Dieses Buch basiert auf meinem Internetblog, den ich einige Tage vor dem Start begonnen und während der langen Wanderung auf Küstenpfaden jeden Tag gewissenhaft fortgeführt habe.
Dieses Buch widme ich meinem kleinen Enkelsohn Theo, der in dem Moment, in dem ich dies schreibe, noch darauf wartet, auf die Welt kommen zu dürfen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
Impressum
© 2018 Reinhard Wagner
Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 978-3-7481-5277-4
Den Weg gibt es eigentlich noch gar nicht, jedenfalls nicht in seiner komplett markierten Form. Es ist der North Sea Trail. Er ist ein Fernwanderweg, der alle Küsten der beteiligten Nordsee-Anrainerstaaten erschließen soll. An dem von der EU geförderten Projekt sind die Länder Schottland, England, Niederlande, Dänemark, Deutschland, Schweden und Norwegen beteiligt. Im Endausbau wird eine Gesamtlänge von circa 5000 km erreicht. Auf einigen kurzen Abschnitten ist der Weg identisch mit dem Europäischen Fernwanderweg 9, vielerorts auch mit der North Sea Cycle Route.
Das Projekt zielt darauf ab, einen Weg um die Nordseeküste der angrenzenden Länder zu bieten und ein Netzwerk von Landschaften und Wegen zu schaffen, die die Erholungsgebiete der Küstenregionen der Nordsee verbinden. Bisher sind 26 Regionen in den Nordsee-Anrainerstaaten an der Initiative beteiligt. Die Partner befinden sich in unterschiedlichen Entwicklungsstadien. Eine große Gruppe von Partnern ist erst dabei zu planen, andere haben bereits ein Netzwerk von Wegen und Pfaden markiert. Andere befinden sich in einem Zwischenstadium, halten bereits einige Wege bereit, aber planen auch andere.
2016 habe ich diesen Weg begonnen, hoch oben im äußersten Norden der Shetland Inseln. Weiter ging es über die Orkney Inseln und dann entlang der Nordseeküste des schottischen Festlands bis zur schottisch-englischen Grenze bei Berwick-upon-Tweed. Auch hier ist der North Sea Trail in weiten Passagen (noch) nicht mit einer entsprechenden Markierung versehen, orientiert sich aber über weite Abschnitte an den Fernwanderwegen „Moray Trail“, „Fife Coastal Path“, „John Muir Way“ und "Berwickshire Coastal Path".
Auch diesmal in England wird mir das North-Sea-Trail-Emblem nur selten ins Auge springen. Doch entweder folge ich den Markierungen bereits gekennzeichneter Wege („Northumberland Coast Path“, „Cleveland Way“, „Norfolk Coast Path“ und „Suffolk Coast Path“) oder ich suche mir mit guten Karten meinen eigenen Weg.
In den Niederlanden, zählen die Wege des „Nederlandse Kustpad“ zum North Sea Trail: „Deltapfad“, „Holländischer Küstenpfad“, „Friesischer Küstenpfad“ und „Watt- und Wierdenpfad“.
Mein Ziel ist es, irgendwann mal im norwegischen Bergen anzukommen (vielleicht nach weiteren zwei Jahren) und damit die Nordsee zu Fuß umrundet zu haben. Jedenfalls so weit, wie das auf dem Landweg möglich ist. Ein ehrgeiziges Ziel. Doch wenn ich diesmal nach 80 Tagen und rund 1600 km an der niederländisch/deutschen Grenze ankomme, habe ich doch die Hälfte geschafft! Dann schaffe ich den Rest auch noch!
Der North Sea Trail in England verläuft durch zwei herausragende Landschaften. An der Küste von Northumberland gehe ich durch eine "Area of Outstanding Natural Beauty", in den North York Moors werde ich mich in einem der National Parks von England befinden.
Sobald ich in Berwick-upon-Tweed aus dem Zug gestiegen sein werde, befinde ich mich auf dem Northumberland Coast Path. Er ist am besten für seine sich über Meilen erstreckenden Strände, rollenden Dünen, hohen felsigen Klippen und abgelegenen Inseln bekannt. Dramatische Burgruinen, imposante Schlösser und ehemalige Klosteranlagen werden mich immer mal wieder auf die Geschichte des Vereinigten Königreichs stoßen lassen. Ich werde mich wieder an den zahlreichen Küstenvogelarten, die über die See alleine oder in großen Schwärmen hinwegsegeln oder über den Sandstrand stolzieren und an den Robben erfreuen, die in sicherem Abstand irgendwo auf Felsenriffs liegen, sich den Bauch bescheinen lassen und ihre so typischen kehligen Laute ausstoßen. Nicht zu vergessen die Schafe, Unmengen an Schafen! Und da es Frühjahr sein wird, wird kaum ein Tag vergehen, an dem ich – nicht nur auf dem Northumberland Coast Path – über Lämmer nahezu fallen werde. Die Kinderstuben der Pullovertiere werden reichlich gefüllt sein.
Im North York Moors National Park folgt der North Sea Trail dem Küstenabschnitt des Cleveland Way. Auch hier eine inspirierende Klippenlandschaft mit weiten Ausblicken auf die Nordsee, auf Sandstrände und geschützte Buchten, von oben wieder ein Abtauchen in bewaldete Täler oder in eine Moorlandschaft, eindringliche Ruinen von Abteien und Schlössern und wunderschöne ehemalige Fischerdörfer, voll mit malerischen alten Häusern und verwinkelten Gassen oder das quirlige Leben in historischen Städten wie Whitby und Scarborough.
Nach dem Cleveland Way geht es auf dem Norfolk Coast Path weiter. Die Küste der ostenglischen Grafschaft Norfolk ist noch immer vergleichsweise leer, aber dennoch gut erschlossen. Obwohl Norfolk von London aus heute in weniger als zwei Stunden erreichbar ist, besucht kaum ein ausländischer Tourist die Region. Zu attraktiv scheinen die Hochmoore, Strände und Fischerdörfer des Nordens zu sein, als dass sich Reisende in dem vermeintlich eintönigen East Anglia aufhalten wollten. Und tatsächlich steht Norfolk nicht ganz grundlos im Ruf, etwas ländlicher, etwas langsamer und etwas provinzieller zu sein als der Rest des Landes - das Friesland Britanniens halt.
Die meisten Besucher werden heute vom Norfolk Coast Path angelockt, einer nationalen Wanderroute, die auch bei Radfahrern und Reitern immer beliebter wird und sich über 150 Kilometer entlang der Nordküste erstreckt. Die Küste Norfolks punktet mit rotbackige Fischern, Windmühlen und menschenleeren Dünenlandschaften, alte Herrenhäuser entlang des Pfades dienten als prächtige Kulissen für Historiendramen.
Während sich der Norfolk Coast Path an der Küste Norfolks entlang schlängelt, werden die Salzwiesen vorherrschender und, obwohl ich noch an der Küste bin, werde ich beginnen, vom Sandstrand wegzugehen, um in endlose Salz- und Süßwasserwiesen einzutauchen.
Die Küste von Norfolk ist seltsam. Vor einigen Jahren waren einige dieser Küstendörfer noch sehr wichtige Fischereihäfen und bis zu diesen Dörfern gelangten große Boote. Aber im Laufe der Jahre wurde das Land zurückgewonnen und die Häfen versandeten. Dank dieses Verschlickungsprozesses habe ich nun den Vorteil, dass ich diese Salzwiesen und Süßwassermarschen zu meinem Vergnügen durchwandern kann. Aber wenn ich die unendliche Aussicht bewundere, wird es für mich ein merkwürdiger Gedanke sein mir klarzumachen, dass diese Bäche einst mit dem Transport wichtiger Ladung beschäftigt waren.
Zum wichtigen Lebensunterhalt hier an der Küste von Norfolk gehört das Fischen, daher werde ich auf dem Weg einige unberührte Fischereihäfen vorfinden, zusammen mit der Möglichkeit zu sehen, wie die Fischer Netze reparieren oder den Fang des Tages anlanden. Ich werde sicherlich ihre Ausrüstung sehen: endlose Hummer-Töpfe und Netze, die überall verstreut liegen oder hängen, sowie Traktoren an den Stränden, die bereit sind, die Boote ins und aus dem Meer zu ziehen oder zu schieben.
Zusätzlich werde ich einige sehr malerische Windmühlen vorfinden, die sich von der Skyline einiger Ortschaften abheben, sowie einige sehr bedeutende Kirchen mit Blick auf die Sümpfe in Richtung Meer. Ich werde erneut über Kies- und Landdünen wandern, die sich sehr einsam anfühlen, sowie über goldene Sandstrände, wenn ich mich entscheide, lieber am Strand entlang zu gehen als durch die Pinienwälder.
Sobald ich oben auf den grasbewachsenen Klippen stehe, werde ich erkennen, dass sich die Landschaft am Norfolk Coast Path dramatisch verändert, wie sich die Erosion in diesem Teil der englischen Küste ausbreitet.
Der Suffolk Coast Path bringt mich von Lowestoft Richtung Süden an der Küste entlang bis Aldeburgh, schwenkt dort auf der nördlichen Seite des Flusses Alde nach Osten landeinwärts, um dann wieder dem westlichen Ufer des Flusses Ore zur Küste zu folgen. Über niedrige Klippen und Küstenvorland, durch Heide und Sumpf und an Fluss- und Seedeichen entlang erreiche ich Felixstowe. Mit einer Fähre gelange ich über das Mündungsgebiet des River Orwell und besteige auf der anderen Seite in Harwich die Fähre nach Hoek van Holland.
Der niederländische Teil des North Sea Trail, der hier auch Niederländischer Küstenpfad (Nederlands Kustpad - LAW 5) heißt, folgt der gesamten niederländischen Küste über eine Strecke von etwa 725 Kilometern. Gleichzeitig folgt er dem parallel verlaufenden Europäischen Fernwanderweg E9, der dabei von Sluis aus alle niederländischen Küstenprovinzen (Zeeland, Süd- und Nord-Holland, Friesland und Groningen) durchquert, bevor er bei Reiderland die deutsche Grenze erreicht.
Zwischen Sluis im Südwesten und Bad Nieuweschans im äußersten Nordosten werde ich wohl die landschaftliche und kulturelle Vielfalt erleben, die auch ein kleines Land wie die Niederlande Wanderern bieten kann.
In den Niederlanden wird das Rheindelta durchquert. Der Teil an der Nordseeküste führt meistens durch Dünen; der Teil an der Wattenküste geht über die Wattdeiche, aber auch durch friesisches und Groninger Weide- und Ackerland. Der Weg verläuft auch ungefähr 50 km hinweg über große Seedeiche, wobei der Abschlussdeich mit 32 km der längste ist.
Der erste Abschnitt des Nederlands Kustpad ist der Deltapad (LAW 5-1), ein niederländischer Weitwanderweg, der vom Städtchen Sluis an der belgischniederländischen Grenze entlang der Nordseeküste bis Hoek van Holland (bei Rotterdam) führt.
Seinen Namen erhielt der Deltapad, weil er sehr oft über und entlang der Deltawerke geführt wird. Die Deltawerke sind ein System unterschiedlicher Deich- und Hochwasserschutzbauwerke, die Zeeland und die Hafenstadt Rotterdam vor großen Sturmfluten schützen sollen. Obwohl der Deltapad Regionen des Mündungsdeltas von Maas, Schelde und Rhein berührt, war dies aber nicht der Grund für die Namensgebung.
Zeeland wird von Wasser dominiert. Die berühmten Deltawerke bilden die Verbindung zwischen den verschiedenen Halbinseln der Provinz. Teilweise führt der Deltapad durch, gelegentlich über die Kämme der Dünen Seelands. Über die unzähligen Kanäle, Flussarme und Seen bringen eine Vielzahl von Fähren und Brücken meinen Weg weiter nach Nordosten und bis Hoek van Holland.
Ab dort bin ich auf dem Hollands Kustpad. Die bemerkenswertesten landschaftlichen Besonderheiten Noord- und Zuid-Hollands sind die langen Dünenreihen und nebligen Dünentäler, die sich mit kleinen Fischerdörfern und blühenden Blumenzwiebeln abwechseln.
Von Hoek van Holland ist es nicht mehr weit bis nach Den Haag mit seinem historischen Stadtzentrum. Die Streckenführung geht weiter zum Seebad Scheveningen, durch Dünenlandschaft und vorbei an den Stränden der Nordsee über Zandvoort nach Haarlem und weiter bis Den Oever.
Der Abschlussdeich, der das Ijsselmmer von den Gezeiten der Nordsee trennt, bestimmt nun für gut 32 km die weitere Wegführung. Nach dem Verlassen dieses stark befahrenen Bauwerks, werden die Wege wieder ruhiger. Von nun an bin ich auf dem Friese Kustpad. Sehr oft wird der Wanderweg über die Deiche geführt. Vorbei an den Poldern macht der Friese Kustpad regelmäßig Schlenker in die Naturschutzgebiete im nahen Hinterland.
In Lauwersoog endet für mich der Friese Kustpad und der Wad- en Wierdenpad beginnt. Mit Delfzijl an der Emsmündung ist der nächste große Ort erreicht. Vom Dollart und durch den Reiderwolder Polder komme ich nach Bad Nieuweschans, direkt an der niederländisch-deutschen Grenze, wo mein diesjähriger Weg endet.
Auf dem kurzen Ems-Dollart-Pad, der sich entlang des kleinen Flusses Schienen schlängelt, gehe ich die letzten Meter von Bad Nieuweschans nach Weener, ins deutsche Ostfriesland hinein.
Monatelang habe ich mich darin ergangen, meinen Weg vorzubereiten. Ich las in Wanderbeschreibungen, studierte Kartenmaterial, schaute mir auf YouTube Videos an oder surfte durch die Welt des Internets. In den folgenden Zeilen finden alle Interessierten Angaben darüber, wo ich mich in freudiger Erwartung auf meine nächste lange Tour zur Einstimmung und näheren Planung "getummelt" habe.
Literatur und Karten
Im unteren Abschnitt liste ich die für jeden Teilbereich meines Weges gegenwärtig aktuellen Wegebeschreibungen auf. Darin findet man den beschriebenen Streckenverlauf, Informationen zu Land und Leute, zu Sehenswürdigkeiten, Transport, am Weg liegende Gas-tronomien, Unterkünfte u.a.m. sowie mehr oder weniger brauchbare Karten(skizzen).
Die folgenden Veröffentlichungen beinhalten lange Listen von Privatunterkünften bzw. Wanderhütten auf Campingplätzen, die sich für Übernachtungen sehr budgetfreundlich auf Voranmeldung nutzen lassen:
Trotz der oben aufgeführten mehr oder weniger genauen Streckenbeschreibungen erscheint es mir sehr ratsam, mich nicht ohne ausreichendes Kartenwerk auf den Weg zu machen. Die dadurch mit mir herumzutragende Papiermenge halte ich in Maßen, indem ich nur immer ein Teil der Karten mit mir herumschleppe. Ich werde mir unterwegs Postdepots einrichten und später notwendige Karten nachschicken lassen. Außerdem werden alle Karten zurechtgeschnitten und damit überflüssiges Gewicht sowieso zu Hause gelassen.
Im folgenden Abschnitt habe ich die notwendigen Karten mit Kartennamen und -nummern (in Klammern) listenmäßig aufgeführt. In der Hauptsache handelt es sich um Karten des Herausgebers Ordnance Survey aus der Reihe OS Landranger im Maßstab 1 : 50 000.
Aus der Reihe der Harveymaps im Maßstab 1 : 25 000, die sich bei ihren Karten nur auf die eigentliche Streckenführung verschiedener National Trails in Großbritannien beschränkt, benutze ich die Karte
Von der Geographer´s A-Z Map Company Ltd benutze ich aus der Reihe "Adventure Series" die Karten (Maßstab 1 : 25 000)
Das Kartenmaterial für die Niederlande ist in den o.g. Wegebeschreibungen enthalten.
Bei den unten aufgeführten Internetadressen findet man jede Menge Informationen über Landschaften und Städte, Verkehrsmittel, Unterkünfte, Veranstaltungen, Wandervorschläge, anregende Fotos, Wegbeschreibungen, Geschichte, Kultur, Reiseberichte, Flora und Fauna, Geographie, Sehenswürdigkeiten, Essen und Trinken u.v.a.
Noch drei Wochen
Es gibt Ziele im Leben, die es zu verfolgen und zu verwirklichen gilt und deren Erreichen zu Lebensfreude, innerer Ausgeglichenheit und Zufriedenheit führt. Ich möchte nicht hinter etwas her trauern und mich ärgern, weil ich es nicht gemacht habe. Ich will mit mir zufrieden sein und das Leben mit dem großen Löffel kosten.
Eins meiner Ziele ist noch, die Nordsee zu Fuß zu umrunden. Den ersten langen Abschnitt von den Shetland Inseln bis zur schottisch-englischen Grenze habe ich 2016 hinter mich gebracht. Am 8. April breche ich nun auf zum nächsten Abschnitt: An der englischen Nordseeküste entlang geht es weiter, gefolgt von der niederländischen Küste. Ende Juni hoffe ich, wohlbehalten an der niederländisch-deutschen Grenze anzukommen, nach etwa 1600 Kilometern.
Draußen herrschen immer noch tiefe Minusgrade. Der Winter will sich noch nicht so richtig verabschieden. Doch der Frühling wird schon kommen. Ein kleiner Artikel in meiner Tageszeitung hat heute Morgen bei mir Interesse hervorgerufen: Die letzten heftigen Stürme, große Regenmengen, Eis und Schnee haben in den letzten Tagen dazu geführt, dass Teile der Steilküsten von Norfolk bröckeln. Häuser drohen vom Klippenrand ins Meer zu stürzen bzw. haben dies zum Teil schon getan. Na Hauptsache, es gibt die Küstenpfade noch...!
Zeitweilig in Begleitung
Nicht weit von mir entfernt wohnt jemand, der so langsam ebenfalls darüber nachdenkt, was er bald in seinem Rucksack verstaut: mein Wanderfreund Dieter. Ein Freund ist er schon lange, seit wir uns vor sage und schreibe 37 Jahren im selben Lehrerkollegium trafen, uns später mal zeitweilig aus den Augen, aber nie vollkommen den Kontakt verloren. Ein Wanderer wurde Dieter jedoch erst vor etwa drei Jahren, als er feststellte, dass ihm - gerade im Alter - auch andere Bewegungsformen guttun könnten außer Fußball und Tennis spielen. Sein Credo: "Ein Wanderfanatiker werde ich nie werden, aber ich will wissen, ob da noch was geht!" Für einen knapp 70-jährigen eigentlich ein vernünftiger Ansatz! So dreht er in den heimatlichen Wäldern mittlerweile zusammen mit seinem wandernden Bekanntenkreis seine Trainingsrunden und schloss sich in den letzten Jahren auch jeweils für ein paar Wochen mir an, wie z.B. 2015 auf meiner Tour auf dem Mauerweg in Berlin und dem Grünen Band entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze, 2016 entlang der schottischen Nordseeküste und 2017 auf meinem Pilgerweg nach Trondheim in Norwegen.
Ihm scheint es tatsächlich zu gefallen, denn schon recht bald hat er sich im Vorfeld meiner Planungen wieder als Begleiter wärmstens empfohlen. Natürlich bekommt man die Ehre, mich begleiten zu dürfen, nicht geschenkt. Eine kleine Gegenleistung musste schon sein! Dieter hat sich dann als Quartiermeister bestens bewährt. Mit der Unterkunftssuche hatte ich praktisch nichts zu tun - und das nicht nur für die fünf Wochen, die er mit mir unterwegs ist (vier Wochen am Anfang und eine Woche zum Schluss), sondern fast für die komplette Distanz. Und er hat seine Sache gut gemacht, ich werde durchgehend wohlig gebettet sein. Dafür darf er dann wahrscheinlich auch wieder oft in einem Ehebett neben mir schlafen - unter EINER Decke!
Ohne Willi
Auf den letzten langen Touren hat er mich treu begleitet: mein zweirädriger Wheelie, den ich mit meinem Gepäck wie ein Esel hinter mir herzog. Auf Anraten meiner Tochter Annika habe ich ihn im letzten Jahr "Willi" getauft (welcher Name läge näher!?). Nie hat er mich im Stich gelassen, immer treu seine Dienste getan - und doch lasse ich ihn diesmal zu Hause.
Zum einen ahne ich, dass mir die Küstenpfade in England wiedermal manchen Weidezaun, manches verschlossene Gatter und manche enge Zauntreppe in den Weg stellen werden, über die ich Willi jeweils recht umständlich und kraftaufwendig rüberwuchten müsste. Das kenne ich noch von der ersten Northsea Trail - Etappe in Schottland. Und es gibt vielleicht auch wieder die Stellen, wo die Pfade ganz knapp an den Klippenkanten entlangführen. Ein abrutschender Willi um meinen Bauch gezurrt ist da nicht ganz so prickelnd. Zum anderen wird es sowohl in England als auch in den Niederlanden streckenweise durch Dünen und über - nicht immer feste - Sand- und Kiesstrände gehen. Nicht einfach, dabei eine "Karre" hinter sich herzuziehen.
Ich werde meine Siebensachen daher wieder in meinem Rucksack verstauen. Bei den letzten langen Touren hatte ich ihn zu Hause gelassen, weil seit meinem Jakobsweg 2013 Schulter-, Hüft- und Knieprobleme auftraten, deren schmerzhafte Auswirkungen daraufhin Freund Willi mehr als angenehm abfederte. Doch bei den Berg-, Wald- und Moorpfaden letztes Jahr auf dem Olavsweg in Norwegen, wo ich Willi beim besten Willen nicht einsetzen konnte, war ich mit meinem nachgesandten Rucksack sehr zufrieden. Also schenke ich ihm in diesem Jahr mein uneingeschränktes Vertrauen. Er sollte mich nicht enttäuschen...!
Weniger ist mehr
"Wem genug zu wenig ist, dem ist nichts genug." Diesen schlauen Satz hat der alte griechische Philosoph Epikur einmal von sich gegeben, aber dies bestimmt in einem anderen Zusammenhang als dem Rucksackpacken. Trotzdem trifft er gerade hier zu.
Man glaubt ja gar nicht, mit wie wenig man auskommt, selbst auf die Dauer von zwölf Wochen. Wenn man zudem weiß, dass das gesamte Hab und Gut für diese Zeit auf dem Rücken zu schleppen ist und die Erfahrung lehrt, was wirklich notwendig und was eigentlich unnötiger Luxus ist, dann ist so ein Rucksack schnell gepackt.
In den nächsten drei Tagen krame ich wieder alles zusammen, eine bewährte Checkliste hilft. Anorak und Wanderhose muss ich nochmal imprägnieren, die Schuhe einfetten. Kleidung wird das geringste Gewicht ausmachen. Dieser Posten wird viel leichter sein als die "technische Abteilung": Kamera, Tablet, diverse Ladekabel, Dreifachstecker etc. Einen Schlafsack kann ich mir schenken, diesmal sind zur Übernachtung keine kalten Pilgerherbergen vorgesehen, nur Zimmer mit weichen Betten in kleinen Hotels, B&Bs und bei Privat. Eigentlich was für alte Leute...!
Noch zwei Tage
Die letzten Tage zu Hause... Auch wenn ich dieses Gefühl des Abschieds von denen, die mir wichtig sind, nun schon einige Male erlebt habe, steigt immer wieder ein dicker Kloß in meinem Hals auf. Und trotzdem sehne ich mich auch wieder nach diesen Tagen und Wochen, die vor mir liegen und mir besondere Erlebnisse, Überraschungen und Begegnungen bringen werden. Dieses Herumvagabundieren, jeden Tag woanders sein, Landschaftsbilder aufsaugen, Wetter fühlen, Stille genießen, körperliche Anstrengung, geistige Erholung, all das will ich erneut in täglicher Wiederkehr haben.
Apropos Wetter: Noch vor einigen Tagen versprach die Wettervorhersage für die ersten Wandertage in England nicht gerade eine Hitzewelle, sondern angenehme 5-6° C. Dafür aber auch strahlenden Sonnenschein. Mittlerweile hat sich jedoch dieser Sonnenschein in die heimatlichen Gefilde verzogen und beschert unserer Gegend hier fast schon ein Sommer-Wochenende.
Wenn Dieter und ich am Sonntag in Berwick upon Tweed aus dem Zug steigen, erwartet uns wohl eher ein einheitliches Grau, auch Regen kann dabei sein. Was soll's! Es wird nicht der letzte Regen gewesen sein.
Morgen hebt um kurz nach 11 Uhr der Flieger nach Edinburgh ab, Dieter und ich haben bereits online eingecheckt. Vielleicht sollte ich jetzt doch nochmal nachsehen, ob ich mein Taschenmesser im Rucksack oder im Handgepäck verstaut habe. Im Handgepäck wäre doof, das fällt garantiert auf!
Der Anfang ist gemacht
Anreise Berwick upon Tweed / Berwick – Spittal: 4 km
Die ersten Wochen meiner Tour will ich an Englands Nordseeküste wandern - dazu fahre ich erstmal nach Schottland. Nein... ich fahre natürlich nicht, ich fliege. Auch nicht alleine, Dieter fliegt mit. Keiner von uns beiden hat am Safety-Check ein Messer im Handgepäck, was für uns keine Selbstverständlichkeit ist. Damit ist die erste Hürde der Tour souverän genommen.
Der Flug gestaltet sich ruhig: Der Flieger hebt pünktlich ab, neben uns sitzt keine stark schwitzende Person, keine Babys oder Kleinkinder schreien, es gibt keine Turbulenzen, wir landen sogar etwas vor der Zeit und in Edinburgh scheint die Sonne. Die große Erleichterung zum Schluss: Mein Rucksack kommt mir auf dem Gepäckband schon nach kurzer Zeit entgegengeruckelt und ist sogar unversehrt. Es läuft wie geschmiert!
Und die Glücksträhne geht weiter: Der Schnellbus ins Zentrum von Edinburgh steht bereit und 20 Minuten später steigen wir in Schottlands quirliger Hauptstadt nahe dem Bahnhof Waverley wieder aus, sofort umgeben von Hunderten Edinburgher Bürgern und Touristen und begrüßt von den unvermeidbaren Dudelsackspielern, die prächtigst kostümiert an der einen oder anderen Ecke stehen und hingebungsvoll mit einem ihrer beiden Ellenbogen auf den Sack drücken. Die meist etwas schrillen Töne hallen etwas schmerzhaft im Trommelfell nach, aber das muss wohl einfach so sein.
Ein Bummel zu den Touristenattraktionen verbietet sich, denn der Zug nach Berwick upon Tweed fährt in eineinhalb Stunden. Dieter und ich setzen uns, mit der Princess Street im Rücken und Edinburgh Castle vor uns, auf eine Bank in einer kleinen Grünanlage und lassen die Sonne auf uns niederscheinen, so lange sie das tut. Vor uns wachsen wild die Narzissen auf den Wiesen und bunte Frühlingsblumen in den frisch bepflanzten Rabatten, aber noch kein Baum trägt auch nur ein grünes Blatt. Nahezu alle Bänke sind eng besetzt, denn viele milde Tage gab es in diesem Jahr hier in Edinburgh - genau wie bei uns zu Hause - wohl noch nicht, und die Menschen genießen dies ganz offensichtlich.
In der Empfangshalle des Bahnhofs Waverley entlockt Dieter einem Ticket-Automaten ganz souverän unsere beiden Fahrkarten mit Sitzplatzreservierung, die er bereits zu Hause online gebucht hat, es bleibt noch Zeit für einen Kaffee und pünktlich um 13.55 Uhr verlässt unser Zug nach Berwick upon Tweed den hektischen Bahnhof. Im Zug bleibt jede Hektik aus und wir rollen entspannt dem Startpunkt unserer diesjährigen Tour entgegen. Kurz vor Berwick rasen wir an der Nordseeküste entlang, erkennen den Pfad wieder, den wir vor zwei Jahren, am Ende meiner ersten Etappe auf dem Northsea Trail, entlanggingen und erblicken für eine kurze Sekunde das kleine Holztor, wo wir damals die schottischenglische Grenze überschritten.
Nur Minuten später steigen wir am Bahnhof von Berwick aus dem Zug, lassen uns an genau derselben Stelle, wo wir uns auch vor zwei Jahren zum Ende der schottischen Nordseeküsten-Wanderung haben ablichten lassen, nämlich an der Eingangstür zum Bahnhofsgebäude, von einer netten Dame fotografieren und haben damit hochoffiziell den Beginn unserer diesjährigen Tour dokumentiert. In aller Ruhe schlendern wir dann vom Bahnhof die Main Street entlang, kommen hinunter ans Ufer des River Tweed, überqueren ihn auf der kleinsten und gleichzeitig ältesten der drei Stadtbrücken und wandern damit aus der Stadt heraus.
Mitten auf der Brücke wird mir auf einmal klar: Du bist wieder unterwegs, für eine lange Zeit, für zwölf Wochen. Jetzt heißt es nur noch losgehen und bei Leer an der deutsch-niederländischen Grenze ankommen. Mann - ich bin wieder im Begriff, zu Fuß einige hundert Kilometer hinter mich zu bringen. Ich warte vergebens auf Herzogin Kate oder zumindest auf den Bürgermeister von Berwick, auf dass sie eine Flasche Champagner an meinem Rucksack zerschellen, ein Band durchschneiden und uns mit guten Wünschen auf den Weg schicken - aber sie kommen nicht. Also schnappen wir uns alleine unser Zeug und gehen los.
Keine Dreiviertelstunde später sind wir an unserem B&B Roxburgh in Spittal, einem kleinen Küstenort kaum vier Kilometer hinter Berwick, angekommen. Zu den urigsten Unterkünften der zukünftigen Tour wird sie wohl nicht zu rechnen sein, aber von unserem Zimmer aus geht der Blick unmittelbar auf die Nordsee hinaus. Vom Bett aus höre ich draußen die Wellen heranrollen und die Möwen schreien, eine Sound-Kulisse, die mich von nun an die nächsten Wochen begleiten wird.
Krötenwanderung in den Dünen
Spittal – Fenwick: 15 km
Eigentlich wollen wir heute etwas länger schlafen. Erstens gibt es Frühstück erst ab 8 Uhr und zweitens ist die Strecke an unserem ersten Wandertag nur 15 Kilometer lang. Doch beide sind wir schneller hoch als vorgenommen, denn zum einen ist unser Schlafbedürfnis schnell befriedigt, waren wir doch gestern Abend relativ früh in der Horizontalen, und zum anderen werden wir bereits um 7 Uhr von einer strahlenden Sonne, die durch unser breites Erkerfenster scheint, geweckt. Wir scheinen früher wach zu sein als die Nordsee. Fast wie ein Spiegel liegt sie ruhig da und lässt sich von der Sonne bescheinen, während nur ganz leise kleine Wellen den Kiesstrand hinaufrollen. Selbst die Möwen scheinen noch irgendwo ihre Schnäbel zwischen den Flügeln gesteckt zu haben, denn es ist noch nichts von ihnen zu sehen und zu hören. Nur ein einzelner Singvogel schmettert draußen mit voller Kraft sein Wecklied.
Nach unserem ersten Full English Breakfast (es wird wieder bis in den späten Nachmittag reichen), wird wieder alles gepackt und in den Rucksäcken verstaut. Ja nichts vergessen!, lautet die Devise. Besonders Ladekabel, Doppelstecker oder Steckeradapter bleiben gerne ungewollt zurück. Apropos Adapter: Als ich gestern meinen Adapter aus meinem Beutel mit all dem technischen Krimskrams herauszog, blitzten sofort mehrere Fragezeichen in meinen Augen auf. Zwischen meinen Fingern befand sich zwar ein Adapter, aber rätselhafterweise einer, den Engländer auf dem Kontinent benutzen müssen. Nur was sollte ich mit dem? Und warum ist der in meinem Besitz? Und warum habe ich den überhaupt mitgenommen? Fragen über Fragen. Glücklicherweise verfügt Dieter über einen richtigen und in Verbindung mit meinem Dreifachstecker kommen wir wohl über die Runden.
Die Sonne scheint immer noch von einem klaren blauen Himmel, als wir unser B&B verlassen und kurz hinter dem Ortsende von Spittal auf einem Pfad die Steilküste hochgehen. Ein großer geschliffener Sandstein macht uns nachdrücklich darauf aufmerksam, wo wir uns von nun an befinden: an der "Northumberland Coast".
Northumberland hat eine bewegte Geschichte und war Schauplatz vieler Kriege und Grenzkonflikte zwischen England und Schottland. Kaum ein Landstrich kann mit so vielen ehemaligen Schlachtfeldern aufwarten wie Northumberland. Dies erklärt auch die vielen Burgen in der näheren Umgebung, u.a. recht bekannte wie Bamburgh Castle, Dunstanburgh Castle, Warkworth Castle oder Alnwick Castle. Sie alle werden wir noch zu sehen bekommen. Northumberland wird auch als die Wiege des englischen Christentums bezeichnet, weil auf der Insel Lindisfarne, die auch Holy Island genannt wird, die Christianisierung des heutigen Englands begann. Mönche von der schottischen Insel Iona wurden nach England gesandt, um zu missionieren und auf Lindisfarne ihr Kloster zu errichten. Morgen werden Dieter und ich diese besondere Insel besuchen.
Anfangs reicht unser Blick vom Northumberland Coast Path weit über die Nordsee. Felsenklippen fallen steil abwärts und an einer Stelle liegen diverse relativ frische Blumensträuße im Gras, direkt an der Abbruchkante. Wir hinterfragen nicht lange, warum sie dort liegen, halten von diesem Moment an aber etwas Abstand. Die Wellen unten an der Wasserlinie sind inzwischen größer geworden, die Flut läuft auf. Auf der landzugewandten Seite stehen die hohen Dry Stone Walls, mächtige Feldsteinmauern, die große Weideflächen umfrieden. Bei einer dieser Weiden treffen wir auf eine kleine Kuhherde mit ihrer Kinderstube. Etliche Kälber stehen bei ihren Müttern oder liegen alleine oder zu zweit im Gras, wohlwissend, dass ihnen die vorbeilaufenden Zweibeiner nichts anhaben werden, solange ihre Mamas nur laut genug brüllen. Viel ruhiger geht es bei den Kröten zu, auf die uns ein älteres Ehepaar aufmerksam macht. Eine liegt, alle Viere von sich gestreckt, seelenruhig auf der Wasseroberfläche eines kleinen Tümpels und lässt sich den Rücken bescheinen, eine andere schleppt gerade - ganz Kavalier - seine Frau auf dem Rücken über den Pfad. Oder schleppt da gerade die Frau den Mann? Ich weiß das gar nicht, habe in der relevanten Biologiestunde wohl gefehlt.
Kurz hinter den Kröten kommt auch schon der erste Golfplatz unserer diesjährigen Tour, weitere werden wohl folgen. Obwohl heute doch ein Werktag ist, ziehen etliche Golferinnen und Golfer ihre kleinen Wagen mit den Schlägern hinter sich her, schwingen ihre Sportwerkzeuge ästhetisch einwandfrei, bücken sich nach ihren kleinen, harten Bällen oder suchen dieselben auch schon mal im hohen Dünengras. Als wir das Clubhaus des Goswick Golf Club erreichen, treffen wir auf die ersten Bänke der heutigen Strecke, was nicht unbedingt für eine gute Infrastruktur für den Wanderer auf dem Northumberland Coast Path spricht. Die Bänke hier sind auch eigentlich nur zur Erholung der erschöpften Golfer gedacht, doch wir pfeifen drauf und machen uns auf ihnen für eine kurze Zeit zu einer kleinen Rast breit.
Von jetzt an werde ich wieder bei jeder möglichen Pause Sonne und Wind in meine Schuhe lassen. Ich werde die Socken weichklopfen und die harten Knötchen abzupfen. Ich werde sie aufschütteln, rubbeln, ihnen aufmunternde Lieder singen. Die Fußpflege hat wieder Einzug in mein Leben gehalten.
Irgendwo zwischen Golfplatz, Schafen und etwas schlammigen Dünenpfaden fällt der vergangene Alltagstrott (von Alltagsstress sollte der Rentner nicht sprechen) ganz unbemerkt ab. Während die Beine schuften, fahren die Gedanken langsam auf Ruhemodus herunter. Schon am zweiten Tag scheint der Alltag unendlich weit weg. Das Tempo, welches wir heute an den Tag legen, passt zudem eher zu einem Spaziergang, es ist halt nicht so weit. Es ist noch keine halb drei, als wir vor der Tür unserer Unterkunft stehen.
Diese ist heute recht einfach. Eher so etwas wie eine kleine Jugendherberge: Lindisfarne Eat and Sleep. Zwei Kilometer liegt sie abseits des Northumberland Coast Path, hat aber einen großen Vorteil, sie ist preiswert. Auch das Sechs-Bett-Zimmer stört uns nicht, wir "bevölkern" es alleine. Einen Kopfkissenbezug und einen leichten Schlafsack können wir uns ausleihen, im dazugehörigen kleinen Café gibt es eine heiße Soup of the Day, nebenan können wir in einem kleinen Laden einkaufen und uns in der Gemeinschaftsküche etwas zubereiten - und wenn es ein Butterbrot ist.
Dieter hat schon seit Jahrzehnten nicht mehr in einem Schlafsack geschlafen, jetzt ist ihm dieses Erlebnis auch mal wieder beschieden.
Gerade noch rüber!
Holy Island – Fenwick: 11 km
Kaum einen Tag auf dem North Sea Trail bzw. seinem Teilabschnitt Northumberland Coast Path, schon werden wir ihm untreu. Heute machen wir einen Abstecher nach Lindisfarne, auch Holy Island genannt. Sie ist eine Gezeiteninsel und mit der Küste durch eine nur bei Niedrigwasser zu befahrene Straße, dem Holy Island Causeway, verbunden. Und die Gezeiten bereiten uns ein kleines Problem.
Der Tide-Zeitplan im Internet klärte uns bereits gestern darüber auf, dass für heute ein Übergang vom Festland nach Holy Island auf dem Causeway nur bis ca. 9.30 Uhr möglich ist, ansonsten erst wieder ab 12.30 Uhr. Um das strammen Schrittes zu schaffen, müssten wir bereits mindestens um 8 Uhr von der Unterkunft aus losmarschieren, und das immer mit ein wenig Stress im Nacken. Dem Internet entnahm Dieter gestern Abend noch die Information, dass ein Bus, der direkt bei unserer Unterkunft hält, frühzeitig genug uns aufnehmen kann, um uns noch auf die Insel zu bringen. Eine gute Möglichkeit, denn dann könnten wir uns in aller Ruhe dem kleinen Insel-Besichtigungsprogramm widmen und am Nachmittag bei Ebbe wieder den Rückmarsch antreten. Doch sicher ist sicher, und Dieter geht heute Morgen noch vor dem Frühstück zur benachbarten Tankstelle, wo sich auch die Bushaltestelle befindet, und fragt nochmal nach. Antwort: Zu dieser Zeit im Jahr fährt der erhoffte Bus nur mittwochs und freitags, heute ist aber Dienstag. Ein rechtzeitiger Übergang zur Insel ist damit nicht mehr möglich!
Oder doch? Wir haben mittlerweile 8.30 Uhr. Wenn wir jetzt schnell frühstücken und uns dann an die Straße stellen und unsere Daumen raushalten...? Wir kauen schneller als gewöhnlich, raffen unser leichtes Marschgepäck für heute zusammen und stehen ziemlich genau um 9 Uhr - im Regen - an der Straße. Dieter stellt fest, während unsere Anoraks so langsam einnässen, dass er wohl vor etwa 45 Jahren das letzte Mal getrampt hätte, die Technik (Daumen raus!) ist ihm aber durchaus noch vertraut. Es sind nicht viele Autos, die zu dieser Zeit noch Kurs auf Holy Island nehmen, aber alle fahren vorbei. Unsere Hoffnung sinkt - doch dann... endlich!... fährt ein Auto links ran (Linksverkehr!). Die Frau, die schnell aussteigt, um für uns die hintere Sitzbank freizumachen, weiß auch sofort, was unser Begehr ist. In wenigen Sekunden sitzen wir im Auto und nur wenige Minuten später haben wir die kritische Zone hinter uns und erreichen den kleinen Ort gleichen Namens auf Holy Island.
Im 7. Jahrhundert gründete der irische Mönch St. Aidan auf Holy Island das Kloster Lindisfarne. Fortgeführt wurde es vom Hl. Cuthbert, der auch erster Bischof von Lindisfarne wurde. Nach dessen Tod wurde das Kloster zu einem Wallfahrtsort und bald war Lindisfarne ein Zentrum der keltischen Klosterkultur, eine Stätte des Glaubens, der Kunst und der Gelehrsamkeit, berühmt durch seine Schreibschule. Von der Kirche aus trieben die Mönche die Christianisierung Englands voran - bis die Wikinger kamen.
Am 8. Juni 793 wurde Lindisfarne von den skandinavischen Kämpfern überfallen. Dieser Überfall markiert den Beginn der sogenannten Wikingerzeit. Im Jahr 875 verließ Bischof Eardulf mit all seinen Mönchen aus Furcht vor weiteren Überfällen das Kloster und nahm dabei die sterblichen Überreste der Heiligen Cuthbert, Aidan, Eadberth u.a. gleich mit. Erst 1069 bis 1090 kehrten Benediktinermönche für kurze Zeit zurück. Und erst im 12. Jahrhundert wurde auf der Insel neben den Resten des alten Klosters ein neues gegründet. Am Ort des ursprünglichen Klosters steht heute die Pfarrkirche St Mary's The Virgin, die im 12. Jahrhundert etwa gleichzeitig mit der neuen Abteikirche errichtet wurde. Von dem im 11. Jahrhundert errichteten Benediktinerkloster stehen nur noch Ruinen, 1536 wurde es aufgelöst, aber nicht abgerissen. An seinen Bausteinen als Baumaterial bediente hat man sich ab 1550, als Lindisfarne Castle gebaut wurde, schon damals weniger eine herrschaftliche Burg, sondern - auf einem spitzkegeligen Felsen errichtet - mehr ein Schutz des Hafens gegen schottische Angriffe.
Als wir mitten in dem kleinen Ort Holy Island aus dem Auto steigen, umgibt uns eine wohltuende Stille. Touristen sind noch keine zu sehen, sie werden erst heute Mittag, wenn der Causeway wieder sicher ist, hier einfallen. Einige Einwohner des Dorfes sind vielleicht gerade noch aufs Festland gewechselt und kommen erst heute Nachmittag zurück. Dennoch sieht man, dass der Tourismus hier eine große Rolle spielt. Ein Hotel, B&B, Restaurant, Café reiht sich an das nächste. Museum, Souvenirshop, diverse Hinweisschilder - wir befinden uns in einer DER Touristenhochburgen Northumberlands. Trotz immer stärker werdendem Regen lassen wir uns durch die engen Straßen des Dorfes treiben und begegnen kaum einem anderen Menschen. Wir kommen zu den Ruinen der Priory, queren den alten Friedhof der Pfarrkirche St. Mary's The Virgin, betreten diese alte Kirche - und niemand sonst stört. Jetzt würden ein Kaffee bzw. ein Tee guttun. Nur einen Steinwurf entfernt betreten wir die Bar des Manor House Hotels, die gerade geöffnet hat. Wir lümmeln uns in schwere Lederpolster, blicken durch die großen Fenster in Richtung Hafen und schauen dem Regen beim Regnen zu. Es ist ruhig in der Bar, nur ein (wohl einheimischer) Gast sitzt noch an der Theke und der Wirt spült ein paar Gläser.
Als wir uns wieder auf den Weg machen, ist der Regen nicht weniger geworden, ganz im Gegenteil. Wir bummeln weiter durch die wenigen Straßen des Dorfes, kommen hinunter zum alten Hafen und sehen in einiger Entfernung Lindisfarne Castle, eingerüstet, der Zahn der Zeit hat an dem alten Gemäuer genagt. Jetzt versucht man wohl zu retten, was noch zu retten ist. Neueröffnung soll noch in diesem Jahr sein. Der alte Hafen ist nichts anderes als ein breiter Kiesstrand, auf dem alte Kähne liegen und uralte Bootsschuppen stehen, einige dicke Taue und alte Fischreusen gestapelt sind. Nur ganz am Ende der "Hafenanlage" scheint es noch so etwas wie Fischverarbeitung zu geben, sicher bin ich mir aber nicht.
Der immer stärker werdende Regen treibt uns dann nochmal in ein kleines Café. "Café" steht zwar auch auf dem Schild im Fenster, es ist aber eher ein Multifunktionsraum, welchen wir betreten. Am Anfang befinden wir uns im Teil eines Souvenirshops, dann folgt der Teil mit Bedienungstheke und aufgereihten Vierertischen. An den Wänden dann aber eine kleine Dorfgeschichten-Ausstellung: Fotos mit Dorfimpressionen aus vergangenen Zeiten, Fotos von verendeten Walen am Strand und von bis zum Fenster im Wasser stehenden Autos, die den richtigen Moment für die An- oder Abreise verpasst haben. Eine Erinnerungstafel für ein legendäres Cricket-Match darf genauso wenig fehlen wie die dokumentierten Heldentaten der örtlichen Fischer oder Seenotrettungsmannschaften.
Für 12.30 Uhr ist der Causeway wieder für sicher erklärt und wir machen uns auf den Rückweg, diesmal zu Fuß. So war es jedenfalls für uns beide vorgesehen. Doch der Regen hält immer noch an. Dieter gibt vorsichtig zu bedenken, dass man ja auch wieder zurücktrampen könne... Als ich das für mich ablehne, ihm aber für sich die Entscheidung anheimstelle, zuckt sofort sein Daumen heraus - und Sekunden später hält das allererste Auto. Autotüren klappen hinter mir - Dieter ist weg!
Zwei Minuten später hört der Regen auf. Gemütlich tipple ich den langgezogenen Causeway entlang. Ein Auto nach dem anderen und immer wieder auch Busse kommen mir entgegen. Der Tourismus hält ab sofort wieder Einzug in das von uns als so ruhig empfundene Holy Island. Neben dem Causeway zieht sich die fast endlos erscheinende Reihe von Pfostenstangen durch das Wasser, die die Pilgerroute des St. Cuthbert Way markiert. Nur bei Niedrigwasser können Wanderer oder Pilger diesen Weg wählen, im Sommer aber wohl nur barfuß, zu dieser Jahreszeit nur mit Gummistiefeln. Für alle, die die Gezeiten nicht ausreichend berücksichtigt haben, stehen unterwegs zwei Refuges zur Verfügung, hohe Plattformen auf Stelzen, auf denen Leichtsinnige ausharren müssen, bis die Flut sich wieder zurückzieht. Die Gruppe von Pilgern, die ich sehe und die sich an den hohen Markierungen "entlanghangelt", scheint den richtigen Zeitpunkt für ihren Weg nach Holy Island gefunden zu haben.
Ich finde meinen Weg auch, immer der Straße nach. Der Regen hat sogar aufgehört. Als ich in die Unterkunft komme, sitzt Dieter in der Küche - im netten Plausch mit zwei netten Damen. Mal wieder typisch!
Wandeln über dem Wasser
Fenwick – Bamburgh: 21 km
Am frühen Morgen sorgt ein Blick aus dem Fenster für etwas Beruhigung. Der Himmel ist zwar immer noch tiefgrau, aber es scheint nicht zu regnen. Die zwei Frauen, die wir gestern noch kennengelernt haben, Marianna und Alison, treffen wir unten im Café beim Frühstück. Gestern Abend haben sie uns im benachbarten Pub erzählt, dass sie sich kurz vor Beendigung ihrer Wanderung auf dem Northumberland Coast Path befinden. Sie sind ihn in den letzten Tagen in umgekehrter Richtung gelaufen, wollen heute noch rüber nach Holy Island und morgen ist mit Erreichen von Berwick upon Tweed für sie Schluss.
Während Dieter und ich uns ein Full English Breakfast reinziehen (Die Variante "Small" ist auch schon reichlich!), begnügen sich die beiden Engländerinnen mit einem Spiegelei auf Toast bzw. einem Schälchen Porridge. Dieter kann das Spiegelei ja noch angucken, aber den Porridge versucht er standhaft zu ignorieren. Zu eindrucksvoll war für ihn vor zwei Jahren eine ge- bzw. versalzene Variante, die er bei einem liebgewonnenen Gastgeber nicht verweigern wollte. Spätestens seitdem ist für Dieter Porridge ein No-Go. Ich werde es aber irgendwann nochmal probieren, denn auf Dauer hält man diese Full-Breakfast-Varianten auch nicht mehr aus.
Wir vier Küstenwanderer verabschieden uns gegen 8.30 Uhr herzlich voneinander und ziehen in entgegengesetzten Richtungen davon. Von der eigentlichen Küste werden Dieter und ich heute aber kaum etwas sehen. Nicht nur, weil die grauen Wolken die Nordsee fast zudecken, sondern weil unsere Route heute hauptsächlich durchs Landesinnere geht. Die Beschaffenheit des Weges besteht dabei aus zwei sehr unterschiedlichen Variationen: Einmal sind es die schmalen Single Track Roads, die sich über die Hügel dieses Teils von Northumberland schwingen, links und rechts flankiert von hohen Hecken, hinter denen sich hauptsächlich große Schafherden tummeln. Da es nicht regnet, sind diese Straßen trocken, bis auf die Stellen in bestimmten Senken, wo sich das Regenwasser der letzten nassen 24 Stunden in riesigen Pfützen angesammelt hat. Hier bekommt die Geschichte vom Wandeln über dem Wasser - wie auf dem See Genezareth - eine ganz neue Bedeutung. Zum andern sind es die Feuchtwiesen. Nicht Feuchtwiesen im biologischen Sinne. Im Prinzip sind sie nichts anderes als Schafweiden, aber entweder sind sie wie Schwämme oder sie vermitteln direkt den Eindruck einer mecklenburgischen Seenplatte.
Teilweise staksen wir durch diese Wiesen wie die Störche auf der Suche nach Fröschen, peinlichst darum bemüht, den Hinterlassenschaften der Schafe auszuweichen. Einige Male gibt es aber auch die besonders prickelnden Situationen, wo sich ganze Seen oder Schlammwüsten genau dort auftun, wo wir eigentlich ein Gatter durch einen Zaun oder eine Leiter über eine Feldsteinmauer überqueren müssten, um den angezeigten Wegmarkierungen zu folgen. Barfuß wäre das vielleicht noch zu schaffen, aber wer zieht sich schon mal eben so bei max. 5° C die Schuhe und Strümpfe aus, um bis zu den Knöcheln durchs kalte Wasser bzw. durch Schlamm zu staksen? Wir umgehen die kritischen Stellen also so gut es geht, klettern dann über fest gespannten Schafs- oder Stacheldraht und sind ganz stolz, dass wir es immer wieder schaffen. Schon jetzt feiere ich mich, dass ich in weiser Voraussicht diesmal auf meinen - eigentlich so geliebten - Wheelie verzichtet habe.
Je mehr unser "Weg" wieder aufs Meer zu schwenkt und wir die schützenden Hecken verlassen, desto intensiver packt uns der Wind von vorne. Selbst ich, dem so etwas eigentlich fremd ist, ziehe zeitweise meinen Buff, der nur meinen Hals schützen sollte, über Nase und Mund, in der Hoffnung, dass mir die Kälte nicht unbedingt direkt in den offenen Mund hineinbläst und den Rachen angreift.
Irgendwann sehen wir dann in einiger Entfernung das mächtige Castle von Bamburgh aufragen. Auf einer etwas breiteren Landstraße marschieren wir schnurstracks auf sie zu. Fast verschwindend klein ist dagegen der Ort Bamburgh, unser Etappenziel für heute. Während die Burg sich in all ihrer Mächtigkeit wie ein Bollwerk an der Küste gegen das Meer stemmt, scheinen sich die wenigen Häuser, aufgereiht um ein dreieckiges Village Green, vor diesem Bauwerk zu ducken. Es gibt nur ein höheres Gebäude, das Victoria Hotel - unsere Unterkunft.
Rüber! - Hilft ja nix!
Bamburgh – Craster: 22 km)