Jens Flassbeck
Judith Barth
Die langen Schatten der Sucht
Behandlung komplexer Traumafolgen bei erwachsenen Kindern aus Suchtfamilien
Zu diesem Buch
Kinder, die in Suchtfamilien aufwachsen, sind multiplen Belastungen und Traumata ausgesetzt: Vernachlässigung, Tabuisierung, Parentifizierung, Beschämung, Gewalt. Um in einer so feindlichen Umgebung zu überleben, lernen diese Kinder früh, sich anzupassen und eigene Gefühle, Wünsche und Bedürfnisse zu verstecken. Als Spätfolge dieses Anpassungsprozesses leiden viele im Erwachsenenalter an diversen psychischen Störungen. Das Buch stellt geeignete Behandlungsmöglichkeiten dar, die auf einem flexiblen und prozessorientierten verhaltenstherapeutischen Repertoire basieren. Zahlreiche Fallgeschichten geben einen plastischen Eindruck von der Bandbreite der psychischen Schwierigkeiten und von den Chancen, die eine passende Behandlung bietet.
Die Reihe »Leben Lernen« stellt auf wissenschaftlicher Grundlage Ansätze und Erfahrungen moderner Psychotherapien und Beratungsformen vor; sie wendet sich an die Fachleute aus den helfenden Berufen, an psychologisch Interessierte und an alle nach Lösung ihrer Probleme Suchenden.
Alle Bücher aus der Reihe ›Leben Lernen‹ finden Sie unter:
www.klett-cotta.de/lebenlernen
Leben Lernen 316
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Klett-Cotta
www.klett-cotta.de
© 2020 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung
Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
Cover: Jutta Herden, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von © Ameen Fahmi on Unsplash
Datenkonvertierung: Kösel Media, Krugzell
Printausgabe: ISBN 978-3-608-89264-2
E-Book: ISBN 978-3-608-12055-4
PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20442-1
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Kapitel 1
Sucht ist ein Sog, der alle mit sich in den Abgrund reißt, die ihm zu nahe kommen: die Suchtkranken selbst, aber auch die Partner, Eltern, Geschwister, Arbeitskollegen oder Freunde können in Mitleidenschaft gezogen werden. Am meisten leiden Kinder unter den zerstörerischen Auswirkungen von elterlicher Sucht. Sie sind in ihrem Angewiesensein und ihrer Unreife am verletzbarsten und können durch den schwierigen Alltag in einer Suchtfamilie in ihrer gesamten Entwicklung gestört werden. Im Mittelpunkt des vorliegenden Buches stehen erwachsene Kinder, die als Folge ihres Aufwachsens in einer Suchtfamilie Traumafolgestörungen entwickelt haben. Es soll dargestellt werden, wie die Betroffenen mit Hilfe einer Psychotherapie ihre psychischen Belastungen und Beeinträchtigungen abmildern und überwinden können.
Wir werden die suchttraumatisierten erwachsenen Kinder mit zwei Metaphern bezeichnen, um verschiedene Facetten der Traumafolgestörungen zu kennzeichnen: »die stillen Kinder« und »die Helferkinder«. Diese Zuschreibungen sind nicht neu, sondern wurden schon 1981 von den amerikanischen Therapeutinnen Sharon Wegscheider-Cruse und Claudia Black beschrieben. Die Rolle der stillen Kinder wird von Wegscheider-Cruse (1989, S. 127 – 136) als »The Lost Child« bezeichnet. Black (1987, S. 24 – 48) postuliert für alle durch eine Suchtfamilie betroffenen Kinder die plakative Leitlinie: »Don’t talk, don’t trust, don’t feel«. Dies sind laut der Autorin die kardinalen Regeln, die die Betroffenen als Überlebensschutz verinnerlichen. Beide Autorinnen spielen auf die Bewältigungsstrategien der Kinder aus Suchtfamilien an, zu schweigen, sich zurückzunehmen und sich unsichtbar zu machen.
Wegscheider-Cruse (1989, S. 104 – 115) bezeichnet die zweite Rolle der Helferkinder als »The Hero«, bei Black (1987, S. 10 – 14) heißt sie »The responsible one«. Beide beschreiben, dass viele Kinder aus Suchtfamilien, vor allem die Erstgeborenen, durch eine besondere Neigung zur Verantwortungsübernahme, Eigenständigkeit und Hilfsbereitschaft gekennzeichnet sind. Black begründet diese Neigung wie folgt: »When structure and consistency are not provided by the parents, children will find a way to provide it for themselves.« Die deutsche Musiktherapeutin Barnowski-Geiser (2015, S. 104 – 111) differenziert verschiedene Facetten dieser Helferrolle mit Hilfe von literarischen Figuren: Superman, Miss Marple, Robin Hood, Mary Poppins und Mutter Teresa. Wegscheider-Cruse unterscheidet in ihrer Typologie zwischen verlorenen Kindern und Heldenkindern. Wir sind überzeugt und werden darstellen, dass sie indes nur zwei Erlebens- und Verhaltensmuster ein und derselben Gruppe beschreibt. In Kapitel 3 wird unter den Überschriften Transmission, Schemata und Ressourcen näher ausgeführt, was wir unter diesen Rollenzuschreibungen der suchttraumatisierten Kinder genauer verstehen.
Eine weitere Begrifflichkeit, mit der die Kinder aus Suchtfamilien belegt sind, ist die der »vergessenen Kinder«. Arenz-Greiving (2007) markiert 1998 mit dem Ausdruck, dass die Kinder aus Suchtfamilien vom Hilfesystem und von der Gesellschaft vergessen werden. Die Situation hat sich seitdem ein wenig verändert und ist heute differenziert zu bewerten. Wir wissen mittlerweile, dass ungefähr 30 Prozent der Kinder aus Suchtfamilien später im Leben selbst suchtkrank werden (Klein, 2005b, S. 53 – 54). Klein kommt nach Sichtung der wissenschaftlichen Untersuchungen zu dem Schluss, dass insbesondere Söhne als Risikogruppe für eine Alkoholerkrankung anzusehen sind. Diese suchtgefährdete Gruppe ist gut untersucht (Zobel, 2006) und sie wird mittlerweile in Prävention und Therapie berücksichtigt (z. B. Klein et al., 2013).
Doch schon Black (1987, S. 7 – 8) erkennt, dass es eine zweite, vernachlässigte Betroffenengruppe gibt: »While there is a substantial number of problematic children from alcoholic homes, the majority of these children simply do not draw enough attention to themselves to even be identified as being in need of special attention. They are a neglected population.« Die mittlerweile verfügbaren epidemiologischen Daten bestätigen diese Beobachtung. Klein (2005b, S. 53 – 54) quantifiziert wie folgt: »Insgesamt ist davon auszugehen, dass etwa ein Drittel der Kinder aus alkoholbelasteten Familien selbst alkohol- oder drogenabhängig wird (Klein, 2001), ein weiteres Drittel Symptome bezüglich anderer psychischer Störungen aufweisen kann, während etwa ein Drittel mehr oder weniger psychisch gesund bleibt.« Die letztgenannte Gruppe sind die sogenannten resilienten Kinder.
Das von Klein ausgemachte weitere Drittel mit psychischen Störungen entspricht der unidentifizierten Gruppe von Black. Diese besteht nach unseren klinischen Erfahrungen mehrheitlich aus Mädchen und wird immer noch von der Suchthilfe, der Gesundheitspolitik und der Forschung vergessen (Flassbeck, 2011, 2014). Eine der wenigen Ausnahmen im deutschsprachigen Raum, suchttraumatisierte erwachsene Kinder in den Mittelpunkt der Betrachtung zu rücken, ist die musikwissenschaftliche Untersuchung von Barnowski-Geiser (2009). Auf Grundlage ihrer Studien hat sie den Ratgeber »Vater, Mutter, Sucht« (2015) abgeleitet, den wir gerne begleitend in der Psychotherapie einsetzen. Weil die suchttraumatisierten Kinder vergessen werden, leiden sie still und allein. Sie reden nicht, weil ihnen in der Kindheit niemand zugehört hat und weil sie nicht gelernt haben zu reden, finden sie auch im späteren Leben niemanden, der ihnen zuhören könnte. Aufgrund dessen können sie nicht herausfinden, dass sie mit ihrem Schicksal keineswegs allein sind und ihnen Unterstützung guttun würde. Folgende Intentionen verfolgen wir mit dem vorliegenden Buch:
Wir möchten das Thema der vergessenen Kinder enttabuisieren und in den Fokus der Aufmerksamkeit stellen.
Wir möchten die Not und Leiden der stillen Kinder in Worte kleiden, ihnen ein Sprachrohr sein und einen Diskurs anregen.
Wir möchten Ihre Wahrnehmung und Urteilskraft für die Auffälligkeiten und Belastungen der scheinbar funktionierenden Helferkinder schärfen.
Wir möchten Sie ermutigen und anleiten, den Dialog mit einer sprachlosen, indes hilfebedürftigen Klientel zu suchen und ihnen angemessen therapeutisch zu begegnen.
Bedauerlicherweise gibt es zu den Kindern aus Suchtfamilien nur wenig valide Schätzungen. Dennoch wollen wir sie nutzen, um die Größenordnung der Problematik der suchttraumatisierten erwachsenen Kinder zumindest tendenziell zu bestimmen. Nach dem REITOX-Bericht 2007 (Pfeiffer-Gerschel et al., S. 47) sollen aktuell geschätzt 2,65 Millionen Kinder in Familien mit mindestens einem alkoholkranken Elternteil aufwachsen. Die Zahl der erwachsenen Kinder wird dort auf ungefähr fünf bis sechs Millionen beziffert. In Materialien zum Thema taucht immer wieder die Zahl von insgesamt drei Millionen Kindern in Suchtfamilien auf, jedes sechste Kind soll betroffen sein. Woher diese Zahlen stammen und welche elterlichen substanz- und verhaltensbezogenen Suchtstörungen in diese Zahl eingingen, war trotz umfangreicher Recherchen nicht herauszufinden.
Wir möchten dennoch diese vagen Schätzungen aufgreifen sowie die Erkrankungsrate nach Klein (2005b) zugrunde legen. Demnach sind ungefähr neun Millionen Personen aktuell oder biografisch durch eine von suchtkranken Eltern belastete Kindheit betroffen. Von diesen erkranken geschätzte drei Millionen süchtig und weitere drei Millionen psychisch als Traumafolge der elterlichen Sucht. In einer unbekannten Größe chronifizieren die süchtigen und psychischen Störungen. Selbst wenn die Betroffenen ihre abhängigen und psychischen Erkrankungen überwinden, bleibt ein beträchtliches Risiko, bei Lebensstress erneut zu dekompensieren oder sogar Retraumatisierungen zu erleiden. Ferner ist zu vermuten, dass sich in der Gruppe, die als resilient gilt, weitere stille Kinder in einer unbekannten Anzahl verstecken, die sich zwar in der Kindheit und im weiteren Leben völlig unauffällig verhalten, doch ebenfalls traumatisiert sind und weder durch die Forschung erkannt noch durch das Hilfesystem erreicht werden.
Die rare Datenlage zu den psychisch erkrankten Kindern aus Suchtfamilien soll kurz zusammengefasst werden. Das Risiko der Kinder, süchtig oder psychisch zu erkranken, ist geringer, wenn ausschließlich ein Elternteil suchtkrank ist (Klein, 2005b, S. 53). Auch haben die Kinder kein erhöhtes Erkrankungsrisiko, wenn der suchtkranke Elternteil die Sucht überwindet, solange die Kinder noch klein sind. Zobel (2006, S. 85 – 87) kommt nach Sichtung der wenigen Studien zu dem Schluss, dass eine elterliche Abhängigkeit nur dann psychische Störungen bedingt, wenn weitere elterliche Psychopathologie, Vernachlässigung, Missbrauch, ein niedriger sozioökonomischer Status oder eine mangelnde emotionale Bindung zum nicht abhängigen Elternteil hinzukommen. In diesem Fall können sich laut Zobel Angststörungen, Depressionen oder Dysthymie entwickeln.
Das naheliegende Thema der komplexen PTBS durch eine elterliche Suchtbelastung scheint bislang keine wissenschaftliche Beachtung gefunden zu haben. Zobels Hinweis, dass nicht allein die elterliche Sucht selbst, sondern vielmehr ein komplexes familiäres Geschehen aus Belastungen und Beeinträchtigungen die betroffenen Kinder schädigt, erscheint uns bedeutsam zu sein. Es ist ein definierendes Kennzeichen von vor allem chronifizierten Abhängigkeitserkrankungen, mit prädisponierenden psychosozialen Faktoren sowie ungünstigen Begleit- und Folgeerscheinungen in einer vielschichtigen Wechselwirkung zu stehen (Dilling et al., 2018, S. 113 – 116; Tretter & Müller, 2001). So geht nach Witt et al. (2019) Suchtmittelmissbrauch in der Familie mit multiplen belastenden Kindheitserlebnissen einher, und die betroffenen Kinder haben eine deutlich erhöhte Wahrscheinlichkeit, auch noch im Erwachsenenalter psychosoziale Auffälligkeiten zu entwickeln.
Obendrein ist die Koinzidenz von Abhängigkeitserkrankungen und anderen psychischen Störungen sehr hoch, und die Doppeldiagnose darf als Normalfall betrachtet werden (Schwoon, 2001). Schließlich liegen Hinweise vor, dass ebenfalls die Partner von Alkoholkranken psychosozial erheblich belastet sind (Velleman et al., 1993), überdurchschnittlich häufig aus Suchtfamilien stammen und eine erhöhte stressbedingte, psychische Erkrankungsrate aufweisen (Klein, 2001, S. 212 – 213). Wir werden aufzeigen, dass die Belastungen einer Suchtfamilie nicht ausschließlich von suchtkranken Elternteilen ausgehen, sondern ebenso andere Bezugspersonen in ihrer Überforderung daran beteiligt sind. In diesem Buch geht es um erwachsene Betroffene, die in der Kindheit einer komplex belastenden und traumatischen familiären Situation ausgesetzt waren, die durch nachstehende Auffälligkeiten definiert ist:
Ein oder zwei Elternteile waren chronisch und uneinsichtig suchtkrank.
Der andere nicht suchtkranke Elternteil und das soziale Umfeld waren mit der durch die Suchterkrankung geprägten Situation überfordert, waren psychisch labil und verhielten sich co-abhängig.
Als Folge der (Co-)Abhängigkeit und der Überforderung des familiären Systems waren die Kinder einer Reihe von Stressoren, Vernachlässigung, Beeinträchtigungen und Übergriffigkeiten dauerhaft ausgesetzt (Kapitel 2).
Es gibt neben der Gruppe der psychisch erkrankten erwachsenen Kinder zwei weitere Gruppen, auf die dieses Buch indirekt abzielt. Erstens möchten wir dazu beitragen, über die Problematik derjenigen Kinder aus Suchtfamilien aufzuklären, die als Heranwachsende oder Erwachsene selbst süchtig erkranken. Nach unseren klinischen Erfahrungen findet sich bei ungefähr einem Drittel bis zu der Hälfte der suchtkranken Patienten eine elterliche Suchtbelastung. Die Betroffenen versuchen die primäre Traumafolgestörung durch die sekundäre Suchtstörung zu bewältigen. Bei Doppeldiagnosen von psychischen und Abhängigkeitserkrankungen sind integrierte Behandlungen am wirkungsvollsten (Schwoon, 2001). Doch es existieren, auch als Folge zweier Kostenträger und unterschiedlicher Entwicklungslinien und Traditionen, zwei separate Hilfesysteme, die immer noch wenig Berührungspunkte haben und die nicht immer gut miteinander kooperieren.
Die Psychotherapie tut sich mit Abhängigkeitserkrankungen schwer, und viele Psychotherapeuten halten, mangels Qualifizierung und Erfahrung, Abstand zu der in ihren Augen anrüchigen Suchtproblematik. Und in der Suchttherapie wird überwiegend über Abhängigkeit gesprochen, doch weitere, der Sucht oft zugrunde liegende psychische Probleme werden, ebenfalls aufgrund mangelnder Qualifizierung und Erfahrung, eher stiefmütterlich behandelt. Wir möchten gerne diese Spaltung in unseren Köpfen abmildern, denn die Suchttherapie ist ein Fachgebiet der Psychotherapie, und beide Fachgebiete können immens voneinander profitieren. Beide AutorInnen sind heute ambulant als Psychologische Psychotherapeuten tätig, sind indes Grenzgänger und haben schon in psychiatrischen, psychosomatischen und suchttherapeutischen Bereichen gearbeitet. Dieses Buch ist vordergründig psychotherapeutisch, doch abhängigkeitsspezifische Modelle und Methoden werden implizit und explizit einbezogen. Dieses Buch möchte auch einen Beitrag dazu leisten, dass Suchtpatienten bedarfsgerecht behandelt werden.
Zweitens zielen wir mit unserem Anliegen indirekt auf die aktuell in Suchtfamilien aufwachsenden Kinder ab. Suchttraumatisierte Betroffene können Eltern werden oder sind schon Eltern. Es kommt den Kindern zugute, wenn den (potenziellen) Eltern angemessen geholfen wird und sie das Suchttrauma überwinden. Die Therapie des Suchttraumas ist somit auch eine präventive Maßnahme.
Das Anliegen des vorliegenden Buches hat noch eine weitere implizite Stoßrichtung. Die Helferkinder lernen die co-abhängigen Muster in der Kindheit (siehe 3.1) und ergreifen infolgedessen überdurchschnittlich häufig einen helfenden Beruf und werden z. B. Psychologen, Ärzte, Krankenpfleger, Sozialarbeiter, Pädagogen, Ergotherapeuten, Heilpädagogen, Arzthelfer oder Erzieher. Schmidbauer (1994, Original 1977) hat die narzisstische Bedürftigkeit und Abhängigkeit durch äußere Anerkennung von vielen in helfenden Berufen Tätigen in seinem Klassiker über das Helfer-Syndrom beschrieben. Als biografischen Hintergrund analysiert er die mangelnde Annahme bzw. die Ablehnung als Kind (S. 52 – 60), so wie sie Kinder in Suchtfamilien auch erleben.
Die Selbstbetroffenheit durch eine Kindheit in einer Suchtfamilie kann Helfer einerseits besonders sensibilisieren und befähigen, mit anderen Betroffenen zu arbeiten. Sie kann andererseits mit persönlichen blinden Flecken verbunden sein, die die Helfer daran hindert, die Problematik angemessen wahrzunehmen und auf sie einzugehen. Die Hilfeleistung dient in diesem Fall nicht der Unterstützung der Klientel, sondern der eigenen Bedürfnisregulation. Der Dreh- und Angelpunkt ist, ob die durch eine Suchtfamilie betroffenen Helfer die eigene Problematik ausreichend aufgearbeitet und das damit zusammenhängende Erleben repräsentiert haben. Das Verständnis der langen Schatten des familiären Suchttraumas ist gleichfalls ein Beitrag zur Aus- und Fortbildung und Supervision, auch im Sinne der Psychohygiene von hilflosen Helfern.
Die komplexe PTBS ist eine komplexe Traumafolgestörung. Weitere psychische Störungen oder multiple Störungsbilder können ebenfalls als Traumafolgestörungen einer vielschichtig belasteten und traumatischen Kindheit auftreten (Butollo & Hagl, 2003, S. 39 – 62). In Kapitel 4 werden wir aufzeigen, dass durch das spezifische Suchttrauma vor allem zwei Formen von Traumafolgestörungen ausgelöst werden können, entweder eine komplexe PTBS oder eine Mischsymptomatik. Letztere streut gewöhnlich über eine Vielzahl psychischer Störungsbilder: Depressionen, Angststörungen, posttraumatische Beschwerden, Persönlichkeitsakzentuierungen, dissoziative Beschwerden, somatoforme und psychosomatische Auffälligkeiten und abhängige Probleme (Suchtmittelmissbrauch, Bulimie, Arbeitssucht). Typisch ist es, dass bei der zweiten Form ein oder mehrere Störungen aus der vielschichtigen Symptomatik hervorstechen und das Vollbild für eine Diagnose erfüllen. Hinzu kommt bei den Helferkindern häufig eine grenzenlose Neigung, anderen (kranken oder hilflosen) Menschen zu helfen, Verantwortung an sich zu reißen und suchtkranke oder anders psychisch kranke Personen als Partner und Freunde zu wählen. Wir etikettieren diese Neigung mit dem Adjektiv co-abhängig (Flassbeck, 2016a, 2013b).
Das Traumakonzept der PTBS wird nach ICD-10 wie folgt definiert (Dilling et al., 2018, S. 207):
»… ein belastendes Ereignis oder eine Situation außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigen Ausmaßes (kurz oder lang anhaltend), die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde. Hierzu gehören eine durch Naturereignisse oder von Menschen verursachte Katastrophe, eine Kampfhandlung, ein schwerer Unfall oder Zeuge des gewaltsamen Todes anderer oder selbst Opfer von Folter, Terrorismus, Vergewaltigung, Misshandlungen oder anderen Verbrechen zu sein.«
Es wird allgemein unterschieden zwischen einmaligen, kurzfristigen Typ-1-Traumata sowie mehrfachen, langfristigen Typ-2-Traumata. Erstere können die klassische PTBS auslösen, letztere eher die komplexe PTBS (Hecker & Maerker, 2015, S. 549). Die komplexe PTBS ist als Diagnose nicht in der ICD-10 enthalten. Mittlerweile ist das Störungsbild ausreichend erforscht, symptomatisch operationalisiert, und die Zweckmäßigkeit als eigenständige Diagnose neben der klassischen PTBS ist weitgehend geklärt (Sack, Sachsse & Schellong, 2013). Im DSM-5 wurde als Anpassung an die neuesten Erkenntnisse die Diagnose der PTBS so erweitert, dass auch die komplexe PTBS darunter eingeordnet werden kann. Für die in Entwicklung befindliche ICD-11 soll dieser Kompromiss nicht eingegangen werden, eine eigenständige Diagnose ist angekündigt.
Kritisch möchten wir anmerken, dass in der ICD-10, aber auch in der Literatur zur komplexen PTBS, ganz überwiegend invasive Traumata, wie Gewalt, Vergewaltigung, Unfälle oder Folter, behandelt werden. Hingegen bleibt der Faktor Vernachlässigung unberücksichtigt. Wir halten diese Sicht in Bezug auf Typ-2-Traumata für defizitär, weil sie nicht berücksichtigt, dass Säuglinge und kleine Kinder in ihrer Abhängigkeit von den Bindungspersonen auch emotionale, soziale und körperliche Mangelereignisse bedrohlich und katastrophal erleben können. So stellen Irle et al. (2013, S. 22 – 24) fest: »Diese Beziehungstraumatisierungen können als Missbrauch, aber auch als Vernachlässigung imponieren.« Dass es auch anders geht, zeigen Sack, Sachsse und Schellong (2013), die die Vernachlässigung in ihrem ausführlichen Kompendium über komplexe Traumafolgestörungen gleichberechtigt behandeln.
Darüber hinaus stehen Vernachlässigung und Gewalterfahrungen in einer ungünstigen Wechselwirkung. Bei Personen, die emotionale, soziale oder körperliche Vernachlässigung erfahren haben, können Übergriffigkeiten größere psychische Schäden anrichten, weil es ihnen, bedingt durch die Vernachlässigung, an Bewältigungsmöglichkeiten mangelt. Hingegen ist Übergriffigkeit auch der Ausdruck von mangelnder Liebe, Sprachlosigkeit, familiärer Isolation und stressbedingter Überforderung. Gewalt führt ihrerseits wieder zu einer lieblosen Atmosphäre, Sprachlosigkeit, Isolation und Stress. Klienten mit Traumafolgestörungen durch eine Suchtfamilie haben, das ist unsere Erfahrung, ohne Ausnahme sowohl Vernachlässigung als auch Übergriffigkeiten erlitten.
Die Bedeutung von psychosozialer Vernachlässigung hat schon der Kinderpsychiater, Psychoanalytiker und Bindungsforscher John Bowlby (2006a, b, c) in seiner grundlegenden Trilogie zur emotionalen Entwicklung von Kindern beschrieben. Nach Bowlby ist es für Säuglinge und Kleinkinder eine existenzielle Bedrohung, von den Bindungspersonen getrennt oder verlassen zu werden. Frühkindliche Trennungserfahrungen schaffen die dispositionelle Grundlage für die spätere Entwicklung von Angststörungen und Depressionen. Eine einmalige und zeitlich begrenzte Mangelerfahrung führt – anders als dies bei einmaliger massiver Gewalt sein kann – nicht zu einer bleibenden psychischen Schädigung. Ein traumatischer Mangel ist dadurch definiert, dass die für das Überleben und die Entwicklung notwendige interpersonelle Zuwendung über einen längeren Zeitraum in sensiblen Entwicklungsphasen fehlt, sodass die Ausbildung emotionaler und zwischenmenschlicher Fähigkeiten sowie die Entwicklung der Persönlichkeit grundlegend gestört werden.
Bindungsstörungen führen bei Kindern zu unsicheren Bindungsstilen und Bindungstraumata zum desorganisierten Bindungsstil (z. B. Main, 1995), die durch entsprechende innere Arbeitsmodelle repräsentiert sind. Mit dieser Last gehen die Kinder ins Leben, was eine vulnerable Disposition dafür schafft, später an Traumafolgestörungen zu erkranken. Das Fehlen von etwas ist viel schwerer in Worte zu fassen, und auch die Erinnerung daran ist schwieriger, was die psychotherapeutische Behandlung vor besondere Herausforderungen stellt. Ein rudimentäres Modell der Entstehung und Behandlung komplexer Traumafolgestörungen suchttraumatisierter erwachsener Kinder, welches durch drei Ebenen definiert ist, finden Sie in Abbildung 1:
Lerngeschichte: Diese ist durch vielfältige Traumata von Vernachlässigung und Übergriffigkeit gekennzeichnet (Kapitel 2).
Funktionsebene: In der Bindungstheorie dienen die Konzepte der Stile und Arbeitsmodelle dazu, das Überdauernde der Entwicklungserfahrungen zu beschreiben und zu erklären. Wir nutzen für die Funktionsebene Plananalyse und Schematheorie. Ein unsicherer und/oder desorganisierter Bindungsstil als Folge einer vielfältigen belasteten und traumatischen Lerngeschichte beinhaltet vielschichtige und verstrickte dysfunktionale Pläne bzw. Schemata (Kapitel 3). Diese sind düstere langen Schatten, die eine unglückliche Kindheit bis in ein ebenso unglückliches Erwachsenenleben werfen kann.
Störungsebene: Auf Grundlage der traumatisierten Schemata können komplexe Traumafolgestörungen entstehen, die sich auf der Symptomebene sehr labil und wechselhaft manifestieren können (Kapitel 4).
Unser Behandlungskonzept ist von den oben schon genannten kardinalen Regeln der Kinder aus Suchtfamilien (Black, 1987) abgeleitet: Reden, trauen, fühlen! Diese drei Verben geben der Behandlung eine klare Richtung. Sie setzen der Hoffnungslosigkeit und Hilflosigkeit der Betroffenen etwas entgegen, vermitteln sowohl Klienten als auch Therapeuten Halt und Zuversicht, dass es einen heilsamen Ausweg aus der scheinbaren inneren Ausweglosigkeit gibt, und stärken das Vertrauen in die Ressourcen und Entwicklungsfähigkeiten der Klienten und auch in die der therapeutischen Beziehung. Zu reden, zu fühlen und sich zu trauen bedeutet metaphorisch, aus den langen Schatten der schlimmen Kindheitsgeschichte herauszutreten sowie über die eigenen Schatten der verinnerlichten Schemata zu springen (Kapitel 5).
Dieses Buch ist verhaltenstherapeutisch konzipiert. Das hat zwei unprätentiöse Gründe: Die AutorInnen sind beide verhaltenstherapeutisch qualifiziert, und das Verfahren ist derzeit in Deutschland gesundheitspolitisch en vogue. Wir präferieren trotz unserer konzeptionellen Wahl einen allgemeinen Psychotherapieansatz, so wie ihn Grawe (2000) als Vermächtnis seiner umfassenden Therapieforschung hinterlassen hat. Andere Verfahren sind entsprechend reichhaltig eingeflossen. Dabei hat uns geholfen, dass die Verhaltenstherapie in der dritten Welle mannigfaltig humanistische, tiefenpsychologische und systemische Methoden integriert hat. Bei komplexen Traumafolgestörungen halten wir es für besonders wichtig, pragmatisch schulenübergreifend, differenziert und flexibel vorzugehen. Dies ist ein Grund, warum wir für die Funktionsebene die Plananalyse und die Schematheorie gewählt haben. Beide gehen weit über die klassische Lerntheorie hinaus und sind integrative Analyse- und Behandlungsansätze.
Es wurde im vorhergehenden Abschnitt angedeutet: Komplexe Traumafolgestörungen sind durch verstrickte, widersprüchliche und dysfunktionale Erlebens- und Verhaltensmuster und eine ebensolche Störungsdynamik gekennzeichnet. Symptome können andere Symptome auslösen, z. B. können Beziehungskonflikte starke Verlassenheitsängste auslösen, welche in eine dissoziierte Teilnahmslosigkeit münden, die depressive Schuldgefühle, Selbstzweifel und -ablehnung und Grübeln anstößt, was mit Rückzugsverhalten einhergeht, wodurch wiederum die Beziehungskonflikte verstärkt werden. Diese wechselhafte und verwirrende Dynamik bringen komplex traumatisierte Klienten mit in die Therapie. Der Behandler sollte in der Lage sein, auf diese Herausforderungen sowohl methodisch differenziert als auch flexibel einzugehen.
Das Behandlungskapitel 5 ist der Hauptteil dieses Buches. Entsprechend des vielschichtigen Hilfebedarfs der komplex traumatisierten Klientel wird dort ein vielgestaltetes Spektrum an psychotherapeutischen Methoden vorgestellt. Diese sind vor allem nach den Störungsbildern gegliedert. Wir haben diese Ordnung gewählt, weil sie gängig ist. Die Unterkapitel 5.1 Therapeutische Beziehungsgestaltung und 5.2 Störungsmodell, Motivation und Ziele führen in die Behandlung ein, was aus der Chronologie einer Psychotherapie naheliegend erscheint und auch in anderen Fachbüchern so gehandhabt wird. Wir halten uns hier an Konventionen, möchten diese jedoch vorab in Bezug auf die interessierende Klientel infrage stellen. Die Gestaltung des Arbeitsbündnisses, motivierende und komplementäre Strategien und auch die Zielanalyse begleiten eine Therapie des komplexen Suchttraumas vom Anfang bis zum Ende. Z. B. überfordert viele Helferkinder in ihrer Selbstverleugnung die Zielanalyse zu Beginn der Behandlung. Bei nicht wenigen ist es das Ziel und bedeutet den erfolgreichen Abschluss einer Therapie, überhaupt eigene Lebensziele zu formulieren.
Die weiteren Unterkapitel des Behandlungsteils sind von uns eher willkürlich in diese Reihenfolge gestellt worden. Es werden spezifische Aspekte der Bewältigung von depressiven, neurotischen, posttraumatischen und (co-)abhängigen Beschwerden und Problemen in Bezug auf die interessierende Klientel behandelt. Das Unterkapitel 5.5 Flexibilisierung persönlicher Erlebens- und Verhaltensmuster ist indes störungsübergreifend angelegt. Es ist das Herzstück unserer Konzeption der Psychotherapie des komplexen Suchttraumas. Welche Methoden in welcher Reihenfolge in einer konkreten Behandlung gewählt werden, hängt von dem jeweiligen Klienten, dem individuellen Störungsbild und der vorliegenden Störungsdynamik, der Persönlichkeit, dem Bedarf und dem Heilungsprozess ab. Ein Behandlungsplan kann nicht wie ein »Kochrezept« Schritt für Schritt abgehandelt werden. Es ist die Herausforderung einer Therapie von Traumafolgestörungen, die Methodik variabel und integrierend im Sinne der Gesamtentwicklung der Klienten anzuwenden. Diese sind starr in ihrer Verzagtheit, den Gedanken und Gefühlen, dem Bewältigungsverhalten und ihren Schemata, der Therapeut ist ein Modell darin, methodisch und zwischenmenschlich beweglich zu sein. Die Flexibilität des Therapeuten ist eine wichtige unspezifische Interventionsform in der Behandlung des komplexen Suchttraumas.
Ein individualisiertes Vorgehen ist ein Anspruch aller Therapieschulen. Ein solches, am besonderen und einzigartigen Bedarf der Person orientiertes Vorgehen ist nicht kompatibel mit den groben Kategorien der Diagnostik und einem allein auf die Symptombeseitigung reduzierten psychotherapeutischen Bemühen. Deswegen haben alle Therapieschulen eine differenzierte Analyseebene, die die beengte Pathologie- und Symptomorientierung überwindet, damit der Lern- und Entwicklungsprozess lösungs- und ressourcenorientiert angestoßen werden kann. Prozessorientierung ist genuin eher mit der humanistischen Psychotherapie assoziiert (Swildens, 2007; Eckert, 2006). Doch mit der dritten Welle sind prozessbasierte Modelle und Vorgehensweisen in die Verhaltenstherapie integriert worden (Stangier, 2019). Prozessorientierte Methoden orientieren sich an den Wirkfaktoren des allgemeinen Psychotherapieparadigmas nach Grawe (2000, S. 87 – 99) und setzen explizit an Verarbeitungs- und Veränderungsprozessen an. Solch prozessbasierte Ansätze, die wir schwerpunktmäßig nutzen, sind:
Motivational Interviewing (Miller & Rollnick, 2015)
Akzeptanz- und Commitment-Therapie (Hayes et al., 2014)
Plananalyse und komplementäre Beziehungsgestaltung (Caspar, 2007; Sachse, 2016)
Schematherapie (Young et al., 2008; Roediger, 2009a)
Emotionsfokussierte Methoden (Greenberg, 2011)
Laut dem Modell von Stangier (2019, S. 241) sind das therapeutische Arbeitsbündnis, die Ableitung eines Störungsmodells und die Klärung der Motivation die Grundlage, auf der die Klienten in einen fortwährenden Veränderungsprozess treten sollen. Dieser Prozess beinhaltet drei Schritte: 1. »Verarbeitungsprozesse verändern«, 2. »Neue Erfahrungen sammeln, Kompetenzen aufbauen, Verhalten ändern« und 3. »Reflektieren, Verstehen, Überzeugungen verändern«. Stangiers Modell ist allerdings aus zweierlei Gründen nicht ganz im Einklang mit den Verfahren der dritten Welle. Erstens bezieht sich in Verfahren wie Motivational Interviewing oder komplementäre Beziehungsgestaltung die Prozessorientierung explizit auch auf die Elemente des Arbeitsbündnisses und der motivationalen Klärung. Zweitens zentriert Stangiers Modell – typisch für die Kognitive Verhaltenstherapie – auf Kognitionen und weist diesen eine dominierende Rolle im Veränderungsprozess zu. Die aufgezählten Ansätze sind angetreten, diese eingeschränkte Sichtweise zu überwinden; motivationale, emotionale oder zwischenmenschliche Aspekte werden gleichberechtigt beachtet. Deshalb möchten wir das Modell in Bezug auf die Psychotherapie mit komplex traumatisierten Klienten mit Anpassungen übernehmen, wie in Abbildung 2 dargestellt wird.
Unseres Erachtens gibt das Arbeitsbündnis den Klienten einen sicheren Rahmen, welcher der biografischen Unbeständigkeit heilsam entgegengesetzt wird. Die therapeutische Beziehung ist ein angstfreies Experimentierfeld, Motive zu klären, Ressourcen zu entdecken und zu aktivieren, neue Erlebens- und Verhaltensweisen, Problemlösungen und Kompetenzen auszuprobieren, bevor die Klienten diese Erkenntnisse in den Lebensalltag transferieren. Die Prozessorientierung ist notwendige Voraussetzung für eine individualisierte Vorgehensweise. Eine zu stark durch den Psychotherapeuten steuernde und strukturierte Vorgehensweise und das manualisierte Abarbeiten von »Kochrezepten«, wie es in der klassischen Verhaltenstherapie Tradition war, halten wir in Bezug auf die komplex traumatisiert Betroffenen für nicht zielgerichtet. Mehrere Gründe sprechen dafür, den Klienten selbst von Beginn an konsequent die Steuerung für die Entwicklungsprozesse zu überlassen:
Die partnerschaftliche Haltung von Motivational Interviewing bedeutet (Miller & Rollnick, 2015, S. 29 – 32), dass die Klienten Experten für ihre Problematik und potenziell auch für den Weg sind, die Probleme zu überwinden. Als Psychotherapeuten sind wir ausschließlich Experten dafür, ihnen dafür einen Raum zu geben und sie zu begleiten.
Traumatisierte Klienten sind offen oder unterschwellig misstrauisch und haben starke Bedürfnisse nach Kontrolle sowie unterdrückte Bedürfnisse nach Selbstbestimmung. Die Betonung der Eigenverantwortung der Klienten für ihren Lernprozess ist daher komplementär motivorientiert (Sachse, 2016).
Erwachsene Kinder aus Suchtfamilien bringen ausgeprägte abhängige Tendenzen mit. Ihnen das Steuer zu überlassen sorgt dafür, dass sich in der Therapie eine unabhängige Beziehung etablieren kann, und stärkt sie in der Autonomie. Eine zuversichtliche Haltung des Therapeuten regt zwischenmenschlich und modellhaft an, dass die Klienten Selbstvertrauen in die eigenen Entwicklungspotenziale gewinnen können.
Suchttraumatisierte Klienten bringen eine Kargheit mit, sich in der Kindheit nicht genügend spielerisch ausprobiert zu haben. Sie haben diesbezüglich einen Nachholbedarf sowie ein Recht darauf, mit sich und der Welt (inter-)aktiv Erfahrungen zu sammeln. Der Therapeut ist sowohl Spielgefährte, ermutigender Solidarpartner als auch Trost spendender Rückhalt, wenn es mal schiefgeht.
Kapitel 2
Die Belastungen und Traumata der Kinder aus Suchtfamilien wurden schon in den 80ern des letzten Jahrhunderts in einer Reihe von Fachbüchern und Ratgebern beschrieben: bei Wegscheider-Cruse und Black im Jahr 1981, Woititz 1983, Schaef 1986 und Mellody 1989. In Deutschland wurde durch die Diplom-Pädagogin Ulla Lambrou erstmalig 1990 zum Thema publiziert. Diese Veröffentlichungen sind allesamt durch die Therapeutentätigkeiten der Autorinnen anwendungsorientiert. Die Erkenntnis, dass Angehörige und vor allem Kinder aus Suchtfamilien mitbetroffen sind und selbst Hilfe benötigen, ist allerdings sehr viel älter. Schon die Anonymen Alkoholiker entwickelten für Angehörige von Suchtkranken sowie für Jugendliche aus Suchtfamilien eigene 12-Schritte-Programme und etablierten schon ab Anfang der 1950er Selbsthilfegruppen für erwachsene und ab Ende der 1960er für jugendliche Angehörige (z. B. Al-Anon-Familiengruppen, 1995).
Klein (z. B. 2005a) hat mit seinen umfangreichen Forschungsbeiträgen in Deutschland auf das leidvolle Schicksal der Kinder und ihre multiplen Beeinträchtigungen und Risiken aufmerksam gemacht. Das Fachbuch von Zobel (2006) bietet einen Überblick über den Stand der Forschung. Jedoch steht bei Klein und Zobel die Gefährdung der Kinder, selbst suchtkrank zu werden, im Mittelpunkt der Betrachtungen. Die psychischen Folgeschäden werden von ihnen nur am Rande angesprochen.
Dieses Kapitel basiert auf der genannten Literatur wie auch auf den psychotherapeutischen Erfahrungen in der Arbeit mit Betroffenen. Es ist der Versuch, die Belastungen und Traumata in eine Systematik zu bringen, um Ihnen psychotherapeutische Kategorien der biografischen Anamnese an die Hand zu geben. Dabei wird die systemische Betrachtungsweise von Wegscheider-Cruse (1989) und auch Lambrou (2008) aufgegriffen, Sucht als eine Familienkrankheit zu verstehen. Nicht ausschließlich die Sucht, der suchtkranke Elternteil und seine suchtkranken Verhaltensweisen sind als Verursacher für Schädigungen verantwortlich zu machen, vielmehr werden das familiäre Miteinander und die Atmosphäre in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt, und die Anteile der co-abhängigen Bezugspersonen werden einbezogen. Die Belastungen und Traumata haben wir in vier Kategorien eingeteilt, die in Tabelle 1 aufgelistet sind. Die Tabelle kann als Anamneseschema genutzt werden, mit dessen Hilfe Sie die biografischen und aktuellen Belastungen und Traumata überblicksmäßig einstufen können.