über Geld sprechen.

Geld ist eine nützliche Erfindung – vielleicht die nützlichste Erfindung, die jemals gemacht wurde. Leider scheint es, als hätten wir vergessen, wie wir diese Erfindung bestmöglich für unsere Gesellschaft einsetzen. Der originäre Zweck des Geldsystems ist die Ermöglichung einer adäquaten Bewirtschaftung und Auslastung der vorhandenen Ressourcen zwecks Herstellung der Güter und Dienstleistungen, die unsere Bedürfnisse und Wünsche stillen. In Anbetracht der weitverbreiteten Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung sowie der mangelnden öffentlichen Daseinsvorsorge und verfallenden Infrastruktur, die allesamt als Beweis dafür gelten, dass wir unterhalb unserer Möglichkeiten leben und die Wirtschaft unterhalb ihrer Möglichkeiten auslasten, scheint dieses Verständnis im ökonomischen, öffentlichen sowie politischen Diskurs nicht existent.

In der Tat sind folgenreiche Missverständnisse zur Funktionsweise unseres heutigen Geldsystems – vor allem, was die Rolle des Staates als Herausgeber der Währung und den sich daraus ergebenden Handlungsspielräumen betrifft – in Wissenschaft, Medien und Politik weit verbreitet und tief verfestigt. Staatsschulden werden als Belastung für zukünftige Generationen gesehen. Staatliche Defizite werden hysterisch verteufelt. Der Staat funktioniere wie ein von uns geführter Privathaushalt. Wer nicht genügend einnimmt, um seine Rechnungen zu bezahlen, der wirtschaftet schlecht, der hat unternehmerisch versagt – so das verbreitete Narrativ, das an unsere eigenen Erfahrungen des Wirtschaftens appelliert und daher oberflächlich und intuitiv richtig erscheint. Da unsere Geisteshaltungen ein Produkt unseres Umfeldes sind, maßgeblich geprägt von den Strukturen, den Normen und den verfestigten Denkmustern, in denen wir aufgewachsen sind und die wir so passiv übernommen haben, ist es ratsam, dass wir unserer [22]Intuition nicht immer unkritisch folgen. Bezeichnenderweise ist es dieselbe Margaret Thatcher, von der die bekannte neoliberale Phrase »There is no alternative!« stammt, die auch den Geist der Geldknappheit prägte, indem sie sagte: »There is no such thing as public money, there is only taxpayers’ money«, zu Deutsch: »So etwas wie staatliches Geld gibt es nicht, es gibt nur das Geld der Steuerzahler«. Wie in diesem Buch aufgedeckt werden wird, ist genau das Gegenteil wahr: »There is no such thing as taxpayer’s money, there is only public money«, zu Deutsch: »So etwas wie das Geld des Steuerzahlers gibt es nicht, es gibt nur staatliches Geld«.

Was die Ökonomie anbelangt, denken wir zumeist in falschen Mustern und legen häufig verkehrte Maßstäbe an. Insbesondere unsere Auffassung vom Konzept der Knappheit ist verzerrt. Während wir Geld als knappe Ressource begreifen, behandeln wir natürliche Ressourcen so, als hätten wir unendlich davon. Dabei ist genau das Gegenteil der Fall. Geld als soziales Konstrukt unterliegt keiner natürlichen Knappheit, Ressourcen hingegen schon. Das, was wir uns gesellschaftlich leisten können, ist keine Finanzierungsfrage, sondern eine Frage der Ressourcen. Die finanzielle Kapazität eines währungsherausgebenden Staates ist kein Kuchen, der kleiner wird, sobald man ein Stück abschneidet – eine der wohl wichtigsten Einsichten, die vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Herausforderungen, in die wir uns hineinmanövriert haben, schnellstmöglich in der Wirtschaftspolitik ankommen muss.

Die Funktionsweise des Geldsystems scheint die größte intellektuelle Hürde für die Umsetzung einer gemeinwohlorientierten Wirtschaftspolitik unserer Zeit zu sein. Wie aber können wir erwarten, dass die Wirtschaftspolitik die richtigen Antworten auf die gesellschaftlichen Herausforderungen findet, wenn sie noch nicht einmal die richtigen Fragen stellt? Kein Wunder, dass wir politisches Klein-Klein, ein Verzetteln in unsinnigen Debatten und ein Auf-der-Stelle-Treten erleben.

Während in der Eurozone das Geldsystem derart ausgestaltet ist, dass es die Hände der Regierungen der Mitgliedsländer wirtschaftspolitisch in Ketten legt – manchen Ländern, wie etwa Griechenland, Spanien oder Italien, sogar die Luft zum Atmen nimmt –, wird in anderen Ländern, etwa denen, die ihre eigene Währung ausgeben, der vorhandene wirtschaftspolitische Handlungsspielraum schlicht nicht erkannt und nicht genutzt. Überdies schikanieren die verfestigten ökonomischen Mythen die Demokratie, deren wichtigste Funktionsbedingung die Verfügbarkeit von korrekten Informationen ist. Solange Universitäten, Politiker und Medien aber mit irrtümlichen Narrativen den öffentlichen Diskurs und damit unsere Wahlentscheidungen manipulieren können, wird es schwierig, demokratische Mehrheiten für eine Wirtschaftspolitik zu gewinnen, die die bevorstehenden gesellschaftlichen Herausforderungen zu lösen vermag. Daraus wird die Bedeu[23]tung ökonomischer Aufklärung ersichtlich. Lassen wir uns nicht länger von den falschen Leuten die Welt falsch erklären.

Nur ein Verständnis des Geldsystems ermöglicht es uns, die richtigen Fragen zu stellen und progressive Antworten auf die gesellschaftlichen Problemstellungen zu finden. In diesem Geist ist dieses Buch aufgebaut. Bevor wir zu den wirtschaftspolitischen Reformvorschlägen, also zu der Frage, wie eine progressive Wirtschaftspolitik aussehen sollte, kommen, müssen wir uns dem Gerüst des Geldsystems, der Herkunft des Geldes, der Bedeutung monetärer Souveränität und anderen Aspekten wie Inflation, Steuern und Staatsanleihen widmen. Gewissermaßen einen Schritt zurück, zwei Schritte nach vorne. Nur ein modernes Verständnis des Geldsystems und der makroökonomischen Zusammenhänge bringt nämlich neue Lösungsansätze auf den Tisch. Lösungsansätze, die es für einen wirtschaftspolitischen Aufbruch braucht. Für eine Wirtschaftspolitik, die an funktionalen Zielen, wie z. B. der Vermeidung unfreiwilliger Arbeitslosigkeit oder der Transformation auf eine ökologisch nachhaltige Produktionsweise, und nicht an beliebigen Finanzkennzahlen, wie z. B. der Höhe des Staatsdefizits, gemessen wird. Für eine Wirtschaftspolitik, die eine adäquate und nachhaltige Bewirtschaftung unserer Ressourcen ermöglicht und uns so zu einem höheren Lebensstandard verhilft. Im Kern geht es darum: Wie setzen wir unsere realen Ressourcen (Technologie, Arbeitskraft, Energie, Land, natürliche Ressourcen etc.) bestmöglich ein, um unsere gesellschaftlichen Zielvorstellungen, das größtmögliche Gemeinwohl, zu erreichen. Wenn wir eine Antwort darauf finden, dann kann das Geldsystem die Umsetzung ermöglichen. Ein anderer Wirtschaftsentwurf ist möglich. Eine für die breite Bevölkerungsmehrheit attraktive Alternative zum Neoliberalismus ist möglich. Lassen Sie uns dafür den Staat und dessen Möglichkeiten neu denken. Nichts ist alternativlos!

Einleitend muss gesagt werden, dass die Ausführungen zum Geldsystem sowie die darauf aufbauenden Schlussfolgerungen maßgeblich durch die Denkschule der Modern Monetary Theory (MMT) inspiriert sind. Diese Denkschule wurde von Warren Mosler, Bill Mitchell, Randall Wray und Mathew Forstater vor mehr als 20 Jahren geformt und steht auf den intellektuellen Schultern von Georg Friedrich Knapp, Mitchell A. Innes, John Maynard Keynes, Abba Lerner, Hyman Minsky und Wynne Godley. Was die MMT von anderen Denkschulen unterscheidet, ist die Tatsache, dass sie die Funktionsweise des Geldsystems als Ausgangspunkt der ökonomischen Analyse nimmt. Die zurzeit prominenteste Vertreterin ist Stephanie Kelton, die unter anderem Bernie Sanders in den USA wirtschaftspolitisch berät. Am Ende des Buches finden Sie vertiefende Literaturempfehlungen.

[24]Ferner sei noch angemerkt, dass ich mich dazu entschieden habe, in diesem Buch keinen durchgehenden Bezug zu einem bestimmten Land oder einem bestimmten Geldsystem herzustellen. Das naheliegendste Beispiel wäre für die meisten Leser natürlich Deutschland gewesen, aber aufgrund der Nutzung des Euros sowie weiterer selbst auferlegter Beeinträchtigungen eignet sich Deutschland nicht als leicht verständliches Anschauungsbeispiel. Die durch das Eurokonstrukt begründeten Denkbarrieren, die ich trotzdem in einem eigenen Kapitel behandle, möchte ich Ihnen ersparen. Sofern nicht anders beschrieben, gehen Sie also während des Lesens am besten von einem Staat, der seine eigene Währung herausgibt und über eine eigene Zentralbank verfügt, aus. Was nach zwei Jahrzenten des Euros für unsere Verhältnisse nicht intuitiv erscheinen mag, gilt aber tatsächlich für die überwiegende Anzahl der Staaten. Beispiele hierfür sind die USA, das Vereinigte Königreich, Japan, China, Australien, Kanada, Polen, Schweden, Brasilien, Mexiko und viele mehr. Ich verspreche mir davon, Ihnen eine neue Sicht- und Denkweise zu ermöglichen und aufzuzeigen, welche Auswirkungen die Entscheidung über eine eigene Währung auf die wirtschaftspolitischen Möglichkeiten hat.

Im Sinne der besseren Lesbarkeit werde ich das generische Maskulinum verwenden. Angesprochen sind aber immer und ausdrücklich alle Menschen unabhängig ihres Geschlechts oder anderer Identitätsmerkmale.

Um dieses Buch mit mir oder anderen Lesern zu diskutieren, treten Sie gerne der Facebook-Gruppe »MMT Deutschland« bei oder verwenden Sie bei Diskussionen in den sozialen Medien den Hashtag #MythosGeldknappheit.


1 Das vermittelte Ideal des Neoliberalismus ist zwar oberflächlich das eines schlanken, passiven Staates, der sich aus der Wirtschaft heraushält, um die »Marktkräfte« nicht zu stören, doch hinter der Fassade steckt genau das Gegenteil: ein autoritärer Staat, der strikt im Sinne von Partikularinteressen und zulasten der unteren und mittleren Einkommensschichten reguliert sowie eine repressive Sicherheitspolitik betreibt.

2 Vgl. Mitchell, W./Fazi, T. (2017). Reclaiming the state: University of Chicago Press Economics Books.

3 Vgl. Bryson, B./Matthews, R. (2003). A short history of nearly everything (Vol. 33): Broadway Books New York.

[25]Einen Schritt zurück – Unser Geldsystem verstehen