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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.
ISBN: 978-3-74096-588-4
Thomas schloss genießerisch die Augen. Eine leichte, warme Brise fächelte über seine Haut, brachte den Duft von Jasmin und Zitronenblüten mit sich und bewegte die Tamariske neben dem Pool sacht. Goldenes Sonnengeglitzer schimmerte hinter seinen geschlossenen Lidern, das Konzert der Grillen wurde von leisem Vogelgezwitscher untermalt. Es war die perfekte Idylle.
»Liebling, willst du den ganzen Tag im Schatten liegen und schlafen? Wir wollten doch noch mal in die Stadt, heute ist Lichterfest.« Die Stimme seiner Frau Ilka riss den jungen Lehrer aus seiner Lethargie. Er öffnete die Augen, schaute in ihr hübsches Gesicht mit den tiefblauen Augen, den Grübchen in den Wangen und dem sinnlichen Mund und lächelte zufrieden.
»Das wird auch ohne uns gefeiert, mein Herz. Komm her!«
Sie lachte. »Auf keinen Fall, ich kenne dich …«
»Eben.«
Er zog sie auf seinen Schoß und küsste sie innig.
Ilka schmiegte sich in seine Arme und seufzte leise.
»Ich würde so gerne zum Fest gehen«, bekannte sie.
»Lieber als hier mit deinem frisch angetrauten Göttergatten im Schatten zu träumen?« Thomas hob die Augenbrauen. »Ich bin entrüstet, mein Schatz.«
Sie lachte übermütig und machte sich von ihm frei. »Viel lieber«, neckte sie ihn. »Wir können doch nicht die ganzen Flitterwochen über nur faulenzen. Was sollen wir unseren Freunden erzählen, wenn wir heimkommen? Und den Kollegen in der Schule?«
Thomas grinste jungenhaft. »Dass wir gefaulenzt haben …«
»Ach du!« Sie schüttelte den Kopf. »Du bist unmöglich, Thomas Sander. Und wenn du mich nicht begleitest, dann gehe ich eben allein, das hast du nun davon. Bestimmt finde ich einen netten Papagallo, der mit mir tanzt und …«
»Kein und! Ich komme!« Er sprang von der Liege auf und betrat gleich darauf den kleinen Ferienbungalow. Es war Ilkas Idee gewesen, die Flitterwochen am Lago Maggiore zu verbringen. Sie liebte diese Gegend, die ihr aus unzähligen Urlauben mit ihren Eltern so vertraut war wie ein zweites Daheim. Und auch Thomas fühlte sich in der lieblichen Landschaft mehr als wohl, was aber hauptsächlich an seiner Frau lag.
Ilka und er kannten sich schon eine ganze Weile, hatten zusammen studiert und arbeiteten nun als Junglehrer am Münchner Albertinen-Gymnasium. Thomas unterrichtete Deutsch, seine Frau war Naturwissenschaftlerin.
Dass sie sich liebten und ein Leben lang zusammen bleiben wollten, war von Anfang an klar für sie beide gewesen. Und als Ilka schwanger geworden war, hatte Thomas ihr den goldenen Ring an den Finger gesteckt.
Zwischen ihnen herrschte eine Harmonie, die durch nichts zu erschüttern war. Sie stritten nie, waren fast immer einer Meinung und verstanden sich oft auch ohne Worte. Ilkas beste Freundin, die Kunsterzieherin Sandra Buchmann, nannte diesen Zustand »ebenso unnormal wie Neid erregend«. Und manchmal war es selbst Thomas ein wenig unheimlich, wie sehr er und Ilka verbunden waren. Fast so, als seien sie eine Person, oder doch zwei Teile eines Ganzen. Yin und Yang in Perfektion.
Das große Glück, das man nur einmal finden konnte, wenn überhaupt. Ilka war die Liebe seines Lebens.
»Liebes, wo hast du mein Hemd hingelegt, ich …« Thomas stutzte und schaute sich irritiert um. Dies war nicht der Bungalow, in dem Ilka und er ihre Flitterwochen verbrachten. Er stand am Ende eines langen Ganges, zu beiden Seiten reihten sich Türen aneinander in düsterer Unendlichkeit. Neben jeder Tür eine Nummer, farblich eingerahmt, um die Station zu markieren. Die Station? Ein Ort wie dieser gehörte in eine Klinik, nicht in die Realität eines Sommerabends am Lago … Realität – oder war es nur ein Traum? Bei diesem Gedanken krampfte sich etwas in seinem tiefsten Inneren zusammen. Etwas wie eine Erinnerung oder eine Gewissheit. Etwas, das er fürchtete, dem er ausweichen wollte und es doch nicht konnte, denn es war ja längst geschehen.
Dunkelheit fiel über die Welt, alle Bilder verwischten. Thomas hatte das Gefühl, in einem Wirbel zu stecken, losgelöst von Zeit und Raum, gefangen in Bewegung, auf die er keinen Einfluss hatte. Preisgegeben dem, was nun kommen würde, kommen musste, auch wenn er versuchte, ihm mit aller Kraft zu entgehen. Denn er wusste nun, was es war, und dass es einmal mehr mit der Wucht eines Abbruchhammers gegen die morsche Wand aus Selbstschutz und Verdrängung prallen würde, um diese endgültig zum Einsturz zu bringen. Dahinter gähnte der Abgrund, tiefe Dunkelheit, der Geruch von Treibhausblumen, die im Herbstregen verfaulten. Kränze, die den Hügel frisch ausgeworfener Erde bedeckten. Ein Name auf Holz, mit dem alles angefangen und geendet hatte …
Thomas Sander schreckte aus wirren Träumen, als der Wecker klingelte. Der junge Lehrer schnappte nach Luft, während seine Rechte dem Störenfried den Garaus machte. In der Stille seines Schlafzimmers lag er dann noch ein paar Minuten, ebenfalls still, versuchte, des hämmernden Schlags seines Herzens Herr zu werden, zitternd und in Schweiß gebadet.
»Ilka …« Seine Stimme war hauchdünn, ebenso wie die Krusten, die sich nur zögernd und widerwillig auf den tiefen Wunden seiner Seele bildeten. Ein Jahr. Was hieß es, Witwer zu sein?
Früher hatte er sich darüber nie Gedanken gemacht. Witwer waren alte Männer mit weißem Haar und zwei Eheringen am Finger, mit Stock und Hörgerät spazierten sie durch die vielen Parkanlagen Münchens, in Erinnerung an Goldhochzeit und Konfirmation der Enkelkinder. Männer, die ihre Frau vor der Zeit verloren, aber doch ein Leben geteilt hatten, und die nur einen Schritt hinter ihren Frauen zurück geblieben waren.
Thomas Sander war siebenunddreißig und seit einem Jahr verwitwet. Zwölf Jahre waren Ilka und er verheiratet gewesen.
Zwölf glückliche Jahre, Harmonie, Liebe und Zufriedenheit. Zwölf Jahre in der Gewissheit auf viele, viele mehr. Am weiten Horizont der gemeinsame Ruhestand, Hannes erwachsen, Enkelkinder vielleicht. Doch es war alles nur Illusion gewesen, warmweiche Sicherheit, die es nicht gab. Nicht wirklich. Als der Krebs seine kalte Hand nach Ilka ausgestreckt hatte, waren sie beide verzweifelt gewesen, verzweifelt, aber noch voller Hoffnung, Kraft und dem Willen zu kämpfen. Monate in einem Schwebezustand zwischen Rückschlägen und Fortschritten. Und schließlich das absolute Aus, die Leere, der Schmerz, der nicht enden wollte.
Das hieß es für Thomas, Witwer zu sein. Er hatte sein Leben weiter gelebt, allein Hannes zuliebe, der erst elf war und seinen Vater mehr denn je brauchte. Er ging in seinem Beruf auf, war der beliebteste Lehrer der Schule, seine Kurse zu Beginn des neuen Schuljahres waren immer zuerst ausgebucht. Viele seiner Oberstufenschüler hielten auch nach dem Abi Kontakt zu ihm, viele Schreibtalente hatte er gefördert und begleitet.
Sein Leben lief weiter, es schnurrte wie ein Uhrwerk. Und doch hatte er nie wieder das Gefühl gehabt, vollständig zu sein, nicht mehr, seit er sich mit einer Handvoll Erde von Ilka hatte verabschieden müssen.
Es klopfte kurz gegen die Tür. »Papa, bist du wach?«
»Ja, ich komme gleich«, antwortete er automatisch. Gleich darauf fing das Radio an zu dudeln, Hannes redete mit Susi, ihrem schokobraunen Labrador, den der Bub sich zum zehnten Geburtstag gewünscht – und natürlich bekommen hatte. War es nicht das Vorrecht eines Halbwaisen, sich zumindest ein klein wenig verwöhnen zu lassen?
Thomas hörte, wie die Kroketten für den Hund in die runde Schüssel aus Edelstahl kullerten, die in der Diele neben seinem Schlafkorb stand. Es wurde Zeit. Ein neuer Tag, das Leben nahm Fahrt auf, der Alltag, der aus jedem Heute das altbekannte Gestern macht, wollte angenommen werden. Mit all seinen unbedeutenden Nebensächlichkeiten, mit all seiner lauwarmen Sicherheit, die aber letztendlich alles war, was man hatte.
Thomas ging unter die Dusche, zog sich an und saß wenig später bei seinem Sohn am Frühstückstisch. Die Maisonne erhellte den großzügig bemessenen Raum mit goldenem Licht.
Die Altbauwohnung, in die die Sanders nach ihrer Heirat gezogen waren, bot eine Menge Platz, schließlich hatten sie sich noch mehr Kinder gewünscht, Hannes hatte nicht allein bleiben sollen. Nun waren die hohen Räume mit dem Stuck und dem knarrenden Parkett fast zu groß für sie beide. Sie bemühten sich, diese mit Leben zu erfüllen. Hannes mit seinen Freunden, Thomas mit all den Primanern, die auch nach Schulschluss noch nicht genug von Goethe und Schiller, Tankred Dorst und der Mann-Familie hatten.
Manchmal gelang es ihnen, doch oft legte sich die Stille schwer wie alter Samt auf Thomas zerfledderte Seele.
»Gehen wir am Samstag an die Isar?«, fragte Hannes seinen Vater. Er war ein schmales Kind mit blonden Locken und tiefblauen Augen und sah seiner Mutter so ähnlich, dass es Thomas manchmal wehtat.
»Am Sonntag. Samstag wollen wir doch grillen.«
»Kommen wieder deine Streber zu Besuch?«, frotzelte Hannes.
Thomas musste schmunzeln. »Freilich. Es gibt Würstchen und Kartoffelsalat und Sandra wird auch dabei sein.«
Bei der Erwähnung der Kunsterzieherin, die nach wie vor mit Thomas befreundet war, blitzte es freudig in Hannes’ Augen auf. »Dann esse ich auch ein Würstchen«, beschloss er.
»Wunderbar. Aber denk daran, dich warm genug anzuziehen. Wir werden bis abends zusammen sitzen«, mahnte Thomas automatisch.
»Bin doch kein Baby«, brummte Hannes. Er hatte erst kürzlich eine Grippe überstanden, litt an leichtem Bronchialasthma und sollte sich deshalb bei kühler Witterung nicht übermäßig anstrengen. Dass sein Vater sich Sorgen um ihn machte, war okay, doch Hannes meinte, schon alles zu wissen, was er ihm ständig aufs Neue unter die Nase rieb …
»Leider nicht mehr«, murmelte Thomas und erhob sich. »Die Zeit vergeht. Apropos: Wir müssen los.«
Gleich darauf verließen Vater, Sohn und Hund das gediegene Mehrparteienhaus im Münchner Stadtteil Haidhausen. Sie hatten den gleichen Weg, denn Hannes ging seit letztem Jahr aufs Gymnasium. Und Susi verbrachte ihre Zeit abwechselnd beim Hausmeister der Schule oder im Lehrerzimmer. Sie war eben ein typischer Labi, alle mochten sie. Und sie verlieh mit ihrer Anwesenheit der altehrwürdigen Bildungsanstalt eine freundliche Note, was auch die Schüler zu schätzen wussten.
*
Sandra Buchmann betrachtete den gebrannten Tonklumpen von allen Seiten und fragte sich, was er wohl vorstellen sollte. Die Aufgabe für ihre Achtklässler hatte ›Geometrische Formen, räumlich gesehen‹ gelautet. Die Meisten hatten sich deshalb auf Kugeln und Würfel beschränkt und bei der farblichen Gestaltung zumindest ein wenig Kreativität gezeigt. Doch der unförmige Klumpen tanzte aus der Reihe. Und während die junge Kunsterzieherin mit den kupferroten Locken und den klaren, grünen Augen noch überlegte, ob dies nun Talent oder nur Faulheit war, was ihr Schüler abgeliefert hatte, klopfte Thomas Sander gegen die offen stehende Tür zum Werkraum und sagte: »Pause, es hat eben geklingelt. Essen wir zusammen eine Semmel?«
Sandra lächelte ihm zu. »Klar, ich habe schon vorgesorgt. Setz dich.« Sie legte den Klumpen vor ihn auf die Bank. »Was meinst du? Hat der Schüler sich was dabei gedacht oder nicht?«
Sandra verschwand kurz im Nebenraum, holte die belegten Semmeln, ihre Thermoskanne und die beiden Keramikbecher, mit denen sie häufig die Pause verbrachten, und kehrte dann zu Thomas zurück. In der Tür blieb die schlanke Mittdreißigerin kurz stehen und betrachtete den Mann, dem ihr Herz gehörte.
Sandra kannte Thomas schon lange. Sie war an der Uni mit Ilka befreundet gewesen, noch ehe diese sich in Thomas verliebt und ihn später geheiratet hatte. Damals hatte sie den hoch gewachsenen, blonden Studenten mit den verträumten Augen nur gern gemocht. Sie wäre nie auf die Idee gekommen, an mehr zu denken. Zwischen Ilka und Thomas, das war die große Liebe gewesen. Sandra war gerne mit beiden befreundet und hatte später öfter mal auf Hannes aufgepasst, wenn die ewig Verliebten allein etwas unternehmen wollten. Für Sandra war es eine schöne und wichtige Freundschaft gewesen. Wie wichtig sie für Thomas werden sollte – überlebenswichtig – hatte sie damals noch nicht geahnt.